Kapitel 23: Not Tonight.
Ein gellender Schrei durchzuckte die Nacht, als der leblose, verkohlte Körper des Weißkopfseeadlers dumpf auf den Boden aufprallte. Nia und Tonia schrien aus voller Kehle den Namen ihres Schwarms. Sie wollten zu ihm laufen, doch Cedric und Isaac hielten sie zurück.
"Lass mich los!", kreischte das schwarzhaarige Mädchen. Mit aller Macht versuchte sie sich von Cedric loszureißen. Ohne Erfolg. Er war einfach zu stark und Nias Anstrengungen blieben fruchtlos. Tonia biss und spuckte um sich. "Ich will zu Salvatore!", geiferte sie atemlos. Ihre Haare waren zerzaust. Ihr liefen die Tränen hemmungslos über die Wangen. "Salvatore! Er... er ist verletzt!" Nia atmete stoßweise. Heißes Adrenalin schoss durch ihre Adern und sie konnte nicht mehr klar denken. Ihr geliebter Salvatore! War er... War er etwa...?
"B-Bitte beruhigt euch und seid leise!", ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Gebüsch. Das Gerangel endete augenblicklich, als sie erkannten, wer da vor ihnen stand:
Lorcan Medic!
"Wir müssen so schnell wie möglich diesen Ort verlassen, bevor man uns findet!", meinte er nervös und blickte hektisch um sich.
"Wir sollen Salvatore zurücklassen?!", stieß Nia wütend spuckend hervor. Lorcan zuckte zusammen. Er sah unendlich traurig und verschreckt aus.
"Mach dir um den keine Sorgen. Der hat schon Schlimmeres durchgestanden", versuchte Cedric sie zu beschwichtigen und Isaac pflichtete ihm bei. "Wir haben es hier immerhin mit dem Salvatore Zefalus zu tun und nicht mit irgendeinem Huan!"
Von weiter weg waren Rufe zu hören. Waren das etwa... Wachen? "Kommt schnell!", dirigierte Lorcan nervös und flitzte davon. Cedric und Isaac taten ihr Möglichstes, um ihre Ruler in Bewegung zu setzen. Nia warf noch einen letzten Blick nach hinten, doch die Dunkelheit verschlang das grausame Bild, das sich ihnen geboten hätte.
Ein verkohlter, jämmerlich verblutender Weißkopfseeadler, dessen vereinzelte Federn sanft und langsam zu Boden schwebten.
~*~
"Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen. War es nicht das, was du heute Vormittag leise vor dich hingeflüstert hast, Nia Toshiki?", bohrte die unbarmherzige Lais nach. Lorcan hatte sie schnurstraks zu ihrem Apartment gebracht, in dem nun die beiden Ruler mit bebenden Schultern, zerzausten Haaren und tränenüberströmten Gesichtern saßen.
"Hört auf zu heulen, das kann man ja nicht mit ansehen!"
Wie auf Kommando zückte Lorcan ein rosa-weiß kariertes Stofftaschentuch mit Rüschen und wischte sanft die letzten Spuren der Tränen von Nias Gesicht. "Bitte weine nicht mehr, es zerreißt mir das Herz.", wisperte er gerade laut genug, dass Nia es hören konnte. Und Cedric, der seinen großen Mitschüler bitterböse anfunkelte. Dieser zuckte direkt zusammen und hob entschuldigend die Hände. Stattdessen stellte er sich schutzsuchend hinter die kleine Lais und gab keinen Ton mehr von sich. Sein überdimensionales, furchterregendes Aussehen passte so gar nicht zu seinem sehr femininen Verhalten. Akuma war zutiefst irritiert.
"Wag es ja nicht, Hand an Tonia anzulegen, du Riese!", keifte er und wischte mit einem Ruck mit seiner Armstulpe Tonia quer über das Gesicht.
"Hast du einen Vollschaden, du Dumpfbacke?! Deine scheiß Nieten tun höllisch weh!", brodelte die Brünette und Lais seufzte.
"Salvatore Zefalus mag zwar schwer verletzt sein, aber ihm wird nichts geschehen. Sobald er seinen Stoff zu sich nimmt, wird er binnen Sekunden genesen. Durch die Explosion wird auch nichts von euren Briefen übrig geblieben sein...", erläuterte Lais sachlich, um endlich ein wenig Ruhe reinzubringen.
"Woher weißt du von den Briefen?", fragte Isaac scharf.
