Kapitel 25: Not ever.
Kaum waren Cedric Urs und Nia Toshiki außer Sichtweite, stand Tonia ruckartig auf und schmiss ihre Zimmertür hinter sich zu.
"Emotional unstabile Zicke.", kommentierte Akuma und schnappte sich seine halbleere Chipstüte. Gerade als Isaac das mit einem schlauen, altbackenen Spruch quittieren wollte, hörten beide ein steinerweichendes Schluchzen aus dem Zimmer ihres Rulers. Akuma runzelte die Stirn und kraxelte vom Boden auf die Couch, um besser hören zu können. "Heult die etwa?", fragte er völlig fassungslos. Isaac schenkte ihm nur ein kleines, verzweifeltes Lächeln. "Nach allem, was heute vorgefallen ist, ist das doch nicht verwunderlich, oder?"
Wutentbrannt und kurzentschlossen warf der temperamentvolle Huan dem Klugschwätzer seine hießgeliebten Chips zu und stampfte in Richtung Zimmer. Mit einem Knall öffnete er es. Auf dem Bett erblickte er eine halb entkleidete, weinende Tonia.
"Hör auf zu flennen!", fauchte er und packte sie unsanft an den Schultern. Ihr verschrecktes Gesicht nahm binnen Sekunden den Ausdruck eines mordlustigen Tigers an.
"Halt's Maul, Akuma! Keiner hat dich nach deiner Meinung gefragt!", keifte sie zurück. "Ich kann so viel und so lange weinen wie ich möchte, da brauche ich deine beschissene Erlaubnis nicht!"
"Aber keiner will das hören! Kauf dir Schalldämpfer oder mach dein Zimmer schalldicht, wenn es denn unbedingt sein muss! Was gibt es denn überhaupt zu heulen?! Ist doch alles in Butter!"
"In Butter? In? Butter?!" Tonias Stimme wurde mit jeder Silbe schriller. Wütend schüttelte Akuma sie, damit das ganze endlich ein Ende hatte. Tonia konterte die Attacken mit Schlägen ihrer ausgezogenen Bluse.
Isaac linste vorsichtig um die Ecke ins Zimmer. Zum Glück sah außer ihnen niemand, dass gerade ein junger, wilder Kerl bei einem weinenden, nur noch in BH und Rock bekleideten Mädchen auf dem Bett war und sich diese wild anschrien. Es gab Dinge, die sollten und durften einfach nicht nach außen dringen. Pietätsvoll schloss er die Tür, um die beiden Streithähne allein zu lassen. Inzwischen hatte er ein Gespür dafür entwickelt, dass sich die beiden zwar bis aufs Blut stritten und handgreiflich werden konnten, sich allerdings niemals ernsthaft verletzen würden.
"Ich will endlich Tanja wiedersehen!", schniefte Tonia und wischte sich wütend eine herunterkullernde Träne aus dem Gesicht. "Und ich will, dass Anita nicht mehr so depressiv und schweigsam ist und sich in ihr Schneckenhaus verkriecht!" Ein weiterer Schluchzer drang aus ihrer Kehle. "Und... und... und ich will ungeschehen machen, dass sich Salvatore für mich in Gefahr begeben hat und dabei so schwer verletzt wurde!"
Das Mädchen zitterte am ganzen Körper. Empörte, auf sich selbst wütende Grimassen wechselten mit steinerweichenden, verletzlichen Gesichtsausdrücken im Sekundentakt. Akuma wusste nicht so recht, was er tun sollte. Deshalb schüttelte er sie erneut.
"Wer hätte gedacht, dass die große Tonia so schwach ist?"
"Warum ist man schwach, wenn man weint? Ich stehe zu meinen Gefühlen, ob Freude oder Trauer! Und gerade ist mir einfach zum Heulen zumute, auch wenn du der letzte Mensch auf Erden bist, der das hätte sehen sollen!" Akuma schürzte die Lippen und tat so, als hätte er den letzten beißenden Kommentar nicht gehört.
"Rumjammern und weinen bringt einen überhaupt nicht weiter! Arbeiten wir nicht alle hart, damit du endlich Tanja wiedersehen kannst? Erwartest du ernsthaft nach so kurzer Zeit vorzeigbare Ergebnisse? Wenn du so stark bist wie du sagst, dann zeig etwas mehr Ausdauer und Geduld! Du hast es sogar geschafft, dich mit deinem Mobbingopfer Nummer eins zu verbünden: Nia Toshiki!" Rumpelte er vor sich hin und fügte garstig hinzu: "Außerdem bin ich mir todessicher, dass du seit geraumer Zeit nicht mehr mit Anita gesprochen hast. Ich wette, dass sie sich einfach vernachlässigt fühlt von ihrer arroganten, eingebildeten und selbstverliebten Freundin!"
Tonia schnaubte, erwiderte allerdings nichts auf diese Anschuldigung. Ehrlich gesagt hatte Akuma recht... In letzter Zeit hatte sie alles um sich herum ignoriert und sich abgekapselt, um sich selbst zu schützen. Dabei hatte die enge Freundschaft zwischen ihr und Anita arg gelitten... Vielleicht trug sie sogar eine Teilschuld daran, dass Anita so deprimiert und traurig war?
"Und was diesen eingebildeten Lackaffen angeht...", begann Akuma und Tonia schnitt ihm das Wort ab: "Salvatore Zefalus heißt er!"
"Er kann von mir aus der Papst von China sein!"
"Es gibt keine Päpste in China, verdammt noch Mal! Das heißt Kaiser von China!"
Akuma verdrehte die Augen und atmete schwer. Färbte Isaac jetzt schon auf seinen Ruler ab? Sie war so auch schon anstrengend genug!
"Was deinen ach so vergötterten Salvatore angeht... Der creept mich total weg."
Tonia blinzelte verdutzt. "Was tut er?"
"Er... der macht mir total Schiss, ehrlich! Dieses aufgesetzte Dauerlächeln und man spürt genau, dass er die Fäden hinter vielen Dingen zieht... Woah, das kommt mir das kalte Grausen! Es kommt mir vor, als ob alles, was er tut, aus purer, eiskalter Berechnung geschieht..."
"Hör sofort auf mit diesen wilden, grundlosen Anschuldigungen!", fuhr sie dazwischen und in ihren Augen loderten Flammen. Akuma schnaubte. "Was ich damit sagen wollte... So Jemand stirbt nicht so einfach. Und deshalb solltest du jetzt auch ruhig schlafen."
Wütend starrte Tonia einen Fleck auf ihrer Bettdecke an. Eine einsame Träne kullerte über ihre Wangen. Es war keine Träne der Trauer, sondern eine Träne des Zorns. Niemals hätte sie von so einem Idioten wie Akuma getröstet werden wollen!
"Ich hasse dich. Verpiss dich aus meinem Zimmer und schließ gefälligst die blöde Tür.", nuschelte sie hasserfüllt.
"Wie sie wünschen, meine Prinzessin. Geruhen Sie wohl.", antworte Akuma und entfernte sich in ritterlicher Marnier und mit einer tiefen Verbeugung. Alles triefte nur vor Zynismus. Auf der Türschwelle blieb er stehen, streckte die Zunge raus und zeigte ihr den Mittelfinger.
