Kapitel 6: Der Anfang vom Ende
Er
schlidderte über den Boden. Ein dumpfer Schlag war zu hören, als
sein Kopf das schwarze, hölzerne Geländer traf. Der Dunkelhäutige
hatte ihm mit der geballten Faust fest ins Gesicht geschlagen. Cedric
versuchte sich aufzurappeln, doch Salvatore war schneller. Wie ein
schwarzer Schatten schwebte er über ihm. Er krallte sich an seinem
Kragen fest und zog ihn nah zu sich heran. "Wie kannst du es
wagen...!", knurrte ihn Salvatore hasserfüllt an. In seinen
Augen loderten Flammen. Dem Blonden tropfte Blut aus dem Mund. Auch
seine Lippe war deutlich geschwollen. Er brachte kein Wort heraus.
"Auseinander!", brüllte eine Lehrerin hitzig. Mit einer herrischen Geste brachte sie einen gewissen Abstand zwischen die beiden Jungs. Salvatores Körperspannung zufolge war er aber jederzeit dazu bereit, Cedric einen erneuten Schlag zu verpassen. Katja stürzte zu Nia, ohne auf ihre Mitschüler zu achten. Diese brach augenblicklich in den Armen ihrer besten Freundin zusammen. Die Schwarzhaarige krallte sich in die Schuluniform von Katja und vergrub ihr Gesicht. Stille, erschrockene Tränen kullerten der Schwarzhaarigen über die Wangen. Ihr ganzer Körper bebte und Katja streichelte beruhigend über Nias Rücken. Die schüchterne Schülerin sah aus wie ein Häuflein Elend.
Mit knirschenden Zähnen blickte Cedric zu Boden. Sein Kinn pulsierte und er hörte sein Blut in den Ohren rauschen, sowie Nias leise, nahezu unhörbare Tränen. Das hatte er nicht gewollt. Andererseits... was genau hatte er damit beabsichtigt? Alles war so überfallsartig schnell passiert...
"Nia, ich bin ja da, du brauchst keine Angst mehr zu haben!", beschwichtigte Katja ihre beste Freundin und streichelte sie behutsam über die Haare. Nia sagte nichts sondern vergrub ihr Gesicht noch tiefer in die Schulter ihrer Freundin. "Wir gehen jetzt in mein Büro.", sagte die Lehrerin sanft aber bestimmt. Dabei strich sie Nia vorsichtig eine abstehende Strähne wieder glatt. "Ihr kommt mit.", sagte die Pädagogin leise und doch streng zu den beiden jungen Männern, als sie sich kurz von der Schülerin abwendete.
Folgsam trotteten sie der mittelblonden Frau hinterher. Katja hatte Nia liebevoll in den Arm genommen und flüsterte ihr ununterbrochen wärmende Worte zu. Ihr Gesichtsausdruck war angespannt, obwohl sich die Brünette um ein Lächeln bemühte. Salvatore ließ den Blonden keine Sekunde aus den Augen. Dieser hatte die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt und starrte unablässig zu Boden. Am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst.
Das Büro war unweit des Eingangsbereichs. Als die Lehrerin die Tür öffnete, erhaschte Nia einen kurzen Blick auf das Namensschild. "Frau Eunice Wood. Leitende Lehrkraft in Sport und Schönschrift. Krankenhelferin." Komisch, Nia hatte noch nie wirklich von ihr gehört, obwohl sie schon so lange auf die Schule ging... War sie neu oder versetzt worden?
Es war ein kleiner, quadratischer Raum. Die Wände waren abgesehen von den Türen und ein bodentiefes Fenster mit Bücherregalen zugestellt. Es roch nach alten, antiken und ledergebundenen Büchern. Die Lehrerin öffnete eine reich verzierte Holztür, welche in ein weitaus kleineres Zimmer führte. "Nia, Katja...", setzte sie an und machte eine Kopfbewegung, um die beiden in den Raum zu bugsieren. In dem Raum war ein Krankenbett und ein Tischchen mit Lampe untergebracht. Es handelte sich um das Zimmer für die Sanitäter. Alles roch nach Desinfektionsmitteln und auf dem langen Schrank standen unzählige Utensilien. Bandagen, ein Erste Hilfe Kasten, Handschuhe, Pflaster und etliche Medikamente. An dem kleinen, altmodischen Fenster stand -
"Miguel?", flüsterte Katja, die zum ersten Mal von Nia aufgesehen hatte. Erschrocken drehte sich Miguel um. Seine Augen wurden merklich größer, als er seine brünette Mitschülerin erblickte. Verlegen strich sie sich eine Strähne hinters Ohr und zupfte an seiner roten Sanitäterjacke herum. Die reflektierenden Streifen der Jacke schillerten im Sonnenlicht und er wandte er sich Nia zu. Die Blicke der Lehrerin und seiner trafen sich und Miguel nickte kaum merklich. "Ich hole Kakao, das beruhigt die Nerven." Und mit diesen Worten verschwand er.
"Während ich mir den Urs vorknöpfe, kümmerst du dich um Nia.", meinte Frau Wood bestimmt und schloss die Tür hinter sich, ohne Katjas Antwort abzuwarten. Auch ohne die Aufforderung hätte sich Katja liebevoll um ihre beste Freundin gekümmert. Die Lehrerin ging zu ihrem kleinen, schlichten Bürotisch in der Mitte des Raumes und knipste das Licht der schwarzen, modernen Lampe an. Cedric biss sich auf die Lippen und wechselte das Standbein. "Du bleibst stehen wo du bist, Cedric Urs.", dröhnte ihre Stimme bedrohlich durch den kleinen Raum. Der Angesprochene zuckte zusammen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Frau Wood faltete die Hande zusammen und starrte Cedric finster über den Rand ihrer Brille hinweg an. Man spürte, dass sie vor Wut innerlich kochte und nach den richtigen Worten suchte. Schließlich konnte sie nicht einfach lospoltern, wenn die Wände nebenan Ohren hatten.