"Wenn man so laut und bei hellichtem Tag herumstampft und ganz augenscheinlich nach einem Ausweg aus dieser Schule sucht... Und dann schließlich einen Vogel-Huan auf den Weg schickt... Dann brauche ich nur eins und eins zusammenzählen, dass Salvatore Zefalus höchstwahrscheinlich keine Souvenirs aus Hawaii transportieren sollte, oder etwa nicht?", erklärte Lais ohne zu zögern und murmelte "Erstaunlich, dass er sich zu einer Brieftaube hat degradieren lassen...".
"Ich habe ihn darum gebeten...", schniefte Nia schuldbewusst. "Salvatore ist so ein Gentleman, dass er mir diesen Wunsch erfüllt hat... Unseren Wunsch" Setzte sie schnell mit Blick auf Tonia hinzu. "Was hätten wir sonst tun sollen? Eine Räuberleiter bauen und selber über die Mauer klettern?", provozierte die Brünette die kleine Lais. Diese verzog keine Miene.
"Eine mindestens genauso bescheuerte Idee. Ihr habt keine Ahnung vom System hier, hört nicht auf Ratschläge eurer erfahreneren Huans und habt auch noch den glorreichen Einfall, eure unausgegorenen Pläne in die Tat umzusetzen zu lassen! Ein schöner Haufen seid ihr!" Ihre kalte, ruhige und sachliche Stimme schmerzte und demütigte mehr denn jede gebrüllte Standpauke. Schuldbewusst sahen sowohl Nia als auch Tonia zu Boden. Auch Isaac und
Cedric fühlten sich schuldig, weil sie so einfach nachgegeben hatten. Ihre Ruler waren noch unerfahren und naiv, woher hätten sie ahnen sollen, was geschehen würde? Nur Akuma war wie immer. Alles schien an ihm abzuperlen wie Wasser an einer Dose Bier.
"Ihr habt Lorcan zu danken, dass ihr glimpflich aus dieser misslichen Lage herausgekommen seid. Ich hätte euch das volle Lehrgeld zahlen lassen.", betonte Lais mit verschränkten Armen. Lorcan wechselte nervös sein Standbein.
"Warum hast du sie noch mal gerettet?", wandte sie sich an ihren Huan. Nia traute ihren Ohren nicht. Hatte Lais Lorcan etwa geholfen, ohne seine genauen Beweggründe zu hinterfragen, bis alles in trockenen Tüchern war? Ihr wurde warm ums Herz bei diesem Gedanken. Wie viel Vertrauen sie zueinander haben mussten...!
Der Leuchtturm drehte sich zur Seite und blickte zu Boden. Seine Lippen waren fest aufeinandergepresst und ein Schweißtropfen perlte seine Stirn herunter. "Ich...", setzte er an und verstummte, als er all die auf ihn gerichteten Blicke bemerkte. Vorsichtig strich Lais ihm über den Rücken.
"Ich wollte mich bei Katja Müller bedanken.", presste er mühselig und leise hervor. Lais seufzte. "Warum hast du das nicht vorher gemacht? Du wusstest doch, was auf uns zukommen würde."Lorcan gab keine Antwort. Sein Blick war permanent auf seine Schuhspitzen geheftet und er rührte sich nicht vom Fleck.
"Also gut.", meinte Lais und klatschte unbeholfen in die Hände, als wolle sie die trübselige Atmosphäre etwas auflockern. "Ich habe keine Lösung für euer Problem, aber einige wichtige Informationen. Setzt euch und spitzt die Lauschlappen."
Alle leisteten der Aufforderung folge, nur Akuma nicht. Wütend und stumm verpasste Tonia ihm einen Tritt in die Kniekehle, die er mit dem Hochflippen ihres Rockes quittierte. Isaac ging dazwischen, um Schlimmeres zu vermeiden.
"Wie ihr inzwischen alle mitbekommen habt, gibt es Strafen beim Versuch, die Schule zu verlassen. Meist sind sie direkt und sehr schmerzhaft, aber niemals tödlich. Dafür wurde einfach zu viel Geld investiert, als eines ihrer kostbaren Versuchskaninchen und Forschungsobjekte abzuschlachten. Seid also unbesorgt, was Salvatore angeht - der ist aus ganz besonderem Holz geschnitzt!"
War das Lais unbeholfene Art, sie trösten zu wollen? Es fruchtete nicht unbedingt, aber... Immerhin hatte sie das klammernde, erstickende Gefühl verlassen, dass Salvatore im Sterben lag. Alle außer Tonia und sie selbst waren überzeugt, dass er sehr stark war, also musste auch etwas dran sein... Oder?
"Ihr habt heute Mittag den Gang gesucht, durch den wir die Schule betreten haben, nicht wahr?" Zur Bestätigung nickten die Angesprochenen einhellig. "Der Clou an der Sache ist, dass es diesen Gang gar nicht gibt."