"So sehr kannst du mich gar nicht hassen, wenn ich immerhin 40 schwarze Kugeln an meinem Armband habe!"
Die Tür war geschlossen, bevor ihn die anfliegende Bluse erwischen konnte.
Ein leiser Applaus erwartete ihn draußen. Isaacs Augen funkelten vor Begeisterung.
"Wow, wer in aller Welt hätte gedacht, dass du so gut trösten kannst? Ich bin immer wieder von deinen verborgenen Fähigkeiten erstaunt, Akuma Schmied!", sagte Isaac mit echter Verblüffung in der Stimme.
"Nein. Ich hasse es nur, wenn Jemand weint und allein gelassen wird. Das ist das Schlimmste, was einem passieren kann..."
~*~
Seit der Abschlussprüfung hatte sich Nia nicht mehr so elend gefühlt. Ihr Körper war völlig ausgelaugt vom Weinen gewesen. Dafür war sie in einen langen, traumlosen Schlaf gefallen. Erst am Morgen danach kamen die Erinnerungen wieder. Die Suche nach einem Ausweg aus der Schule... Die Zweckgemeinschaft mit Tonia... Und dann... Vorsichtig berührte sie ihr Ohr. Wie zu erwarten war der Ohrring immer noch da. Jener unheilvolle Schlüssel
"Salvatore...", wisperte sie und umklammerte ihre Knie.
"Hat Jemand meinen Namen gerufen?", ertönte es aus dem Türrahmen und das Mädchen purzelte vor Überraschung fast aus dem Bett. Hektisch strich sie sich die abstehenden Haarsträhnen glatt.
"Niemand interessiert sich für deine fettigen Haare.", kommentierte Cedric, der mit einer Tasse Kaba hinter ihrem Schwarm stand. Nia zog eine empörte Schnute.
"Du warst wohl etwas zu lang mit Akuma zusammen!", entgegnete Nia und schwang sich aus dem Bett.
"Wir wollen mit dir etwas Besprechen.", begann Salvatore und schnappte sich die Tasse seines Mitbewohners, um einen großen Schluck zu nehmen. Danach gab er sie elegant zurück, als wäre nie etwas gewesen. Cedric dagegen starrte so ungläubig drein, dass er aus Reflex sofort den Inhalt in den nächsten Blumentopf entleerte.
Ernst blickte Nia ihrem Schwarm ins Gesicht, als hätte sie die Interaktion ihrer Huans soeben nicht mitbekommen. Plötzlich fiel ihr etwas auf.
"Salvatore! Du...", sie deutete mit zitternder Hand darauf, "Hast auch einen Schlüssel-Ohrring?!"
Für einen Moment wich Salvatores Lächeln einem ernsten Ausdruck. "Oh. Ja. Der. Nennen wir es Partnerlook?"
Entschlossen schüttelte sie den Kopf. "Dieser Schlüssel ist eine Strafe! Was hast du für eine bekommen? Mein Schlüssel bewirkt, dass ihr für euch drei Kämpfe nicht mit eurem Stoff heilen könnt..."
Ein seltsamer, nicht deutbarer Ausdruck huschte über Salvatores Gesicht. "Ich kann mich für die nächsten drei Kämpfe nicht in einen Weißkopfseeadler verwandeln."
Nachdenklich schauten alle Drei zu Boden. Das würde ihre ohnehin schon schmalen Gewinnchancen in Kämpfen noch weiter schmälern... Außerdem war Nia nicht sonderlich erpicht darauf, mit Cedric zu kämpfen. Aber sie hatte wohl keine andere Wahl!
"Wir wollten mit dir über einen möglichen Ausweg sprechen.", setzte Cedric schließlich an und wurde rot, als Nias meerblaue Augen auf ihn gerichtet waren. Ihre Umarmung gestern hatte ihn noch viele schlaflose Stunden gekostet. Noch nie zuvor war sie so liebenswürdig zu ihm gewesen... Zwar hatte er es sich oftmals ersehnt, aber es war so völlig unerwartet gekommen...! Sein Hals war ganz trocken, als er weitersprach.
Salvatore verdrehte die Augen, als er Cedric beobachtete. Verliebter Narr! Sich von solchen Gefühlen leiten zu lassen führte zu nichts!
~*~
Unbeholfen und nervös knete Lorcan an seinem Haarband. Er war extra früher aufgestanden, um es für ein paar ruhige Minuten tragen zu können. Ganz ohne Aufsehen. Ganz ohne Fragen. Er schämte sich in Grund und Boden dafür, dass er vor allen Anderen gesagt hatte, dass er sich bei Katja bedanken wollte. Zwar war absolut nichts verwerfliches daran, aber es war ihm unangenehm, darüber zu sprechen. Niemals zuvor hatte er diesen Namen bei Lais aufgebracht. Er war wahrlich mit einem wundervollen Ruler gesegnet, der ihn so akzeptierte, verstand und keine unangenehmen Fragen stellte. Und je länger er darüber grübelte, desto sicherer war er, dass die anderen Anwesenden der vergangenen Nacht seinen Worten keinerlei Beachtung geschenkt hatten. Nicht einmal Nia Toshiki, die beste Freundin von Katja Müller, war hellhörig geworden. Glück im Unglück!
Er wollte Katja wiedersehen. Er wollte sich bei ihr bedanken. Und noch viel mehr wollte er ihre Stimme wiederhören. Und ihr glockenklares, unbeschwertes Lachen vernehmen! Oder einfach einem ihrer großartigen, emotionalen Konzerte lauschen. Ob sie wusste, dass er fast alle ihre Konzerte besucht hatte?
Was sie jetzt wohl gerade machte? Suchte sie ihre beste Freundin Nia ebenso wie Nia Katja suchte? Die Zwei waren unzertrennlich gewesen. Die Gefühle mussten sie noch viel mehr zermartern als ihn!
In diesem Moment kam Lais ins Bad gestolpert. Morgens hatte sie nahezu keinen Puls und brachte kein Wort über die Lippen. Mit stumpfem Ausdruck musterte sie Lorcan. Ein kurzes, unfreundliches wirkendes Kopfnicken war das alltägliche "Guten Morgen" ihrerseits. Sobald sie sich umgedreht hatte, riss sich Lorcan das Haarband herunter. Sicher war sicher!
~*~
Es war viel zu lange her, als Nia das letzte Mal joggen gegangen war. Nachdem "ihre Jungs" Nia ihren Plan unterbreitet hatten, musste sie sich körperlich betätigen. Nichts tat so gut wie laufen...! Es machte den Kopf frei von allen Sorgen und ließ sie danach viel klarer denken.
Wer hätte gedacht, dass sich Salvatore und Cedric zusammenschließen würden?