"Wie kannst du es wagen?", fragte Salvatore mit einer Grabesstimme, die einem einen Schauer über den Rücken jagte. Doch der Angesprochene antwortete nicht sondern starrte auf seine Fußspitzen. Einer seiner Finger blutete... Anscheinend hatte er sich die obersten Hautschichten abgerieben, als er über den Boden geschliddert war. Sein Handballen zeigte ebenfalls einige Schürfwunden. Es brannte, doch er bemerkte es kaum. Als keine Antwort erfolgte, dauerte es keine Sekunde, bis der Frauenschwarm mit wutverzerrtem Gesicht vor ihm stand. "Sie hat dich beschimpft, nicht wahr?", spie Salvatore förmlich aus, "Sie hat die verbotenen Worte benutzt, hab ich recht?"
Keine Reaktion.
"Das reicht. Cedric, erzähl mir, was passiert ist.", befahl die Pädagogin scharf.
Schnaubend wich Salvatore zurück und Cedric atmete scharf ein. Noch niemand hatte den Frauenschwarm so wütend und angriffslustig gesehen. Was war eigentlich passiert? Cedric wusste es selber nicht mehr so genau.
"Ich...", setzte der blonde Hüne an und seine Stimme erstickte. Er schüttelte den Kopf. So wurde das nichts, er musste an einer anderen Stelle ansetzen. "Salvatore Zefalus hat Nia Toshiki zu einem Date eingeladen und sie dabei geküsst. Als Nia zurückkam, hab ich sie in der Lobby des Mädchenwohnheims erwartet. Ich... wollte sie zur Rede stellen." Er schluckte hörbar. "Ich wollte sie fragen, warum sie sich hat küssen lassen..." Cedric rieb sich die Stirn mit seinem Handballen. Dabei schmierte er sich unbemerkt Blut seines verwundeten Fingers ins Gesicht. Salvatore schnaubte verächtlich.
Das war eine dumme Idee gewesen. Warum um alles in der Welt hatte er nicht Salvatore darauf angesprochen? Die Frage war natürlich, ob das etwas an der Situation geändert hätte... Nein, das war es nicht. Er wollte Nia aus erster Nähe sehen, wenn sie nicht in ihrer Schuluniform war. Seine Finger kribbelten allein beim Gedanken daran. Sie hatte sich so herausgeputzt für... für... für Salvatore Zefalus! Dabei saß doch er seit mehreren Schuljahren neben ihr...! Und trotzdem erhielt er nie so viel Beachtung wie der Frauenschwarm. Beim Wort "Frauenschwarm" kam Cedric direkt die Galle hoch, doch er konzentrierte sich schnell wieder auf die Erzählung. Seine Handflächen waren schweißig und sein Mund staubtrocken.
"Natürlich hat sie mich angeschrien. Ich habe ja auch im Mädchenwohnheim überhaupt nichts verloren..."
Ihre seidigen Haare. Ihre strahlend blauen Augen und das Lächeln, das sie hatte, wenn Nia Salvatore ansah. Heiße Eifersucht schoss durch seine Adern. Cedric ballte wütend die Faust und ein scharfer Schmerz durchzuckte ihn. Er schaute auf.
"Sie hat die verbotenen Worte benutzt und ich wollte sie zum Schweigen bringen."
Ihre hautenge Jeans. Das weitausgeschnittene Top. Ihre verführerischen Lippen. Er konnte all das ganz genau vor sich sehen und Cedric bebte innerlich bei dem Gedanken an sie.
"Und da habe ich sie geküsst." Der letzte Satz war bar jeglicher Emotion.
Man merkte deutlich, dass es Salvatore seine ganze Kraft abverlangte, sich nicht auf ihn zu stürzen.
Frau Wood wollte gerade zum Sprechen ansetzen, als Miguel mit einem Tablett voller Kakaotassen hereinkam und schnell im Nebenzimmer verschwand. Inzwischen hatte er die Sanitäterjacke ausgezogen.
Am Krankenbett angekommen stellte er das Tablett auf das dort stehende Tischchen.
"Hier bitteschön.", sagte der mit gedämpfter Stimme und überreichte Katja eines der heißen Schokoladengetränke, während eine Hand auf ihrer Schulter ruhte. Ihre Blicke trafen sich kurz und mit einem kleinen Lächeln nahm sie dankbar die Tasse entgegen. Miguel drehte sich geschäftigt um und packte die Pflaster erst in das eine, dann in das andere Eck zurück. Inzwischen war Nia eingeschlafen. Scheinbar hatte sie die heutige Gefühlsachterbahn von himmelhoch jauchzend bis zutode betrübt sehr geschafft. Katjas Lippen kräuselten sich säuerlich. Wenn sie gewusst hätte, was Cedric Urs vorhatte, hätte sie ihn mit allen Mitteln aufgehalten. Bei aller unterdrückten Wut fühlte sie sich aber auch zeitgleich schuldig. Wieder war Nia Opfer einer Mobbingattacke geworden und wieder hatte Katja es nicht verhindern können...
Jenseits der Tür waren leise Stimmen zu hören. "Sei froh, dass die Prügelstrafe abgeschafft wurde.", zischte die Pädagogin dort, "Du weißt nicht, was du damit angerichtet hast!"