Eine sehr gedehnte Stille trat ein.
"Was willst du damit sagen?", fragte Isaac, der sich als erstes von diesem Schock erholt hatte.
"Du meinst wohl: "Hast du noch alle Tassen im Schrank?!"!", korrigierte eine aufbrausende Tonia und Akuma nickte mit gerunzelter Stirn.
"Ja, habe ich. Setz dich wieder hin oder du fliegst raus. Mein Reich, meine Regeln.", kommandierte Lais Tonia herum und zähneknirschend leistete sie ihr Folge.
"Den Gang gibt es nicht. Er wurde künstlich durch einen Schlüssel erschaffen. Ansonsten könnte ja jeder halbwegs helle Schüler dieser Schule rein- und rausspazieren, wie es ihm beliebte.", meinte Lais und fügte hinzu: "Natürlich kann man mithilfe eines gut konstruierten Schlüssels den Gang wiedererscheinen lassen, aber das hilft einem nicht viel weiter."
"Warum sollte es das nicht? Wir sind immerhin durch den Gang hierher gekommen, also sollten wir auch ohne Probleme wieder herausgehen können!", warf Nia ein und erneut schüttelte Lais den Kopf.
"Nein. Die Erselik-Schule ist absolut gesichert. Um uns herum befindet sich ein unsichtbarer Schutzwall, der nicht zu durchdringen ist."
"Dann graben wir einfach ein Loch unter die Mauer hindurch und entkommen so diesem blöden Wall!", polterte Tonia wütend. "Wo ist das verdammte Problem?"
"Wenn ich dich noch einmal ermahnen muss, vergesse ich mich.", flüsterte Lais bedrohlich. Sie würde eine hervorragende, furchteinflößende Lehrerin abgeben, bei der sich kein Schüler und keine Schülerin traute, ohne ihre Genehmigung auch nur zu atmen. Fraglich war, ob das so effektiv beim Lernen war, wenn man ständig in Angst und Schrecken versetzt wurde...!
"Denkst du ernsthaft, das wäre so einfach? Der Schutzwall wurde mithilfe eines sehr mächtigen Schlüssels geschaffen. Nur ein mindestens ebenso mächtiger Schlüssel kann seine Wirkung aufheben."
~*~
Es war kurz nach 19 Uhr und alle Gruppen hatten sich wie vereinbart versammelt. Es war ein mühseliger, langer Tag gewesen und Katja tat alles weh. Nicht, dass es körperlich anstrengend gewesen war, aber die Anspannung zeichnete deutlich die ausgezehrten Gesichter. Seit Beginn der Suchaktion war weder eine grüne noch eine rote Leuchtrakete abgeschossen worden und auch sonst hatte sich keiner gemeldet. Das war wirklich zum Haareraufen, aber mit nichts Anderem hatte sie letztlich gerechnet. Schnelle Ergebnisse waren Ausnahmen und keine Regelfälle. Tanja hatte sich als erstaunlich robust erwiesen. Ihre Modelfigur hielt wirklich, was sie versprach. Dagegen war Katja ein untrainierter Kartoffelsack. Ein musizierender Kartoffelsack allerdings. Der kleine Mike wollte unbedingt mit den "großen Mädchen" mithalten und gab während der Suche sein Bestes, seine Enttäuschung zu verbergen.
Nun standen alle um die große, ausgebreitete Karte herum und kauten begierig die belegten Brote, die Katja herbeigezaubert hatte. Ihr Charme wirkte wie Magie auf Andere und der gute Mann in der Mensaküche der Realschule hatte ihr mit Freuden die Brote zur Verfügung gestellt. Sie stieg immer mehr im Ansehen von Tanja, die sich allerdings lieber fluchend die Zunge abgebissen hätte, als das zuzugeben.
"Gruppe 3, wo wart ihr heute überall? Habt ihr Ergebnisse erzielen können?", fragte Katja hoffnungsvoll zum gefühlten 1000. Mal. Natürlich wusste sie tief in ihrem Inneren, dass die Antwort stets "Nein" lauten würde, ansonsten hätte man sie schon während des Tages kontaktiert und davon berichtet. Mit einem dicken schwarzen Edding strich die brünette Absolventin die Grundschule durch und hörte sich an, wer und wie viele Leute befragt worden sind. Sämtliche Teammitglieder hatten Fotos der vermissten Personen zur Hand gehabt, damit die Suche erleichtert wurde. Doch das war alles nicht von Erfolg gekrönt gewesen. In Gedanken sah sich Katja schon alle Wälder durchkämmen. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken. Im Wald nach Jemanden zu suchen klang für sie gleich immer so, als würde man nach einer Leiche suchen. Doch wie wäre es möglich, dass so viele Schüler und Schülerinnen ermordet werden konnten und der Direktor der Realschule das auch noch decken würde? Nein, extrem unwahrscheinlich, außer er hatte sie selbst um die Ecke gebracht. Und wenn das der Fall sein sollte, hätte er etwas gegen Tanja und sie unternommen, sobald sie sein Büro betreten hatten. Ausgeschlossen also. Sie mussten alle am Leben und auf dem Campusgelände sein. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sie das Versteck fanden.