Cedric war der Meister der Schlüssel. Niemand konnte so gut fühlen, welche Wirkung ein Schlüsselteil oder eine Kombination hatte. Salvatores Stärke lag darin, Leute zu betören. Fusionierte man beide Fähigkeiten miteinander, so wäre es ein Leichtes, an viele verschiedene Schlüsselteile heranzukommen und diese auf ihre Tauglichkeit zu testen! Zwar handelte es sich hierbei um keinen ausgefeilten Meisterplan, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung. Außerdem hatte sich Nia mit Tonia verbündet. Und niemand wusste besser, was Tonia alles in die Wege leiten konnte, wenn sie erst einmal ihre Energie in etwas steckte. Ganz sicher würde ihr eine plausible Story einfallen, mit der Salvatore möglichst alle Schlüssel und Schlüsselteile untersuchen konnte! Viel mehr Auswegsmöglichkeiten hatten sie ja auch nicht...
Während des Gesprächs hatte Nia etwas Anderes angemerkt.
"Als wir unsere Strafschlüssel bekommen haben...", fing sie an und deutete auf ihre Ohrringe, "Da hat Frau Wood aber gar keinen eigenen Schlüssel zusammengebaut sondern hat einen ausgewählt und ihn... verzaubert." Nia überlegte. "Ja, verzaubert ist das beste Wort, das mir dafür einfällt. Ihr Mund hat sich wortlos bewegt und plötzlich konnte man einen Windhauch spüren, obwohl alle Türen und Fenster geschlossen waren. Wie lässt sich das erklären? Ist es möglich, dass man eine Kraft IN einen Schlüssel pumpt?"
Cedric schüttelte den Kopf. "An Frau Woods Schlüsselbund waren Schlüssel für verschiedene Strafen. Sobald sie einen auswählt, muss sie ihn auf Jemanden prägen. Schließlich ist es deine Strafe gewesen und es wäre nutzlos, wenn du den Ohrring einfach abnehmen und einem Anderen verpassen könntest, nicht wahr? Dieses "Verzaubern" wie du es nennst ist nichts weiter als dass sie den Schlüssel und die damit verbundene Strafe dir zuordnet." Schloss er seine Erklärung. Nia schaute bedröppelt.
"Es wäre so praktisch, wenn es auch umgekehrt gehen würde! Also dass man keine vorhandenen Fähigkeiten eines Schlüssels zusammenpuzzeln muss, sondern dass man aus eigener Kraft einem Schlüssel eine bestimmte Wirkung verleiht..."
Der Ausdruck im Gesicht des Eisbärenhuan wirkte mit einem Mal sehr verbittert. Er verschränkte die Arme. "Vielleicht kannst du ja diese Technik erfinden und mir dann beibringen!", forderte er sie zynisch heraus.
Nia kräuselte die Lippen, als sie daran dachte. Immer diese Seitenhiebe von ihm! Musste das denn sein? Er machte sich damit nicht gerade beliebt! Dennoch wurde sie gelegentlich das Gefühl nicht los, dass Cedric sie gar nicht so sehr hasste, wie er immer tat. Bei der Umarmung vergangene Nacht war er richtig zusammengezuckt. Seine kohlrabenschwarzen Augen waren ganz weich geworden, wenn sie das bei dem Tränenschleier richtig erkannt hatte. Irgendetwas verbarg Cedric... Oder vielleicht war es auch schlicht und ergreifend sein Charakter, einen auf harte Schale, weicher Kern zu machen? Sie beschlich das Gefühl, dass sie mit ihren Gedanken auf keinen grünen Zweig kommen würde.
Sie wurde aus ihren Grübeleien herausgeholt, als sie sah, wie einem Mitschüler ein Heft aus der Tasche fiel. Ohne zu zögern joggte sie hin und hob es auf. "Hey warte, du hast was verloren!", sagte sie zu ihm. Keine Reaktion. Unbeirrt ging er weiter. Hatte er sie etwa nicht gehört? Nia hatte ja nicht die lauteste und selbstbewussteste Stimme, auch wenn sie sich in letzter Zeit Mühe gab, an sich selbst zu arbeiten. Bisher war sie auch davon überzeugt, dass ihre Arbeit erste Früchte trug. Wer sonst würde sich trauen, sich mit seiner ehemaligen Mobberin zusammenzuschließen? Auch wenn ihr zugegebenermaßen immer noch die Knie schlotterten und sich ein Kloß in ihrem Hals bildete, wenn sie Tonias vernichtendem Blick schutzlos ausgeliefert war. Diese Zweckgemeinschaft war für Beide von Vorteil, aber dennoch hatte Nia immer noch Angst vor der Macht, die Tonia einmal innehatte.
Neugierig linste sie auf den makellosen Umschlag. Ganz anders als Nia kritzelte der Schüler nichts darauf. Vielleicht war sie alt genug, sich diese dumme Verhalten endlich abzugewöhnen.
"Erm... Fuad Thelen, warte!", rief sie. Er hatte sich schon ein gutes Stück entfernt.
Noch immer keine Reaktion.
~*~
Cedric streifte durch die Gänge des Schulgebäudes. Es war kurz vor Unterrichtsbeginn, doch er suchte Jemand bestimmten. Ausnahmsweise handelte es sich dabei nicht um Nia, bei der er ohnehin ohne Unterlass war. Wenn er in ihrer Nähe war, bildete er sich zumindest ein, er könne sie vor allem und jedem beschützen... Auch wenn er wusste, dass er selbst eine große Gefahr darstellte.
Endlich hatte er sie gefunden.
"Tonia Dierl.", sprach er mit einem unmissverständlich bedrohlichen Unterton. Sie stand mit dem Rücken an der Wand und hatte ein Heft in der Hand, das sie angestrengt studierte.
"Wow, du hörst dich in der Früh noch miesepetriger an als sonst schon, Mr. Eisberg.", antwortete die Schülerin ohne von ihren Biologienotizen aufzusehen. Es bestand die Möglichkeit, dass sie heute ausgefragt werden könnte. Und vorbeugen war ja bekanntlich besser als heilen.
Cedric schlug wütend mit der Faust gegen die Wand. Er war Tonia gefährlich nahe, doch sie sah nur langsam auf. Provozierned langsam.
"Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Ich werde es dir nur ein einziges Mal sagen.", knurrte der blonde Hüne, der sich bedrohlich vor ihr aufbaute. "Ich weiß nicht, was du oder einer deiner verkorksten Huans mit Nia gemacht haben, dass sie plötzlich mit euch zusammenarbeitet..."
"Ich sage dir das auch nur ein einziges Mal: Der Vorschlag kam nicht von m-"
"Wenn ich spreche schweigst du, sonst werde ich ungemütlich.", schnitt ihr der junge Mann das Wort ab. Sein Blick wirkte unbarmherzig, bedrohlich und kalt. Tonia ließ sich davon wenig beeindrucken und starrte ebenso feindselig zurück.
"Was auch immer Nia dazu geritten hat, ausgerechnet mit dir zusammenzuarbeiten... Ich bin nicht so großmütig und vergesse, was du Nia alles angetan hast."
Die Mobbereien im Gang. Die verschwundene Brotzeitbox. Das Gekicher. Der Kaugummi in Nias Haaren. Der Stuhl, der Nias Mittelhandknochen hätte brechen können. Und der brutale Überfall auf der Mädchentoilette, als man Nia blutig geschlagen hatte und ihr die Haare hatte abschneiden wollen. Wäre Cedric damals nicht dazwischen gegangen...