Katja horchte auf. Was wurde da geflüstert? Einzelne Stimmen drangen an ihr Ohr, wobei sie sich möglichst unbeteiligt gab. Miguel sollte nicht mitbekommen, dass sie angestrengt lauschte.
"Eigentlich dachte ich nicht, dass ich dich aufklären muss, Cedric Urs.", meinte Frau Wood scharf und faltete ihre Hände zusammen, während sie ihn finster anfunkelte. "Solltest nicht ausgerechnet du von allen am besten wissen, was eigentlich auf dem Spiel steht? Hast du vergessen, was damals im Kindergarten vorgefallen ist?" Sie seufzte und rückte ihre Brille zurecht. Cedric sank regelrecht in sich zusammen. Natürlich wusste er, was er damit hätte anrichten können! Oder es vielleicht bereits getan hat. "Mit einer solch hirnlosen Aktion kannst du unsere gesamte Zukunft in Gefahr bringen! Sie darf noch nichts davon wissen...!" Eine bedeutungsschwangere Pause trat ein.
Salvatore fügte trocken hinzu: "Außer du möchtest dir dein eigenes Leben schwerer machen als es schon ist." Dabei hob er eine Augenbraue und verschränkte die Arme.
"Wie könnte ich den Vorfall von damals je vergessen?", knurrte Cedric mit unterdrückter Wut. "Ich weiß, dass sie mich damals fast..." Er brach ab und schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, hier und jetzt darüber zu reden. Jeder von ihnen wusste, wovon er sprach. Zudem könnten hier die Wände Ohren haben. Katja Müller war unter keinen Umständen zu unterschätzen. Außerdem war Nia im Nebenzimmer und er wollte mit allen Mitteln verhindern, dass sie etwas mitbekam! Früher oder später würde sie es ohnehin erfahren... Ob sie wollte oder nicht. Cedric knirschte mit den Zähnen. Er wollte sie mit diesem Kuss doch nur zum Schweigen bringen! Nicht mehr und nicht weniger... oder vielleicht doch? Heißes Blut schoss ihm in den Kopf.
"Ich würde zu gerne deine Aktionen unterbinden, nur geht das leider nicht aufgrund deiner besonderen Position.", flüsterte die Lehrerin verheißungsvoll. Nachdem Cedric seinen Blick nicht hob wandte sich Frau Wood endlich vom blonden Hünen ab und fixierte den Frauenschwarm. "Aber eigentlich weiß ja jeder, was für ein ernstes Spiel hier gespielt wird, nicht wahr, Salvatore?", Cedric hatte sich beim Gedanken an seine vorherige Tat verkrampft. Wie konnte er nur so dumm sein?
Salvatore horchte auf. Die Lehrerin begegnete dem heißbegehrten Frauenschwarm mit derselben Kühle. "Was auch immer du für Gefühle gegenüber Nia hast - Cedrics Leben hängt von deinen Aktionen ab. Das war schon fast ein Mordakt! Leute wie du, die so etwas aus taktischen Gründen machen werden verstoßen! Willst du das?"
"Natürlich nicht..." Verdrossen schüttelte Salvatore den Kopf und setzte kaum hörbar hinzu: "Ich werde mich bessern."
Tiefe Falten durchzogen Katjas Stirn. Leider hatte sie nur einzelne Wortfetzen durch die dicke Tür aufschnappen können. Aber was hatten Satzbestandteile wie "Zukunft in Gefahr bringen", "aufs Spiel setzen" und... was war im Kindergarten passiert? Kannten sich Cedric und Nia aus dem Kindergarten? Zwar wusste sie, dass Nia jedes Jahr das zweifelhafte Glück hatte, mit dem blonden Eisblock in einer Klasse zu sein, aber... Sie hatte nicht gewusst, dass sich Nia und Cedric aus der Kindergartenzeit kannten. Das hatte sie nie erwähnt. Und hatte sie da eben "Mord" gehört? Das war auf gar keinen Fall eine normale Standpauke, das konnte Katja spüren. Miguel ließ sie nicht aus den Augen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und er räusperte sich. Doch gerade in dem Moment erwachte Nia aus ihrem kurzen Schlummer.
"Ist Cedric weg?", war die erste Frage. Nias große blaue Augen wanderten angsterfüllt von Katja zu Miguel und wieder zurück. Geistesabwesend knetete sie ihre Hände.
"Er ist noch da, aber ich denke, dass Frau Wood ihn gleich wegschickt.", antwortete ihre beste Freundin sanft und strich ihr über die seidigen Haare und ihre Wange.
"Frau Wood ist die Lehrerin, nicht wahr?", erkundigte sich Nia, "Ich habe den Namen auf dem Schild an der Tür gesehen." Katja nickte. "Diese Frau Wood...", flüsterte die Schwarzhaarige kaum hörbar, "ich hatte das Gefühl, sie könnte mich von überall aus beobachten... Selbst durch ihren Hinterkopf." Ein lautes Prusten erfüllte den Raum. Miguel hatte sich an seinem Kakao verschluckt. Er hustete heftig und klopfte sich mit der Faust auf den Brustkorb. Beide Mädchen schauten ihn verwundert an. Ungeschickt wischte er mit seinem Handrücken über die Lippen. Gerade als sich Katja erheben wollte, steckte Frau Wood ihren Kopf zur Tür hinein.
"Die beiden sind jetzt weg.", meinte die Pädagogin mit ihrer klaren Stimme und runzelte die Stirn, als sie den kakaofleckigen Miguel sah. Katja steckte ihr Taschentuch wieder tief in die Rocktasche. "Bei dir alles soweit wieder OK?" Die Lehrerin setzte sich auf die Bettkante und betrachtete Nia eingehend. Diese zuckte und nickte nur stumm.