"Gruppe 6 und 7 melden sich zum Report!", meinte eine Schülerin und salutierte. Das brachte Katja unwillkürlich zum Grinsen. "So förmlich muss es wirklich nicht sein, aber ich freue mich aufrichtig, dass ihr euch diese Aufgabe so zu Herzen nehmt."
"Wir haben deinen Anweisungen heute nicht ganz Folge geleistet.", begann das schlaksige, hochgewachsene Mädchen und blicke nervös zu den anderen Teammitgliedern. Tanja war soeben herangetreten und runzelte die Stirn. ""Den Anweisungen heute nicht ganz Folge geleistet"? Willst du den Hintern versohlt haben oder was?", giftete sie und zog eine Schnute. Nichts hasste sie mehr, als dass Leute ihren Aufgaben nicht nachkamen! Elendes, dummes Pack!
Katja hob sachte die Hand und ließ Tanja damit augenblicklich verstummen. "Wenn ihr mir das so offen sagt, habt ihr bestimmt etwas Interessantes herausgefunden, nicht wahr?"
"Nun ja...", haspelte das Mädchen und schien sich fast die Zunge zu verknoten. Ein Junge aus dem Team übernahm stattdessen. "Das nicht. Aber eure Gruppe hat doch heute auch zwei Bereiche abgedeckt, nicht wahr?"
Das stimmte. Tanja, Mike und Katja hatten heute sowohl die Realschule als auch die Innenstadt durchforstet. Erfolglos, aber immerhin konnte man es nun von den möglichen Orten streichen. Das war mehr wert, als man glauben konnte. Katja nickte.
"Unsere beiden Gruppen haben dasselbe getan. Jeder von uns hat zwei Bereiche durchkämmt.", schloss der Junge. Eine theatralische Pause entstand, in der er mit stolzgeschwellter Brust und erwartungsvollem Blick Katja anstarrte. Es dauerte einen Moment, bis...
"Mo-Moment mal!", stieß Katja aus und schüttelte die Karte heftig. "Heißt das, wir haben binnen eines Tages alle Schulen, sonstige Einrichtungen, Wohnheime und auch die Innenstadt durchgecheckt?!"
Wie war das möglich? Sie waren zwar sieben Gruppen und der Campus nicht überdurchschnittlich groß, aber...
"Alle Gruppen haben noch weitere Freunde gebeten, bei der Suche mitzuhelfen. Wir haben die Fotos via Whatsapp weitergeleitet und noch fast zwei ganze Schulklassen darüber hinaus mobilisieren können.", meinte ein kleines Mädchen, das ganz und gar nicht danach aussah, als hätte sie vor kurzem ihre Mittlere Reife erlangt. "Und obendrein...", holte der Junge mit immer stolz geschwellterer Brust aus, "Haben wir einen Kumpel in der Druckerei, der Plakate gemacht hat. Eine handvoll Leute hat sie dann überall aufgehängt und auch Flyer verteilt!"
Katja war sprachlos. Sie hatte zwar gedacht, dass sie fürs erste gut vorbereitet gewesen war, aber... Sie hatte einen Kloß im Hals. "Ihr seid... der Hammer.", meinte Tanja, die sich schnell umdrehte. "Sorry, hab was ins Auge bekommen." Katja lachte lauthals. "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! In meinen kühnsten Träumen hätte ich nicht gedacht, dass ihr so etwas Irres auf die Beine stellen würdet! Ich bin so stolz auf euch als wäre ich eure eigene Mutter." Ihr breites, glückliches Lächeln war für alle Anwesenden eine unbezahlbare Belohnung. Über all die Schuljahre hatten sie sich kaum miteinander unterhalten und dachten, dass sie nach dem Abschluss getrennte Wege gehen würden. Wer hätte gedacht, dass sie noch so zusammengeschweißt werden würden? Mit einem Zufriedenen Lächeln zückte Katja den schwarzen Stift und strich auch die restlichen durchforsteten Gebiete durch. Sie hatte erwartet, dass sich ihr Blick trübte, wenn sie ergebnislos alles durchstrich, doch...