Galant schloss Tonia ihr Heft.
"Ich wäre auch bitter enttäuscht, wenn all diese inszenierten 'Unfälle' so einfach in Vergessenheit geraten würden. Dafür waren sie zu anstrengend zu organisieren." Mit einer eleganten Bewegung steckte sie das Heft in die Schultasche und befreite sich aus Cedrics bedrohlicher Position. Mit einem Blick über die Schulter und einem zynischen Lächeln kommentierte sie:
"Das nächste Mal wäre es allerdings schöner, wenn das Opfer selbst sprechen würde. So ganz ohne Vormund."
~*~
Mit geübten Handgriffen spreizte er die Augenlider auseinander. Wie sehr er das hasste! Aber lieber nahm er sich trocken anfühlende Augen in kauf, als dass ihn unentwegt Menschen nach seinen verschiedenen Augenfarben ausfragten.
Salvatore hatte gestern versucht, aus der Schule auszubrechen... Miguel kannte seinen besten Freund gut genug um zu wissen, dass er das für Nia Toshiki getan hatte. Und Nia hatte nur einen einzigen Grund, die Schule verlassen zu wollen: Katja Müller.
Zum dritten Mal fiel ihm die Kontaktlinse vom feuchten Finger. Verflucht!
Katja...
Auch Miguel ging es nicht anders. Es war viel zu lange her, als er das letzte Mal mit Katja geredet oder sie gesehen hatte... Auch wenn er immer ins Stocken und Stottern geriet, wenn sie sich unterhielten. Ausgerechnet er, der doch sonst nicht auf den Mund gefallen war! Außerdem kannten sich die Beiden nicht erst seit gestern und trotzdem fühlte er sich wie ein kleines Kind, wenn er ihr gegenüber stand. Ihre Präsenz und Ausstrahlung waren einfach überirdisch. Ein Lächeln von ihr wirkte so erfrischend und befreiend...!
"Bist du bald fertig im Bad oder kann ich schon reinkommen um mir die Zähne zu putzen?", fragte Frau Wood, die genervt an der Tür klopfte.
"Komm ruhig rein Eunice, ich muss nur noch die blöden Kontaktlinsen in meine Augen stopfen."
Für Miguel war es überhaupt nicht befremdlich, mit Eunice Wood ein Apartment zu teilen. Sie kannten sich schon einige Jahre und das relativ gut.
"Ich hab kaum ein Auge zugetan.", knurrte sie, während sie sich erzürnt die Zahnpasta auf die Bürste drückte. Sie war einer der Leute, die die Tube in der Mitte zusammenquetschten, statt am Ende damit anzufangen. Ganz sicher war in der Hölle ein spezieller Platz für Menschen wie sie.
"Wenn heute auch nur ein Schüler nicht spurt, werde ich ihm oder ihr die Gedärme aus dem Arsch reißen." Dabei fuhr sie sich durch die offenen, noch zerstrubbelten Haare. Wie jung sie wirkte, wenn sie keinen Dutt trug! Allerdings war es auch irritierend, weil sie damit nicht mehr so streng aussah wie sie eigentlich war.
Gelassen träufelte Miguel etwas Kontaktlinsenflüssigkeit auf die Linse. "Also ist alles beim Alten."
~*~
Auf leisen Sohlen schlich er in ihr Zimmer. Er traute sich fast nicht zu atmen, obwohl er sah, dass sie tief und fest schlummerte. Mit einem diabolischen Grinsen riss er unvermittelt die Vorhänge auf. Helle Sonnenstrahlen fielen auf ihr Gesicht.
"Aufstehen!!! Es ist kurz vor acht Uhr, du hast verschlafen!", trällerte Franz Kilcher und erntete dafür einen müden Todesblick seines Rulers. Ohne zu zögern zog Anita sich die Bettdecke über den Kopf.
"Hey, so haben wir nicht gewettet!", meinte er und stemmte die Hände in die Hüfte. "Komm, meine Kleine! Du kannst nicht ewig in der Schule fehlen."
"Ich bin nicht klein."
"Nunja, es lässt sich drüber streiten, ob 1,55 Meter groß oder klein sind...", pflichtete Franz ihr bei und krallte sich die Bettdecke. Eigentlich wollte er sie geschickt seinem Ruler entreißen, aber er hatte eine Rechnung ohne einen Morgenmuffel gemacht. Die Decke bewegte sich keinen Zentimeter, obwohl er mit aller Kraft daran zog.
Erschöpft setzte er sich neben ihr Bett. Einige Minuten sprach keiner ein Wort. Die moderne Wanduhr tickte laut und von weit draußen hörte man die Schulglocke sanft läuten.
"Du kommst zu spät zum Unterricht.", brach Anita schließlich das Schweigen.
"Du auch.", konterte Franz und rückte sein Bandana zurecht. "Ich werde hier nicht eher weggehen, bis du ins Klassenzimmer gehst."
"Dann wirst du hier versauern." Ihre Stimme war bar jeglicher Emotion.
Ratlos kratzte er sich am Kopf. "Das klingt so, als wäre alles sinn- und zwecklos..."
Zuerst reagierte sie nicht. Ihre Stimme klang so, als müsste sie Tränen zurückhalten. "Ist es auch."
Sanft und behutsam streichelte er über die Decke. Noch immer hatte sich Anita von Kopf bis Fuß darin eingewickelt. Es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht schon erstickt war.
"Wenn du das so sagst, hört es sich an, als könnten wir uns am Besten
gleich alle einbuddeln..."
~*~
In der ersten Doppelstunde hatten sie Biologie. Heute sollten mithilfe englischsprachiger Fachliteratur die Knochen der Huans als Mensch und als verwandeltes Tier benannt werden, damit sie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Knochenaufbaus besser kennenlernten. Danach hatten sie Frau Wood, die sie in 'Schönschrift' unterrichtete. Darin lernte Nia, wie man Gegenstände nur mithilfe ihres Willens bewegte. Die geeignetste Übung bestand darin, Texte ohne die Zuhilfenahme von Händen zu schreiben. So ganz war Nia der Sinn der Sache nicht klar, aber scheinbar konnte einem diese Fähigkeit im Kampf gute Dienste leisten.
Im Anschluss hatten sie wieder Kriegskunst. Zur Sicherheit hatte Nia die nächsten beiden Kapitel bereits auswendig gelernt. Eigentlich erschreckend, dass sie so fleißig war, obwohl sie nicht die Absicht verfolgte, auf dieser Schule zu bleiben. Auch Schlüsselkunde stand heute auf dem Plan.
Am Spätnachmittag sollte es ein kleines Turnier geben, damit sie ihr neuerworbenes Wissen spielerisch ausprobieren konnten. Bisher hatte Nia nur einen Stempel in ihrem Stempelbuch bekommen... Das war zwar ein kleiner Erfolg und der erste Schritt in die richtige Richtung, aber wenn sie sich mit Lais verglich, wurde sie ganz deprimiert. Lais
hatte aber auch das ständige Glück, herausgefordert zu werden. Binnen Sekunden waren diese Gefechte allerdings dann auch vorbei. Nia konnte sich nicht daran erinnern, Lais jemals mit ihren Huans kämpfen gesehen zu haben. Sie war einfach allen überlegen und Nia vibrierte jedes Mal vor Aufregung, wenn sie einem ihrer Kämpfe beiwohnen konnte. Wie gern wäre sie auch so cool wie sie!