"Ich hab mich einfach erschrocken... Ich hab überhaupt nicht damit gerechnet, dass...", Nia brach ab und massierte ihre Handgelenke. Cedric hatte wirklich Bärenkräfte! Ihre Handgelenke schmerzten jetzt noch. Aber warum regte er sich so über den Kuss von Salvatore auf? Es ging Cedric schlichtweg nichts an und... Er musste sie ja regelrecht gestalkt haben, wenn er das gesehen hatte und so schnell im Mädchenwohnheim zurück war.
Als sie aufsah, blickte sie in drei besorgte Gesichter. Ein kleines, gezwungenes Lächeln huschte über Nias Lippen. "Es ist alles in Ordnung. Cedric hat ja seine gerechte Strafe bekommen, nicht wahr?" Ihre dünne, leise Stimme erfüllte den Raum. Bei diesen Worten fixierte Miguel Frau Wood. "Natürlich hat er das.", beschwichtigte sie Nia. "Du brauchst dir keine Sorgen machen. Schließlich ist er unerlaubt ins Mädchenwohnheim eingedrungen und hat dich belästigt!"
Katja ließ die Lehrerin keine Sekunde aus den Augen. Ruckartig stand sie auf. "Nia, ich geh schon mal vor! Ich hab noch was vergessen..." Und ohne die Reaktion ihrer besten Freundin abzuwarten war sie auch schon auf und davon.
Irgendwas war hier faul. Frau Wood log. Cedric hatte keine Strafe bekommen - sie konnte es nicht erklären, aber sie hatte es im Gefühl. Warum hatte er keine Strafe erhalten? Wo war er so schnell hingelaufen? Katja würde keine Sekunde zögern ins Jungenwohnheim einzudringen und dem Blonden die Hölle heiß zu machen. Entschlossen stürzte sie den Gang entlang. Weit konnte er ja noch nicht gekommen sein!
Nia starrte immer noch perplex die Stelle an, an der Katja soeben noch gesessen war. Manchmal war sie wirklich wie ein Wirbelwind! Immer in Bewegung und nicht wirklich berechenbar, wo sie als nächstes hinstürmen würde. "Ich werde dann auch mal gehen.", flüsterte Nia schüchtern und schlug die Bettdecke zurück. Miguel und Frau Wood nickten nur, als sie aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Ein langer Seufzer entfuhr dem schwarzhaarigen Mädchen, als sie die Apartmenttür öffnete. Heute war wirklich ein verrückter Tag! Sie zitterte immer noch. Alles erschien wie ein Traum und sie wusste nicht so recht, ob sie daraus erwachen wollte oder nicht. Aber es war kein Wunder, dass sie einfach nur noch schlafen wollte. Ohne großes Interesse schaute sie die Post durch.
Katja Müller
Katja Müller
Katja Müller...
Gab es überhaupt so viele Musikschulen wie Katja Briefe bekam? Sie war wirklich grandios und aus ihr würde später einmal eine berühmte Geigenspielerin werden, dessen war sich Nia sicher. Ein wenig Stolz durchflutete sie. Es war irgendwie verwunderlich, dass Katja noch keine Fanpost bekam... Oder vielleicht versteckte sie die?
Oh, diese Handschrift erinnerte sie glatt an die von Salvatore... genauso filigran und schwungvoll, wie es oft in der Gerüchteküche gezeigt wurde. Angeblich verschwanden sogar Exen und Schulaufgaben von ihm, da manche Fans seine Schrift so anhimmelten.
Salvatore...
Nias Lippen brannten. Sein Kuss war so sanft gewesen. Wie eine sprießende Knopse oder eine sanfte Sommerbrise. Ihre Haut kribbelte bei dem Gedanken daran. Hatte wirklich Salvatore Zefalus, den sie seit so vielen Jahren von fern bewunderte sie heute... geküsst? Heißes Blut schoss in ihre Wangen und sie berührte verträumt ihre Lippen.
Und dann war da noch der Kuss von Cedric. Warum hatte er sie geküsst? Sie saßen seit Jahren nebeneinander und nie hatte er mehr als drei Sätze mit ihr gewechselt. Woher dieser plötzliche Gefühlsausbruch? Das ergab überhaupt keinen Sinn! Was hatte dieser Gesichtsausdruck zu bedeuten, als sie ihm sagte dass sie ihn hasste? Irgendwie hatte sie bei dieser Aussage einen wunden Punkt getroffen. War es nicht überdeutlich, dass sie ihn nicht ausstehen konnte? Und dennoch... sein Kuss war so hart gewesen. Es fühlte sich an wie glühende Kohlen... Als hätte er einen unstillbaren Hunger. Oder als hätte er sich schon seit langem danach gesehnt. Nia betrachtete ihre Handgelenke, die von Cedric eisernem Griff rot und geschwollen waren. Sie erschauderte angesichts seiner immensen Kraft.
Mit einem weiteren Seufzer legte sie den Briefstoß auf den Schuhschrank. War eh nichts für sie dabei...
Einer der Briefe fiel dabei herunter. Als sich Nia bückte erkannte sie, dass er tatsächlich an sie adressiert war. Interessiert riss sie ihn auf. Der Absender sagte ihr nichts.
Ihre Augen weiteten sich, als sie den Inhalt überflog.
Sehr geehrte Frau Nia Toshiki,
Hiermit wird bestätigt, dass die ehemalige Schülerin
Name: Toshiki
Vorname: Nia
ab dem heutigen Tag von der Realschule des Campus an der Huans-Schule eingeschrieben ist.