"Jetzt bleibt eigentlich nur noch Wald und Feld und..." Die Anderen linsten auch auf die Karte und sagten im Einklang:
"Das Verwaltungsgebäude!"
"Lass mich los!", kreischte das schwarzhaarige Mädchen. Mit aller Macht versuchte sie sich von Cedric loszureißen. Ohne Erfolg. Er war einfach zu stark und Nias Anstrengungen blieben fruchtlos. Tonia biss und spuckte um sich. "Ich will zu Salvatore!", geiferte sie atemlos. Ihre Haare waren zerzaust. Ihr liefen die Tränen hemmungslos über die Wangen. "Salvatore! Er... er ist verletzt!" Nia atmete stoßweise. Heißes Adrenalin schoss durch ihre Adern und sie konnte nicht mehr klar denken. Ihr geliebter Salvatore! War er... War er etwa...?
"B-Bitte beruhigt euch und seid leise!", ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Gebüsch. Das Gerangel endete augenblicklich, als sie erkannten, wer da vor ihnen stand:
Lorcan Medic!
"Wir müssen so schnell wie möglich diesen Ort verlassen, bevor man uns findet!", meinte er nervös und blickte hektisch um sich.
"Wir sollen Salvatore zurücklassen?!", stieß Nia wütend spuckend hervor. Lorcan zuckte zusammen. Er sah unendlich traurig und verschreckt aus.
"Mach dir um den keine Sorgen. Der hat schon Schlimmeres durchgestanden", versuchte Cedric sie zu beschwichtigen und Isaac pflichtete ihm bei. "Wir haben es hier immerhin mit dem Salvatore Zefalus zu tun und nicht mit irgendeinem Huan!"
Von weiter weg waren Rufe zu hören. Waren das etwa... Wachen? "Kommt schnell!", dirigierte Lorcan nervös und flitzte davon. Cedric und Isaac taten ihr Möglichstes, um ihre Ruler in Bewegung zu setzen. Nia warf noch einen letzten Blick nach hinten, doch die Dunkelheit verschlang das grausame Bild, das sich ihnen geboten hätte.
Ein verkohlter, jämmerlich verblutender Weißkopfseeadler, dessen vereinzelte Federn sanft und langsam zu Boden schwebten.
~*~
"Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen. War es nicht das, was du heute Vormittag leise vor dich hingeflüstert hast, Nia Toshiki?", bohrte die unbarmherzige Lais nach. Lorcan hatte sie schnurstraks zu ihrem Apartment gebracht, in dem nun die beiden Ruler mit bebenden Schultern, zerzausten Haaren und tränenüberströmten Gesichtern saßen.
"Hört auf zu heulen, das kann man ja nicht mit ansehen!"
Wie auf Kommando zückte Lorcan ein rosa-weiß kariertes Stofftaschentuch mit Rüschen und wischte sanft die letzten Spuren der Tränen von Nias Gesicht. "Bitte weine nicht mehr, es zerreißt mir das Herz.", wisperte er gerade laut genug, dass Nia es hören konnte. Und Cedric, der seinen großen Mitschüler bitterböse anfunkelte. Dieser zuckte direkt zusammen und hob entschuldigend die Hände. Stattdessen stellte er sich schutzsuchend hinter die kleine Lais und gab keinen Ton mehr von sich. Sein überdimensionales, furchterregendes Aussehen passte so gar nicht zu seinem sehr femininen Verhalten. Akuma war zutiefst irritiert.
"Wag es ja nicht, Hand an Tonia anzulegen, du Riese!", keifte er und wischte mit einem Ruck mit seiner Armstulpe Tonia quer über das Gesicht.
"Hast du einen Vollschaden, du Dumpfbacke?! Deine scheiß Nieten tun höllisch weh!", brodelte die Brünette und Lais seufzte.
"Salvatore Zefalus mag zwar schwer verletzt sein, aber ihm wird nichts geschehen. Sobald er seinen Stoff zu sich nimmt, wird er binnen Sekunden genesen. Durch die Explosion wird auch nichts von euren Briefen übrig geblieben sein...", erläuterte Lais sachlich, um endlich ein wenig Ruhe reinzubringen.
"Woher weißt du von den Briefen?", fragte Isaac scharf.
"Wenn man so laut und bei hellichtem Tag herumstampft und ganz augenscheinlich nach einem Ausweg aus dieser Schule sucht... Und dann schließlich einen Vogel-Huan auf den Weg schickt... Dann brauche ich nur eins und eins zusammenzählen, dass Salvatore Zefalus höchstwahrscheinlich keine Souvenirs aus Hawaii transportieren sollte, oder etwa nicht?", erklärte Lais ohne zu zögern und murmelte "Erstaunlich, dass er sich zu einer Brieftaube hat degradieren lassen...".