~*~
Etwas irritiert lief sie zu ihrem Mitschüler und tippte ihn an. Erschrocken drehte sich der Junge um. Interessiert blickte er in Nias hübsches Gesicht mit ihren meerblauen Augen, die von schwarzen, seidenen Haaren umrahmt waren. Zum Joggen trug sie immer einen Zopf, damit ihre Mähne nicht überall hängen bleiben konnte. Als er sein Heft erkannte, huschte ein breites Lächeln über sein Gesicht. Es war eines von jener Sorte, bei dem nicht nur der Mund, sondern auch die Augen lächelten. Kleine Fältchen bildeten sich um seine Augen und er nahm es dankbar entgegen.Wow, der sah ja nett aus! Warum war er ihr nicht schon viel eher aufgefallen?
Na ja, vielleicht weil sie nur Augen für Salvatore und ihre eigenen Probleme hatte, schimpfte sie sich insgeheim selbst. Sie war immer wieder erstaunt, wer alles in ihrer Klasse war. Man könnte sie auch einfach als extrem unaufmerksam bezeichnen, aber das war eigentlich noch zu nett.
Nia gab sich einen Ruck. "Ich heiße Nia Toshiki! Und du?"
Die Antwort sollte sie niemals erfahren, denn in diesem Moment hörte sie ein Donnergrollen. Irritiert blickte sie zum Himmel. Die Sonne schien und auch sonst war keine einzige Wolke zu sehen.
Woher kam dieses Geräusch?
Plötzlich ertönte ein Pfeifen direkt über ihr. Nia wusste nicht, was geschah. Eine Bombe explodierte.
Die unsichtbare Glaskuppel, welche die Schule umgab, wies Risse auf. Binnen Sekunden erstreckten sich die Risse über mehrere Meter.
Was...?!
Dann fiel die zweite Bombe. Gerade noch rechtzeitig konnte sich Nia unter einen Baum hechten. Ein Meer aus Splittern prasselte herunter und funkelte im Sonnenlicht. Es klirrte und knirschte. Der Geruch von geschmolzenem Glas stieg ihr in die Nase. Etliche Schülerinnen und Schüler starrten ebenso ungläubig wie Nia gen Himmel.
Schließlich fiel eine dritte Bombe.
Die Druckwelle schleuderte sie mehrere Meter weg. Bäume knickten zur Seite. Die Mauern des Schulgebäudes wurden eingedrückt. Feuer. Feuer auf dem Schulhof. Feuer im Schulgarten.
Und Schreie. Rufe nach Sanitätern.
Was... was war geschehen...?
Nia hatte sich am Kopf gestoßen. Ihre Lippe war aufgeplatzt und ihr war schwindelig. Auf beiden Ohren war sie taub. Benommen rappelte sie sich auf. Alles schmerzte. Sie hustete, um den aufgewirbelten Staub aus ihrer Lunge zu bekommen.
Inmitten des Chaos flog ein Helikopter über der Bruchstelle der Schutzglocke. Eine schwarze Leiter wurde heruntergelassen.
Die Schülerin traute ihren Augen nicht.
Es war der Irre aus dem Wald.
Niemals würde Nia diese Erscheinung vergessen. Ein fein geschnittenes Gesicht mit einem Dreitagebart, etwas längeren, braunen Haaren und stahlblauen Augen. Er war derjenige, den sie völlig unvermittelt im Wald getroffen hatte, als sie auf der Suche nach der Erselik-Schule war.
"Verzeihung, dass ich so hereinplatze.", sagte er und lachte leise über seinen eigenen Witz. "Aber ich bin müßig zu warten. Darum habe ich die Sache in die Hand genommen..."
"Emotional unstabile Zicke.", kommentierte Akuma und schnappte sich seine halbleere Chipstüte. Gerade als Isaac das mit einem schlauen, altbackenen Spruch quittieren wollte, hörten beide ein steinerweichendes Schluchzen aus dem Zimmer ihres Rulers. Akuma runzelte die Stirn und kraxelte vom Boden auf die Couch, um besser hören zu können. "Heult die etwa?", fragte er völlig fassungslos. Isaac schenkte ihm nur ein kleines, verzweifeltes Lächeln. "Nach allem, was heute vorgefallen ist, ist das doch nicht verwunderlich, oder?"
Wutentbrannt und kurzentschlossen warf der temperamentvolle Huan dem Klugschwätzer seine hießgeliebten Chips zu und stampfte in Richtung Zimmer. Mit einem Knall öffnete er es. Auf dem Bett erblickte er eine halb entkleidete, weinende Tonia.
"Hör auf zu flennen!", fauchte er und packte sie unsanft an den Schultern. Ihr verschrecktes Gesicht nahm binnen Sekunden den Ausdruck eines mordlustigen Tigers an.
"Halt's Maul, Akuma! Keiner hat dich nach deiner Meinung gefragt!", keifte sie zurück. "Ich kann so viel und so lange weinen wie ich möchte, da brauche ich deine beschissene Erlaubnis nicht!"
"Aber keiner will das hören! Kauf dir Schalldämpfer oder mach dein Zimmer schalldicht, wenn es denn unbedingt sein muss! Was gibt es denn überhaupt zu heulen?! Ist doch alles in Butter!"
"In Butter? In? Butter?!" Tonias Stimme wurde mit jeder Silbe schriller. Wütend schüttelte Akuma sie, damit das ganze endlich ein Ende hatte. Tonia konterte die Attacken mit Schlägen ihrer ausgezogenen Bluse.
Isaac linste vorsichtig um die Ecke ins Zimmer. Zum Glück sah außer ihnen niemand, dass gerade ein junger, wilder Kerl bei einem weinenden, nur noch in BH und Rock bekleideten Mädchen auf dem Bett war und sich diese wild anschrien. Es gab Dinge, die sollten und durften einfach nicht nach außen dringen. Pietätsvoll schloss er die Tür, um die beiden Streithähne allein zu lassen. Inzwischen hatte er ein Gespür dafür entwickelt, dass sich die beiden zwar bis aufs Blut stritten und handgreiflich werden konnten, sich allerdings niemals ernsthaft verletzen würden.
"Ich will endlich Tanja wiedersehen!", schniefte Tonia und wischte sich wütend eine herunterkullernde Träne aus dem Gesicht. "Und ich will, dass Anita nicht mehr so depressiv und schweigsam ist und sich in ihr Schneckenhaus verkriecht!" Ein weiterer Schluchzer drang aus ihrer Kehle. "Und... und... und ich will ungeschehen machen, dass sich Salvatore für mich in Gefahr begeben hat und dabei so schwer verletzt wurde!"