Ich bitte Sie um Überlassung des Schülerbogens und der Zeugnisdurchschriften für die o.g. Schülerin. Diese sind unverzüglich ins Sekreteriat zu bringen.
Vielen Dank für Ihre Bemühungen.
Mit freundlichen Grüßen
Nia ließ die Arme sinken und schaute aus dem Fenster.
"Huans?"
"Auseinander!", brüllte eine Lehrerin hitzig. Mit einer herrischen Geste brachte sie einen gewissen Abstand zwischen die beiden Jungs. Salvatores Körperspannung zufolge war er aber jederzeit dazu bereit, Cedric einen erneuten Schlag zu verpassen. Katja stürzte zu Nia, ohne auf ihre Mitschüler zu achten. Diese brach augenblicklich in den Armen ihrer besten Freundin zusammen. Die Schwarzhaarige krallte sich in die Schuluniform von Katja und vergrub ihr Gesicht. Stille, erschrockene Tränen kullerten der Schwarzhaarigen über die Wangen. Ihr ganzer Körper bebte und Katja streichelte beruhigend über Nias Rücken. Die schüchterne Schülerin sah aus wie ein Häuflein Elend.
Mit knirschenden Zähnen blickte Cedric zu Boden. Sein Kinn pulsierte und er hörte sein Blut in den Ohren rauschen, sowie Nias leise, nahezu unhörbare Tränen. Das hatte er nicht gewollt. Andererseits... was genau hatte er damit beabsichtigt? Alles war so überfallsartig schnell passiert...
"Nia, ich bin ja da, du brauchst keine Angst mehr zu haben!", beschwichtigte Katja ihre beste Freundin und streichelte sie behutsam über die Haare. Nia sagte nichts sondern vergrub ihr Gesicht noch tiefer in die Schulter ihrer Freundin. "Wir gehen jetzt in mein Büro.", sagte die Lehrerin sanft aber bestimmt. Dabei strich sie Nia vorsichtig eine abstehende Strähne wieder glatt. "Ihr kommt mit.", sagte die Pädagogin leise und doch streng zu den beiden jungen Männern, als sie sich kurz von der Schülerin abwendete.
Folgsam trotteten sie der mittelblonden Frau hinterher. Katja hatte Nia liebevoll in den Arm genommen und flüsterte ihr ununterbrochen wärmende Worte zu. Ihr Gesichtsausdruck war angespannt, obwohl sich die Brünette um ein Lächeln bemühte. Salvatore ließ den Blonden keine Sekunde aus den Augen. Dieser hatte die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt und starrte unablässig zu Boden. Am liebsten hätte er sich in Luft aufgelöst.
Das Büro war unweit des Eingangsbereichs. Als die Lehrerin die Tür öffnete, erhaschte Nia einen kurzen Blick auf das Namensschild. "Frau Eunice Wood. Leitende Lehrkraft in Sport und Schönschrift. Krankenhelferin." Komisch, Nia hatte noch nie wirklich von ihr gehört, obwohl sie schon so lange auf die Schule ging... War sie neu oder versetzt worden?
Es war ein kleiner, quadratischer Raum. Die Wände waren abgesehen von den Türen und ein bodentiefes Fenster mit Bücherregalen zugestellt. Es roch nach alten, antiken und ledergebundenen Büchern. Die Lehrerin öffnete eine reich verzierte Holztür, welche in ein weitaus kleineres Zimmer führte. "Nia, Katja...", setzte sie an und machte eine Kopfbewegung, um die beiden in den Raum zu bugsieren. In dem Raum war ein Krankenbett und ein Tischchen mit Lampe untergebracht. Es handelte sich um das Zimmer für die Sanitäter. Alles roch nach Desinfektionsmitteln und auf dem langen Schrank standen unzählige Utensilien. Bandagen, ein Erste Hilfe Kasten, Handschuhe, Pflaster und etliche Medikamente. An dem kleinen, altmodischen Fenster stand -
"Miguel?", flüsterte Katja, die zum ersten Mal von Nia aufgesehen hatte. Erschrocken drehte sich Miguel um. Seine Augen wurden merklich größer, als er seine brünette Mitschülerin erblickte. Verlegen strich sie sich eine Strähne hinters Ohr und zupfte an seiner roten Sanitäterjacke herum. Die reflektierenden Streifen der Jacke schillerten im Sonnenlicht und er wandte er sich Nia zu. Die Blicke der Lehrerin und seiner trafen sich und Miguel nickte kaum merklich. "Ich hole Kakao, das beruhigt die Nerven." Und mit diesen Worten verschwand er.
"Während ich mir den Urs vorknöpfe, kümmerst du dich um Nia.", meinte Frau Wood bestimmt und schloss die Tür hinter sich, ohne Katjas Antwort abzuwarten. Auch ohne die Aufforderung hätte sich Katja liebevoll um ihre beste Freundin gekümmert. Die Lehrerin ging zu ihrem kleinen, schlichten Bürotisch in der Mitte des Raumes und knipste das Licht der schwarzen, modernen Lampe an. Cedric biss sich auf die Lippen und wechselte das Standbein. "Du bleibst stehen wo du bist, Cedric Urs.", dröhnte ihre Stimme bedrohlich durch den kleinen Raum. Der Angesprochene zuckte zusammen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Frau Wood faltete die Hande zusammen und starrte Cedric finster über den Rand ihrer Brille hinweg an. Man spürte, dass sie vor Wut innerlich kochte und nach den richtigen Worten suchte. Schließlich konnte sie nicht einfach lospoltern, wenn die Wände nebenan Ohren hatten.