"Ich habe ihn darum gebeten...", schniefte Nia schuldbewusst. "Salvatore ist so ein Gentleman, dass er mir diesen Wunsch erfüllt hat... Unseren Wunsch" Setzte sie schnell mit Blick auf Tonia hinzu. "Was hätten wir sonst tun sollen? Eine Räuberleiter bauen und selber über die Mauer klettern?", provozierte die Brünette die kleine Lais. Diese verzog keine Miene.
"Eine mindestens genauso bescheuerte Idee. Ihr habt keine Ahnung vom System hier, hört nicht auf Ratschläge eurer erfahreneren Huans und habt auch noch den glorreichen Einfall, eure unausgegorenen Pläne in die Tat umzusetzen zu lassen! Ein schöner Haufen seid ihr!" Ihre kalte, ruhige und sachliche Stimme schmerzte und demütigte mehr denn jede gebrüllte Standpauke. Schuldbewusst sahen sowohl Nia als auch Tonia zu Boden. Auch Isaac und
Cedric fühlten sich schuldig, weil sie so einfach nachgegeben hatten. Ihre Ruler waren noch unerfahren und naiv, woher hätten sie ahnen sollen, was geschehen würde? Nur Akuma war wie immer. Alles schien an ihm abzuperlen wie Wasser an einer Dose Bier.
"Ihr habt Lorcan zu danken, dass ihr glimpflich aus dieser misslichen Lage herausgekommen seid. Ich hätte euch das volle Lehrgeld zahlen lassen.", betonte Lais mit verschränkten Armen. Lorcan wechselte nervös sein Standbein.
"Warum hast du sie noch mal gerettet?", wandte sie sich an ihren Huan. Nia traute ihren Ohren nicht. Hatte Lais Lorcan etwa geholfen, ohne seine genauen Beweggründe zu hinterfragen, bis alles in trockenen Tüchern war? Ihr wurde warm ums Herz bei diesem Gedanken. Wie viel Vertrauen sie zueinander haben mussten...!
Der Leuchtturm drehte sich zur Seite und blickte zu Boden. Seine Lippen waren fest aufeinandergepresst und ein Schweißtropfen perlte seine Stirn herunter. "Ich...", setzte er an und verstummte, als er all die auf ihn gerichteten Blicke bemerkte. Vorsichtig strich Lais ihm über den Rücken.
"Ich wollte mich bei Katja Müller bedanken.", presste er mühselig und leise hervor. Lais seufzte. "Warum hast du das nicht vorher gemacht? Du wusstest doch, was auf uns zukommen würde."Lorcan gab keine Antwort. Sein Blick war permanent auf seine Schuhspitzen geheftet und er rührte sich nicht vom Fleck.
"Also gut.", meinte Lais und klatschte unbeholfen in die Hände, als wolle sie die trübselige Atmosphäre etwas auflockern. "Ich habe keine Lösung für euer Problem, aber einige wichtige Informationen. Setzt euch und spitzt die Lauschlappen."
Alle leisteten der Aufforderung folge, nur Akuma nicht. Wütend und stumm verpasste Tonia ihm einen Tritt in die Kniekehle, die er mit dem Hochflippen ihres Rockes quittierte. Isaac ging dazwischen, um Schlimmeres zu vermeiden.
"Wie ihr inzwischen alle mitbekommen habt, gibt es Strafen beim Versuch, die Schule zu verlassen. Meist sind sie direkt und sehr schmerzhaft, aber niemals tödlich. Dafür wurde einfach zu viel Geld investiert, als eines ihrer kostbaren Versuchskaninchen und Forschungsobjekte abzuschlachten. Seid also unbesorgt, was Salvatore angeht - der ist aus ganz besonderem Holz geschnitzt!"
War das Lais unbeholfene Art, sie trösten zu wollen? Es fruchtete nicht unbedingt, aber... Immerhin hatte sie das klammernde, erstickende Gefühl verlassen, dass Salvatore im Sterben lag. Alle außer Tonia und sie selbst waren überzeugt, dass er sehr stark war, also musste auch etwas dran sein... Oder?
"Ihr habt heute Mittag den Gang gesucht, durch den wir die Schule betreten haben, nicht wahr?" Zur Bestätigung nickten die Angesprochenen einhellig. "Der Clou an der Sache ist, dass es diesen Gang gar nicht gibt."
Eine sehr gedehnte Stille trat ein.
"Was willst du damit sagen?", fragte Isaac, der sich als erstes von diesem Schock erholt hatte.