Das Mädchen zitterte am ganzen Körper. Empörte, auf sich selbst wütende Grimassen wechselten mit steinerweichenden, verletzlichen Gesichtsausdrücken im Sekundentakt. Akuma wusste nicht so recht, was er tun sollte. Deshalb schüttelte er sie erneut.
"Wer hätte gedacht, dass die große Tonia so schwach ist?"
"Warum ist man schwach, wenn man weint? Ich stehe zu meinen Gefühlen, ob Freude oder Trauer! Und gerade ist mir einfach zum Heulen zumute, auch wenn du der letzte Mensch auf Erden bist, der das hätte sehen sollen!" Akuma schürzte die Lippen und tat so, als hätte er den letzten beißenden Kommentar nicht gehört.
"Rumjammern und weinen bringt einen überhaupt nicht weiter! Arbeiten wir nicht alle hart, damit du endlich Tanja wiedersehen kannst? Erwartest du ernsthaft nach so kurzer Zeit vorzeigbare Ergebnisse? Wenn du so stark bist wie du sagst, dann zeig etwas mehr Ausdauer und Geduld! Du hast es sogar geschafft, dich mit deinem Mobbingopfer Nummer eins zu verbünden: Nia Toshiki!" Rumpelte er vor sich hin und fügte garstig hinzu: "Außerdem bin ich mir todessicher, dass du seit geraumer Zeit nicht mehr mit Anita gesprochen hast. Ich wette, dass sie sich einfach vernachlässigt fühlt von ihrer arroganten, eingebildeten und selbstverliebten Freundin!"
Tonia schnaubte, erwiderte allerdings nichts auf diese Anschuldigung. Ehrlich gesagt hatte Akuma recht... In letzter Zeit hatte sie alles um sich herum ignoriert und sich abgekapselt, um sich selbst zu schützen. Dabei hatte die enge Freundschaft zwischen ihr und Anita arg gelitten... Vielleicht trug sie sogar eine Teilschuld daran, dass Anita so deprimiert und traurig war?
"Und was diesen eingebildeten Lackaffen angeht...", begann Akuma und Tonia schnitt ihm das Wort ab: "Salvatore Zefalus heißt er!"
"Er kann von mir aus der Papst von China sein!"
"Es gibt keine Päpste in China, verdammt noch Mal! Das heißt Kaiser von China!"
Akuma verdrehte die Augen und atmete schwer. Färbte Isaac jetzt schon auf seinen Ruler ab? Sie war so auch schon anstrengend genug!
"Was deinen ach so vergötterten Salvatore angeht... Der creept mich total weg."
Tonia blinzelte verdutzt. "Was tut er?"
"Er... der macht mir total Schiss, ehrlich! Dieses aufgesetzte Dauerlächeln und man spürt genau, dass er die Fäden hinter vielen Dingen zieht... Woah, das kommt mir das kalte Grausen! Es kommt mir vor, als ob alles, was er tut, aus purer, eiskalter Berechnung geschieht..."
"Hör sofort auf mit diesen wilden, grundlosen Anschuldigungen!", fuhr sie dazwischen und in ihren Augen loderten Flammen. Akuma schnaubte. "Was ich damit sagen wollte... So Jemand stirbt nicht so einfach. Und deshalb solltest du jetzt auch ruhig schlafen."
Wütend starrte Tonia einen Fleck auf ihrer Bettdecke an. Eine einsame Träne kullerte über ihre Wangen. Es war keine Träne der Trauer, sondern eine Träne des Zorns. Niemals hätte sie von so einem Idioten wie Akuma getröstet werden wollen!
"Ich hasse dich. Verpiss dich aus meinem Zimmer und schließ gefälligst die blöde Tür.", nuschelte sie hasserfüllt.
"Wie sie wünschen, meine Prinzessin. Geruhen Sie wohl.", antworte Akuma und entfernte sich in ritterlicher Marnier und mit einer tiefen Verbeugung. Alles triefte nur vor Zynismus. Auf der Türschwelle blieb er stehen, streckte die Zunge raus und zeigte ihr den Mittelfinger.
"So sehr kannst du mich gar nicht hassen, wenn ich immerhin 40 schwarze Kugeln an meinem Armband habe!"
Die Tür war geschlossen, bevor ihn die anfliegende Bluse erwischen konnte.
Ein leiser Applaus erwartete ihn draußen. Isaacs Augen funkelten vor Begeisterung.
"Wow, wer in aller Welt hätte gedacht, dass du so gut trösten kannst? Ich bin immer wieder von deinen verborgenen Fähigkeiten erstaunt, Akuma Schmied!", sagte Isaac mit echter Verblüffung in der Stimme.
"Nein. Ich hasse es nur, wenn Jemand weint und allein gelassen wird. Das ist das Schlimmste, was einem passieren kann..."
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Seit der Abschlussprüfung hatte sich Nia nicht mehr so elend gefühlt. Ihr Körper war völlig ausgelaugt vom Weinen gewesen. Dafür war sie in einen langen, traumlosen Schlaf gefallen. Erst am Morgen danach kamen die Erinnerungen wieder. Die Suche nach einem Ausweg aus der Schule... Die Zweckgemeinschaft mit Tonia... Und dann... Vorsichtig berührte sie ihr Ohr. Wie zu erwarten war der Ohrring immer noch da. Jener unheilvolle Schlüssel
"Salvatore...", wisperte sie und umklammerte ihre Knie.
"Hat Jemand meinen Namen gerufen?", ertönte es aus dem Türrahmen und das Mädchen purzelte vor Überraschung fast aus dem Bett. Hektisch strich sie sich die abstehenden Haarsträhnen glatt.
"Niemand interessiert sich für deine fettigen Haare.", kommentierte Cedric, der mit einer Tasse Kaba hinter ihrem Schwarm stand. Nia zog eine empörte Schnute.
"Du warst wohl etwas zu lang mit Akuma zusammen!", entgegnete Nia und schwang sich aus dem Bett.
"Wir wollen mit dir etwas Besprechen.", begann Salvatore und schnappte sich die Tasse seines Mitbewohners, um einen großen Schluck zu nehmen. Danach gab er sie elegant zurück, als wäre nie etwas gewesen. Cedric dagegen starrte so ungläubig drein, dass er aus Reflex sofort den Inhalt in den nächsten Blumentopf entleerte.
Ernst blickte Nia ihrem Schwarm ins Gesicht, als hätte sie die Interaktion ihrer Huans soeben nicht mitbekommen. Plötzlich fiel ihr etwas auf.
"Salvatore! Du...", sie deutete mit zitternder Hand darauf, "Hast auch einen Schlüssel-Ohrring?!"
Für einen Moment wich Salvatores Lächeln einem ernsten Ausdruck. "Oh. Ja. Der. Nennen wir es Partnerlook?"
Entschlossen schüttelte sie den Kopf. "Dieser Schlüssel ist eine Strafe! Was hast du für eine bekommen? Mein Schlüssel bewirkt, dass ihr für euch drei Kämpfe nicht mit eurem Stoff heilen könnt..."
Ein seltsamer, nicht deutbarer Ausdruck huschte über Salvatores Gesicht. "Ich kann mich für die nächsten drei Kämpfe nicht in einen Weißkopfseeadler verwandeln."