"Wie kannst du es wagen?", fragte Salvatore mit einer Grabesstimme, die einem einen Schauer über den Rücken jagte. Doch der Angesprochene antwortete nicht sondern starrte auf seine Fußspitzen. Einer seiner Finger blutete... Anscheinend hatte er sich die obersten Hautschichten abgerieben, als er über den Boden geschliddert war. Sein Handballen zeigte ebenfalls einige Schürfwunden. Es brannte, doch er bemerkte es kaum. Als keine Antwort erfolgte, dauerte es keine Sekunde, bis der Frauenschwarm mit wutverzerrtem Gesicht vor ihm stand. "Sie hat dich beschimpft, nicht wahr?", spie Salvatore förmlich aus, "Sie hat die verbotenen Worte benutzt, hab ich recht?"
Keine Reaktion.
"Das reicht. Cedric, erzähl mir, was passiert ist.", befahl die Pädagogin scharf.
Schnaubend wich Salvatore zurück und Cedric atmete scharf ein. Noch niemand hatte den Frauenschwarm so wütend und angriffslustig gesehen. Was war eigentlich passiert? Cedric wusste es selber nicht mehr so genau.
"Ich...", setzte der blonde Hüne an und seine Stimme erstickte. Er schüttelte den Kopf. So wurde das nichts, er musste an einer anderen Stelle ansetzen. "Salvatore Zefalus hat Nia Toshiki zu einem Date eingeladen und sie dabei geküsst. Als Nia zurückkam, hab ich sie in der Lobby des Mädchenwohnheims erwartet. Ich... wollte sie zur Rede stellen." Er schluckte hörbar. "Ich wollte sie fragen, warum sie sich hat küssen lassen..." Cedric rieb sich die Stirn mit seinem Handballen. Dabei schmierte er sich unbemerkt Blut seines verwundeten Fingers ins Gesicht. Salvatore schnaubte verächtlich.
Das war eine dumme Idee gewesen. Warum um alles in der Welt hatte er nicht Salvatore darauf angesprochen? Die Frage war natürlich, ob das etwas an der Situation geändert hätte... Nein, das war es nicht. Er wollte Nia aus erster Nähe sehen, wenn sie nicht in ihrer Schuluniform war. Seine Finger kribbelten allein beim Gedanken daran. Sie hatte sich so herausgeputzt für... für... für Salvatore Zefalus! Dabei saß doch er seit mehreren Schuljahren neben ihr...! Und trotzdem erhielt er nie so viel Beachtung wie der Frauenschwarm. Beim Wort "Frauenschwarm" kam Cedric direkt die Galle hoch, doch er konzentrierte sich schnell wieder auf die Erzählung. Seine Handflächen waren schweißig und sein Mund staubtrocken.
"Natürlich hat sie mich angeschrien. Ich habe ja auch im Mädchenwohnheim überhaupt nichts verloren..."
Ihre seidigen Haare. Ihre strahlend blauen Augen und das Lächeln, das sie hatte, wenn Nia Salvatore ansah. Heiße Eifersucht schoss durch seine Adern. Cedric ballte wütend die Faust und ein scharfer Schmerz durchzuckte ihn. Er schaute auf.
"Sie hat die verbotenen Worte benutzt und ich wollte sie zum Schweigen bringen."
Ihre hautenge Jeans. Das weitausgeschnittene Top. Ihre verführerischen Lippen. Er konnte all das ganz genau vor sich sehen und Cedric bebte innerlich bei dem Gedanken an sie.
"Und da habe ich sie geküsst." Der letzte Satz war bar jeglicher Emotion.
Man merkte deutlich, dass es Salvatore seine ganze Kraft abverlangte, sich nicht auf ihn zu stürzen.
Frau Wood wollte gerade zum Sprechen ansetzen, als Miguel mit einem Tablett voller Kakaotassen hereinkam und schnell im Nebenzimmer verschwand. Inzwischen hatte er die Sanitäterjacke ausgezogen.
Am Krankenbett angekommen stellte er das Tablett auf das dort stehende Tischchen.
"Hier bitteschön.", sagte der mit gedämpfter Stimme und überreichte Katja eines der heißen Schokoladengetränke, während eine Hand auf ihrer Schulter ruhte. Ihre Blicke trafen sich kurz und mit einem kleinen Lächeln nahm sie dankbar die Tasse entgegen. Miguel drehte sich geschäftigt um und packte die Pflaster erst in das eine, dann in das andere Eck zurück. Inzwischen war Nia eingeschlafen. Scheinbar hatte sie die heutige Gefühlsachterbahn von himmelhoch jauchzend bis zutode betrübt sehr geschafft. Katjas Lippen kräuselten sich säuerlich. Wenn sie gewusst hätte, was Cedric Urs vorhatte, hätte sie ihn mit allen Mitteln aufgehalten. Bei aller unterdrückten Wut fühlte sie sich aber auch zeitgleich schuldig. Wieder war Nia Opfer einer Mobbingattacke geworden und wieder hatte Katja es nicht verhindern können...
Jenseits der Tür waren leise Stimmen zu hören. "Sei froh, dass die Prügelstrafe abgeschafft wurde.", zischte die Pädagogin dort, "Du weißt nicht, was du damit angerichtet hast!"
Katja horchte auf. Was wurde da geflüstert? Einzelne Stimmen drangen an ihr Ohr, wobei sie sich möglichst unbeteiligt gab. Miguel sollte nicht mitbekommen, dass sie angestrengt lauschte.