"Du meinst wohl: "Hast du noch alle Tassen im Schrank?!"!", korrigierte eine aufbrausende Tonia und Akuma nickte mit gerunzelter Stirn.
"Ja, habe ich. Setz dich wieder hin oder du fliegst raus. Mein Reich, meine Regeln.", kommandierte Lais Tonia herum und zähneknirschend leistete sie ihr Folge.
"Den Gang gibt es nicht. Er wurde künstlich durch einen Schlüssel erschaffen. Ansonsten könnte ja jeder halbwegs helle Schüler dieser Schule rein- und rausspazieren, wie es ihm beliebte.", meinte Lais und fügte hinzu: "Natürlich kann man mithilfe eines gut konstruierten Schlüssels den Gang wiedererscheinen lassen, aber das hilft einem nicht viel weiter."
"Warum sollte es das nicht? Wir sind immerhin durch den Gang hierher gekommen, also sollten wir auch ohne Probleme wieder herausgehen können!", warf Nia ein und erneut schüttelte Lais den Kopf.
"Nein. Die Erselik-Schule ist absolut gesichert. Um uns herum befindet sich ein unsichtbarer Schutzwall, der nicht zu durchdringen ist."
"Dann graben wir einfach ein Loch unter die Mauer hindurch und entkommen so diesem blöden Wall!", polterte Tonia wütend. "Wo ist das verdammte Problem?"
"Wenn ich dich noch einmal ermahnen muss, vergesse ich mich.", flüsterte Lais bedrohlich. Sie würde eine hervorragende, furchteinflößende Lehrerin abgeben, bei der sich kein Schüler und keine Schülerin traute, ohne ihre Genehmigung auch nur zu atmen. Fraglich war, ob das so effektiv beim Lernen war, wenn man ständig in Angst und Schrecken versetzt wurde...!
"Denkst du ernsthaft, das wäre so einfach? Der Schutzwall wurde mithilfe eines sehr mächtigen Schlüssels geschaffen. Nur ein mindestens ebenso mächtiger Schlüssel kann seine Wirkung aufheben."
~*~
Es war kurz nach 19 Uhr und alle Gruppen hatten sich wie vereinbart versammelt. Es war ein mühseliger, langer Tag gewesen und Katja tat alles weh. Nicht, dass es körperlich anstrengend gewesen war, aber die Anspannung zeichnete deutlich die ausgezehrten Gesichter. Seit Beginn der Suchaktion war weder eine grüne noch eine rote Leuchtrakete abgeschossen worden und auch sonst hatte sich keiner gemeldet. Das war wirklich zum Haareraufen, aber mit nichts Anderem hatte sie letztlich gerechnet. Schnelle Ergebnisse waren Ausnahmen und keine Regelfälle. Tanja hatte sich als erstaunlich robust erwiesen. Ihre Modelfigur hielt wirklich, was sie versprach. Dagegen war Katja ein untrainierter Kartoffelsack. Ein musizierender Kartoffelsack allerdings. Der kleine Mike wollte unbedingt mit den "großen Mädchen" mithalten und gab während der Suche sein Bestes, seine Enttäuschung zu verbergen.
Nun standen alle um die große, ausgebreitete Karte herum und kauten begierig die belegten Brote, die Katja herbeigezaubert hatte. Ihr Charme wirkte wie Magie auf Andere und der gute Mann in der Mensaküche der Realschule hatte ihr mit Freuden die Brote zur Verfügung gestellt. Sie stieg immer mehr im Ansehen von Tanja, die sich allerdings lieber fluchend die Zunge abgebissen hätte, als das zuzugeben.
"Gruppe 3, wo wart ihr heute überall? Habt ihr Ergebnisse erzielen können?", fragte Katja hoffnungsvoll zum gefühlten 1000. Mal. Natürlich wusste sie tief in ihrem Inneren, dass die Antwort stets "Nein" lauten würde, ansonsten hätte man sie schon während des Tages kontaktiert und davon berichtet. Mit einem dicken schwarzen Edding strich die brünette Absolventin die Grundschule durch und hörte sich an, wer und wie viele Leute befragt worden sind. Sämtliche Teammitglieder hatten Fotos der vermissten Personen zur Hand gehabt, damit die Suche erleichtert wurde. Doch das war alles nicht von Erfolg gekrönt gewesen. In Gedanken sah sich Katja schon alle Wälder durchkämmen. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken. Im Wald nach Jemanden zu suchen klang für sie gleich immer so, als würde man nach einer Leiche suchen. Doch wie wäre es möglich, dass so viele Schüler und Schülerinnen ermordet werden konnten und der Direktor der Realschule das auch noch decken würde? Nein, extrem unwahrscheinlich, außer er hatte sie selbst um die Ecke gebracht. Und wenn das der Fall sein sollte, hätte er etwas gegen Tanja und sie unternommen, sobald sie sein Büro betreten hatten. Ausgeschlossen also. Sie mussten alle am Leben und auf dem Campusgelände sein. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sie das Versteck fanden.