Nachdenklich schauten alle Drei zu Boden. Das würde ihre ohnehin schon schmalen Gewinnchancen in Kämpfen noch weiter schmälern... Außerdem war Nia nicht sonderlich erpicht darauf, mit Cedric zu kämpfen. Aber sie hatte wohl keine andere Wahl!
"Wir wollten mit dir über einen möglichen Ausweg sprechen.", setzte Cedric schließlich an und wurde rot, als Nias meerblaue Augen auf ihn gerichtet waren. Ihre Umarmung gestern hatte ihn noch viele schlaflose Stunden gekostet. Noch nie zuvor war sie so liebenswürdig zu ihm gewesen... Zwar hatte er es sich oftmals ersehnt, aber es war so völlig unerwartet gekommen...! Sein Hals war ganz trocken, als er weitersprach.
Salvatore verdrehte die Augen, als er Cedric beobachtete. Verliebter Narr! Sich von solchen Gefühlen leiten zu lassen führte zu nichts!
~*~
Unbeholfen und nervös knete Lorcan an seinem Haarband. Er war extra früher aufgestanden, um es für ein paar ruhige Minuten tragen zu können. Ganz ohne Aufsehen. Ganz ohne Fragen. Er schämte sich in Grund und Boden dafür, dass er vor allen Anderen gesagt hatte, dass er sich bei Katja bedanken wollte. Zwar war absolut nichts verwerfliches daran, aber es war ihm unangenehm, darüber zu sprechen. Niemals zuvor hatte er diesen Namen bei Lais aufgebracht. Er war wahrlich mit einem wundervollen Ruler gesegnet, der ihn so akzeptierte, verstand und keine unangenehmen Fragen stellte. Und je länger er darüber grübelte, desto sicherer war er, dass die anderen Anwesenden der vergangenen Nacht seinen Worten keinerlei Beachtung geschenkt hatten. Nicht einmal Nia Toshiki, die beste Freundin von Katja Müller, war hellhörig geworden. Glück im Unglück!
Er wollte Katja wiedersehen. Er wollte sich bei ihr bedanken. Und noch viel mehr wollte er ihre Stimme wiederhören. Und ihr glockenklares, unbeschwertes Lachen vernehmen! Oder einfach einem ihrer großartigen, emotionalen Konzerte lauschen. Ob sie wusste, dass er fast alle ihre Konzerte besucht hatte?
Was sie jetzt wohl gerade machte? Suchte sie ihre beste Freundin Nia ebenso wie Nia Katja suchte? Die Zwei waren unzertrennlich gewesen. Die Gefühle mussten sie noch viel mehr zermartern als ihn!
In diesem Moment kam Lais ins Bad gestolpert. Morgens hatte sie nahezu keinen Puls und brachte kein Wort über die Lippen. Mit stumpfem Ausdruck musterte sie Lorcan. Ein kurzes, unfreundliches wirkendes Kopfnicken war das alltägliche "Guten Morgen" ihrerseits. Sobald sie sich umgedreht hatte, riss sich Lorcan das Haarband herunter. Sicher war sicher!
~*~
Es war viel zu lange her, als Nia das letzte Mal joggen gegangen war. Nachdem "ihre Jungs" Nia ihren Plan unterbreitet hatten, musste sie sich körperlich betätigen. Nichts tat so gut wie laufen...! Es machte den Kopf frei von allen Sorgen und ließ sie danach viel klarer denken.
Wer hätte gedacht, dass sich Salvatore und Cedric zusammenschließen würden?
Cedric war der Meister der Schlüssel. Niemand konnte so gut fühlen, welche Wirkung ein Schlüsselteil oder eine Kombination hatte. Salvatores Stärke lag darin, Leute zu betören. Fusionierte man beide Fähigkeiten miteinander, so wäre es ein Leichtes, an viele verschiedene Schlüsselteile heranzukommen und diese auf ihre Tauglichkeit zu testen! Zwar handelte es sich hierbei um keinen ausgefeilten Meisterplan, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung. Außerdem hatte sich Nia mit Tonia verbündet. Und niemand wusste besser, was Tonia alles in die Wege leiten konnte, wenn sie erst einmal ihre Energie in etwas steckte. Ganz sicher würde ihr eine plausible Story einfallen, mit der Salvatore möglichst alle Schlüssel und Schlüsselteile untersuchen konnte! Viel mehr Auswegsmöglichkeiten hatten sie ja auch nicht...
Während des Gesprächs hatte Nia etwas Anderes angemerkt.
"Als wir unsere Strafschlüssel bekommen haben...", fing sie an und deutete auf ihre Ohrringe, "Da hat Frau Wood aber gar keinen eigenen Schlüssel zusammengebaut sondern hat einen ausgewählt und ihn... verzaubert." Nia überlegte. "Ja, verzaubert ist das beste Wort, das mir dafür einfällt. Ihr Mund hat sich wortlos bewegt und plötzlich konnte man einen Windhauch spüren, obwohl alle Türen und Fenster geschlossen waren. Wie lässt sich das erklären? Ist es möglich, dass man eine Kraft IN einen Schlüssel pumpt?"
Cedric schüttelte den Kopf. "An Frau Woods Schlüsselbund waren Schlüssel für verschiedene Strafen. Sobald sie einen auswählt, muss sie ihn auf Jemanden prägen. Schließlich ist es deine Strafe gewesen und es wäre nutzlos, wenn du den Ohrring einfach abnehmen und einem Anderen verpassen könntest, nicht wahr? Dieses "Verzaubern" wie du es nennst ist nichts weiter als dass sie den Schlüssel und die damit verbundene Strafe dir zuordnet." Schloss er seine Erklärung. Nia schaute bedröppelt.
"Es wäre so praktisch, wenn es auch umgekehrt gehen würde! Also dass man keine vorhandenen Fähigkeiten eines Schlüssels zusammenpuzzeln muss, sondern dass man aus eigener Kraft einem Schlüssel eine bestimmte Wirkung verleiht..."
Der Ausdruck im Gesicht des Eisbärenhuan wirkte mit einem Mal sehr verbittert. Er verschränkte die Arme. "Vielleicht kannst du ja diese Technik erfinden und mir dann beibringen!", forderte er sie zynisch heraus.
Nia kräuselte die Lippen, als sie daran dachte. Immer diese Seitenhiebe von ihm! Musste das denn sein? Er machte sich damit nicht gerade beliebt! Dennoch wurde sie gelegentlich das Gefühl nicht los, dass Cedric sie gar nicht so sehr hasste, wie er immer tat. Bei der Umarmung vergangene Nacht war er richtig zusammengezuckt. Seine kohlrabenschwarzen Augen waren ganz weich geworden, wenn sie das bei dem Tränenschleier richtig erkannt hatte. Irgendetwas verbarg Cedric... Oder vielleicht war es auch schlicht und ergreifend sein Charakter, einen auf harte Schale, weicher Kern zu machen? Sie beschlich das Gefühl, dass sie mit ihren Gedanken auf keinen grünen Zweig kommen würde.