"Eigentlich dachte ich nicht, dass ich dich aufklären muss, Cedric Urs.", meinte Frau Wood scharf und faltete ihre Hände zusammen, während sie ihn finster anfunkelte. "Solltest nicht ausgerechnet du von allen am besten wissen, was eigentlich auf dem Spiel steht? Hast du vergessen, was damals im Kindergarten vorgefallen ist?" Sie seufzte und rückte ihre Brille zurecht. Cedric sank regelrecht in sich zusammen. Natürlich wusste er, was er damit hätte anrichten können! Oder es vielleicht bereits getan hat. "Mit einer solch hirnlosen Aktion kannst du unsere gesamte Zukunft in Gefahr bringen! Sie darf noch nichts davon wissen...!" Eine bedeutungsschwangere Pause trat ein.
Salvatore fügte trocken hinzu: "Außer du möchtest dir dein eigenes Leben schwerer machen als es schon ist." Dabei hob er eine Augenbraue und verschränkte die Arme.
"Wie könnte ich den Vorfall von damals je vergessen?", knurrte Cedric mit unterdrückter Wut. "Ich weiß, dass sie mich damals fast..." Er brach ab und schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, hier und jetzt darüber zu reden. Jeder von ihnen wusste, wovon er sprach. Zudem könnten hier die Wände Ohren haben. Katja Müller war unter keinen Umständen zu unterschätzen. Außerdem war Nia im Nebenzimmer und er wollte mit allen Mitteln verhindern, dass sie etwas mitbekam! Früher oder später würde sie es ohnehin erfahren... Ob sie wollte oder nicht. Cedric knirschte mit den Zähnen. Er wollte sie mit diesem Kuss doch nur zum Schweigen bringen! Nicht mehr und nicht weniger... oder vielleicht doch? Heißes Blut schoss ihm in den Kopf.
"Ich würde zu gerne deine Aktionen unterbinden, nur geht das leider nicht aufgrund deiner besonderen Position.", flüsterte die Lehrerin verheißungsvoll. Nachdem Cedric seinen Blick nicht hob wandte sich Frau Wood endlich vom blonden Hünen ab und fixierte den Frauenschwarm. "Aber eigentlich weiß ja jeder, was für ein ernstes Spiel hier gespielt wird, nicht wahr, Salvatore?", Cedric hatte sich beim Gedanken an seine vorherige Tat verkrampft. Wie konnte er nur so dumm sein?
Salvatore horchte auf. Die Lehrerin begegnete dem heißbegehrten Frauenschwarm mit derselben Kühle. "Was auch immer du für Gefühle gegenüber Nia hast - Cedrics Leben hängt von deinen Aktionen ab. Das war schon fast ein Mordakt! Leute wie du, die so etwas aus taktischen Gründen machen werden verstoßen! Willst du das?"
"Natürlich nicht..." Verdrossen schüttelte Salvatore den Kopf und setzte kaum hörbar hinzu: "Ich werde mich bessern."
Tiefe Falten durchzogen Katjas Stirn. Leider hatte sie nur einzelne Wortfetzen durch die dicke Tür aufschnappen können. Aber was hatten Satzbestandteile wie "Zukunft in Gefahr bringen", "aufs Spiel setzen" und... was war im Kindergarten passiert? Kannten sich Cedric und Nia aus dem Kindergarten? Zwar wusste sie, dass Nia jedes Jahr das zweifelhafte Glück hatte, mit dem blonden Eisblock in einer Klasse zu sein, aber... Sie hatte nicht gewusst, dass sich Nia und Cedric aus der Kindergartenzeit kannten. Das hatte sie nie erwähnt. Und hatte sie da eben "Mord" gehört? Das war auf gar keinen Fall eine normale Standpauke, das konnte Katja spüren. Miguel ließ sie nicht aus den Augen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und er räusperte sich. Doch gerade in dem Moment erwachte Nia aus ihrem kurzen Schlummer.
"Ist Cedric weg?", war die erste Frage. Nias große blaue Augen wanderten angsterfüllt von Katja zu Miguel und wieder zurück. Geistesabwesend knetete sie ihre Hände.
"Er ist noch da, aber ich denke, dass Frau Wood ihn gleich wegschickt.", antwortete ihre beste Freundin sanft und strich ihr über die seidigen Haare und ihre Wange.
"Frau Wood ist die Lehrerin, nicht wahr?", erkundigte sich Nia, "Ich habe den Namen auf dem Schild an der Tür gesehen." Katja nickte. "Diese Frau Wood...", flüsterte die Schwarzhaarige kaum hörbar, "ich hatte das Gefühl, sie könnte mich von überall aus beobachten... Selbst durch ihren Hinterkopf." Ein lautes Prusten erfüllte den Raum. Miguel hatte sich an seinem Kakao verschluckt. Er hustete heftig und klopfte sich mit der Faust auf den Brustkorb. Beide Mädchen schauten ihn verwundert an. Ungeschickt wischte er mit seinem Handrücken über die Lippen. Gerade als sich Katja erheben wollte, steckte Frau Wood ihren Kopf zur Tür hinein.
"Die beiden sind jetzt weg.", meinte die Pädagogin mit ihrer klaren Stimme und runzelte die Stirn, als sie den kakaofleckigen Miguel sah. Katja steckte ihr Taschentuch wieder tief in die Rocktasche. "Bei dir alles soweit wieder OK?" Die Lehrerin setzte sich auf die Bettkante und betrachtete Nia eingehend. Diese zuckte und nickte nur stumm.
"Ich hab mich einfach erschrocken... Ich hab überhaupt nicht damit gerechnet, dass...", Nia brach ab und massierte ihre Handgelenke. Cedric hatte wirklich Bärenkräfte! Ihre Handgelenke schmerzten jetzt noch. Aber warum regte er sich so über den Kuss von Salvatore auf? Es ging Cedric schlichtweg nichts an und... Er musste sie ja regelrecht gestalkt haben, wenn er das gesehen hatte und so schnell im Mädchenwohnheim zurück war.