"Gruppe 6 und 7 melden sich zum Report!", meinte eine Schülerin und salutierte. Das brachte Katja unwillkürlich zum Grinsen. "So förmlich muss es wirklich nicht sein, aber ich freue mich aufrichtig, dass ihr euch diese Aufgabe so zu Herzen nehmt."
"Wir haben deinen Anweisungen heute nicht ganz Folge geleistet.", begann das schlaksige, hochgewachsene Mädchen und blicke nervös zu den anderen Teammitgliedern. Tanja war soeben herangetreten und runzelte die Stirn. ""Den Anweisungen heute nicht ganz Folge geleistet"? Willst du den Hintern versohlt haben oder was?", giftete sie und zog eine Schnute. Nichts hasste sie mehr, als dass Leute ihren Aufgaben nicht nachkamen! Elendes, dummes Pack!
Katja hob sachte die Hand und ließ Tanja damit augenblicklich verstummen. "Wenn ihr mir das so offen sagt, habt ihr bestimmt etwas Interessantes herausgefunden, nicht wahr?"
"Nun ja...", haspelte das Mädchen und schien sich fast die Zunge zu verknoten. Ein Junge aus dem Team übernahm stattdessen. "Das nicht. Aber eure Gruppe hat doch heute auch zwei Bereiche abgedeckt, nicht wahr?"
Das stimmte. Tanja, Mike und Katja hatten heute sowohl die Realschule als auch die Innenstadt durchforstet. Erfolglos, aber immerhin konnte man es nun von den möglichen Orten streichen. Das war mehr wert, als man glauben konnte. Katja nickte.
"Unsere beiden Gruppen haben dasselbe getan. Jeder von uns hat zwei Bereiche durchkämmt.", schloss der Junge. Eine theatralische Pause entstand, in der er mit stolzgeschwellter Brust und erwartungsvollem Blick Katja anstarrte. Es dauerte einen Moment, bis...
"Mo-Moment mal!", stieß Katja aus und schüttelte die Karte heftig. "Heißt das, wir haben binnen eines Tages alle Schulen, sonstige Einrichtungen, Wohnheime und auch die Innenstadt durchgecheckt?!"
Wie war das möglich? Sie waren zwar sieben Gruppen und der Campus nicht überdurchschnittlich groß, aber...
"Alle Gruppen haben noch weitere Freunde gebeten, bei der Suche mitzuhelfen. Wir haben die Fotos via Whatsapp weitergeleitet und noch fast zwei ganze Schulklassen darüber hinaus mobilisieren können.", meinte ein kleines Mädchen, das ganz und gar nicht danach aussah, als hätte sie vor kurzem ihre Mittlere Reife erlangt. "Und obendrein...", holte der Junge mit immer stolz geschwellterer Brust aus, "Haben wir einen Kumpel in der Druckerei, der Plakate gemacht hat. Eine handvoll Leute hat sie dann überall aufgehängt und auch Flyer verteilt!"
Katja war sprachlos. Sie hatte zwar gedacht, dass sie fürs erste gut vorbereitet gewesen war, aber... Sie hatte einen Kloß im Hals. "Ihr seid... der Hammer.", meinte Tanja, die sich schnell umdrehte. "Sorry, hab was ins Auge bekommen." Katja lachte lauthals. "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! In meinen kühnsten Träumen hätte ich nicht gedacht, dass ihr so etwas Irres auf die Beine stellen würdet! Ich bin so stolz auf euch als wäre ich eure eigene Mutter." Ihr breites, glückliches Lächeln war für alle Anwesenden eine unbezahlbare Belohnung. Über all die Schuljahre hatten sie sich kaum miteinander unterhalten und dachten, dass sie nach dem Abschluss getrennte Wege gehen würden. Wer hätte gedacht, dass sie noch so zusammengeschweißt werden würden? Mit einem Zufriedenen Lächeln zückte Katja den schwarzen Stift und strich auch die restlichen durchforsteten Gebiete durch. Sie hatte erwartet, dass sich ihr Blick trübte, wenn sie ergebnislos alles durchstrich, doch...
"Jetzt bleibt eigentlich nur noch Wald und Feld und..." Die Anderen linsten auch auf die Karte und sagten im Einklang:
"Das Verwaltungsgebäude!"