Als sie aufsah, blickte sie in drei besorgte Gesichter. Ein kleines, gezwungenes Lächeln huschte über Nias Lippen. "Es ist alles in Ordnung. Cedric hat ja seine gerechte Strafe bekommen, nicht wahr?" Ihre dünne, leise Stimme erfüllte den Raum. Bei diesen Worten fixierte Miguel Frau Wood. "Natürlich hat er das.", beschwichtigte sie Nia. "Du brauchst dir keine Sorgen machen. Schließlich ist er unerlaubt ins Mädchenwohnheim eingedrungen und hat dich belästigt!"
Katja ließ die Lehrerin keine Sekunde aus den Augen. Ruckartig stand sie auf. "Nia, ich geh schon mal vor! Ich hab noch was vergessen..." Und ohne die Reaktion ihrer besten Freundin abzuwarten war sie auch schon auf und davon.
Irgendwas war hier faul. Frau Wood log. Cedric hatte keine Strafe bekommen - sie konnte es nicht erklären, aber sie hatte es im Gefühl. Warum hatte er keine Strafe erhalten? Wo war er so schnell hingelaufen? Katja würde keine Sekunde zögern ins Jungenwohnheim einzudringen und dem Blonden die Hölle heiß zu machen. Entschlossen stürzte sie den Gang entlang. Weit konnte er ja noch nicht gekommen sein!
Nia starrte immer noch perplex die Stelle an, an der Katja soeben noch gesessen war. Manchmal war sie wirklich wie ein Wirbelwind! Immer in Bewegung und nicht wirklich berechenbar, wo sie als nächstes hinstürmen würde. "Ich werde dann auch mal gehen.", flüsterte Nia schüchtern und schlug die Bettdecke zurück. Miguel und Frau Wood nickten nur, als sie aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Ein langer Seufzer entfuhr dem schwarzhaarigen Mädchen, als sie die Apartmenttür öffnete. Heute war wirklich ein verrückter Tag! Sie zitterte immer noch. Alles erschien wie ein Traum und sie wusste nicht so recht, ob sie daraus erwachen wollte oder nicht. Aber es war kein Wunder, dass sie einfach nur noch schlafen wollte. Ohne großes Interesse schaute sie die Post durch.
Katja Müller
Katja Müller
Katja Müller...
Gab es überhaupt so viele Musikschulen wie Katja Briefe bekam? Sie war wirklich grandios und aus ihr würde später einmal eine berühmte Geigenspielerin werden, dessen war sich Nia sicher. Ein wenig Stolz durchflutete sie. Es war irgendwie verwunderlich, dass Katja noch keine Fanpost bekam... Oder vielleicht versteckte sie die?
Oh, diese Handschrift erinnerte sie glatt an die von Salvatore... genauso filigran und schwungvoll, wie es oft in der Gerüchteküche gezeigt wurde. Angeblich verschwanden sogar Exen und Schulaufgaben von ihm, da manche Fans seine Schrift so anhimmelten.
Salvatore...
Nias Lippen brannten. Sein Kuss war so sanft gewesen. Wie eine sprießende Knopse oder eine sanfte Sommerbrise. Ihre Haut kribbelte bei dem Gedanken daran. Hatte wirklich Salvatore Zefalus, den sie seit so vielen Jahren von fern bewunderte sie heute... geküsst? Heißes Blut schoss in ihre Wangen und sie berührte verträumt ihre Lippen.
Und dann war da noch der Kuss von Cedric. Warum hatte er sie geküsst? Sie saßen seit Jahren nebeneinander und nie hatte er mehr als drei Sätze mit ihr gewechselt. Woher dieser plötzliche Gefühlsausbruch? Das ergab überhaupt keinen Sinn! Was hatte dieser Gesichtsausdruck zu bedeuten, als sie ihm sagte dass sie ihn hasste? Irgendwie hatte sie bei dieser Aussage einen wunden Punkt getroffen. War es nicht überdeutlich, dass sie ihn nicht ausstehen konnte? Und dennoch... sein Kuss war so hart gewesen. Es fühlte sich an wie glühende Kohlen... Als hätte er einen unstillbaren Hunger. Oder als hätte er sich schon seit langem danach gesehnt. Nia betrachtete ihre Handgelenke, die von Cedric eisernem Griff rot und geschwollen waren. Sie erschauderte angesichts seiner immensen Kraft.
Mit einem weiteren Seufzer legte sie den Briefstoß auf den Schuhschrank. War eh nichts für sie dabei...
Einer der Briefe fiel dabei herunter. Als sich Nia bückte erkannte sie, dass er tatsächlich an sie adressiert war. Interessiert riss sie ihn auf. Der Absender sagte ihr nichts.
Ihre Augen weiteten sich, als sie den Inhalt überflog.
Sehr geehrte Frau Nia Toshiki,
Hiermit wird bestätigt, dass die ehemalige Schülerin
Name: Toshiki
Vorname: Nia
ab dem heutigen Tag von der Realschule des Campus an der Huans-Schule eingeschrieben ist.
Ich bitte Sie um Überlassung des Schülerbogens und der Zeugnisdurchschriften für die o.g. Schülerin. Diese sind unverzüglich ins Sekreteriat zu bringen.
Vielen Dank für Ihre Bemühungen.
Mit freundlichen Grüßen
Nia ließ die Arme sinken und schaute aus dem Fenster.
"Huans?"