Sie wurde aus ihren Grübeleien herausgeholt, als sie sah, wie einem Mitschüler ein Heft aus der Tasche fiel. Ohne zu zögern joggte sie hin und hob es auf. "Hey warte, du hast was verloren!", sagte sie zu ihm. Keine Reaktion. Unbeirrt ging er weiter. Hatte er sie etwa nicht gehört? Nia hatte ja nicht die lauteste und selbstbewussteste Stimme, auch wenn sie sich in letzter Zeit Mühe gab, an sich selbst zu arbeiten. Bisher war sie auch davon überzeugt, dass ihre Arbeit erste Früchte trug. Wer sonst würde sich trauen, sich mit seiner ehemaligen Mobberin zusammenzuschließen? Auch wenn ihr zugegebenermaßen immer noch die Knie schlotterten und sich ein Kloß in ihrem Hals bildete, wenn sie Tonias vernichtendem Blick schutzlos ausgeliefert war. Diese Zweckgemeinschaft war für Beide von Vorteil, aber dennoch hatte Nia immer noch Angst vor der Macht, die Tonia einmal innehatte.
Neugierig linste sie auf den makellosen Umschlag. Ganz anders als Nia kritzelte der Schüler nichts darauf. Vielleicht war sie alt genug, sich diese dumme Verhalten endlich abzugewöhnen.
"Erm... Fuad Thelen, warte!", rief sie. Er hatte sich schon ein gutes Stück entfernt.
Noch immer keine Reaktion.
~*~
Cedric streifte durch die Gänge des Schulgebäudes. Es war kurz vor Unterrichtsbeginn, doch er suchte Jemand bestimmten. Ausnahmsweise handelte es sich dabei nicht um Nia, bei der er ohnehin ohne Unterlass war. Wenn er in ihrer Nähe war, bildete er sich zumindest ein, er könne sie vor allem und jedem beschützen... Auch wenn er wusste, dass er selbst eine große Gefahr darstellte.
Endlich hatte er sie gefunden.
"Tonia Dierl.", sprach er mit einem unmissverständlich bedrohlichen Unterton. Sie stand mit dem Rücken an der Wand und hatte ein Heft in der Hand, das sie angestrengt studierte.
"Wow, du hörst dich in der Früh noch miesepetriger an als sonst schon, Mr. Eisberg.", antwortete die Schülerin ohne von ihren Biologienotizen aufzusehen. Es bestand die Möglichkeit, dass sie heute ausgefragt werden könnte. Und vorbeugen war ja bekanntlich besser als heilen.
Cedric schlug wütend mit der Faust gegen die Wand. Er war Tonia gefährlich nahe, doch sie sah nur langsam auf. Provozierned langsam.
"Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Ich werde es dir nur ein einziges Mal sagen.", knurrte der blonde Hüne, der sich bedrohlich vor ihr aufbaute. "Ich weiß nicht, was du oder einer deiner verkorksten Huans mit Nia gemacht haben, dass sie plötzlich mit euch zusammenarbeitet..."
"Ich sage dir das auch nur ein einziges Mal: Der Vorschlag kam nicht von m-"
"Wenn ich spreche schweigst du, sonst werde ich ungemütlich.", schnitt ihr der junge Mann das Wort ab. Sein Blick wirkte unbarmherzig, bedrohlich und kalt. Tonia ließ sich davon wenig beeindrucken und starrte ebenso feindselig zurück.
"Was auch immer Nia dazu geritten hat, ausgerechnet mit dir zusammenzuarbeiten... Ich bin nicht so großmütig und vergesse, was du Nia alles angetan hast."
Die Mobbereien im Gang. Die verschwundene Brotzeitbox. Das Gekicher. Der Kaugummi in Nias Haaren. Der Stuhl, der Nias Mittelhandknochen hätte brechen können. Und der brutale Überfall auf der Mädchentoilette, als man Nia blutig geschlagen hatte und ihr die Haare hatte abschneiden wollen. Wäre Cedric damals nicht dazwischen gegangen...
Galant schloss Tonia ihr Heft.
"Ich wäre auch bitter enttäuscht, wenn all diese inszenierten 'Unfälle' so einfach in Vergessenheit geraten würden. Dafür waren sie zu anstrengend zu organisieren." Mit einer eleganten Bewegung steckte sie das Heft in die Schultasche und befreite sich aus Cedrics bedrohlicher Position. Mit einem Blick über die Schulter und einem zynischen Lächeln kommentierte sie:
"Das nächste Mal wäre es allerdings schöner, wenn das Opfer selbst sprechen würde. So ganz ohne Vormund."
~*~
Mit geübten Handgriffen spreizte er die Augenlider auseinander. Wie sehr er das hasste! Aber lieber nahm er sich trocken anfühlende Augen in kauf, als dass ihn unentwegt Menschen nach seinen verschiedenen Augenfarben ausfragten.
Salvatore hatte gestern versucht, aus der Schule auszubrechen... Miguel kannte seinen besten Freund gut genug um zu wissen, dass er das für Nia Toshiki getan hatte. Und Nia hatte nur einen einzigen Grund, die Schule verlassen zu wollen: Katja Müller.
Zum dritten Mal fiel ihm die Kontaktlinse vom feuchten Finger. Verflucht!
Katja...
Auch Miguel ging es nicht anders. Es war viel zu lange her, als er das letzte Mal mit Katja geredet oder sie gesehen hatte... Auch wenn er immer ins Stocken und Stottern geriet, wenn sie sich unterhielten. Ausgerechnet er, der doch sonst nicht auf den Mund gefallen war! Außerdem kannten sich die Beiden nicht erst seit gestern und trotzdem fühlte er sich wie ein kleines Kind, wenn er ihr gegenüber stand. Ihre Präsenz und Ausstrahlung waren einfach überirdisch. Ein Lächeln von ihr wirkte so erfrischend und befreiend...!
"Bist du bald fertig im Bad oder kann ich schon reinkommen um mir die Zähne zu putzen?", fragte Frau Wood, die genervt an der Tür klopfte.
"Komm ruhig rein Eunice, ich muss nur noch die blöden Kontaktlinsen in meine Augen stopfen."
Für Miguel war es überhaupt nicht befremdlich, mit Eunice Wood ein Apartment zu teilen. Sie kannten sich schon einige Jahre und das relativ gut.
"Ich hab kaum ein Auge zugetan.", knurrte sie, während sie sich erzürnt die Zahnpasta auf die Bürste drückte. Sie war einer der Leute, die die Tube in der Mitte zusammenquetschten, statt am Ende damit anzufangen. Ganz sicher war in der Hölle ein spezieller Platz für Menschen wie sie.
"Wenn heute auch nur ein Schüler nicht spurt, werde ich ihm oder ihr die Gedärme aus dem Arsch reißen." Dabei fuhr sie sich durch die offenen, noch zerstrubbelten Haare. Wie jung sie wirkte, wenn sie keinen Dutt trug! Allerdings war es auch irritierend, weil sie damit nicht mehr so streng aussah wie sie eigentlich war.
Gelassen träufelte Miguel etwas Kontaktlinsenflüssigkeit auf die Linse. "Also ist alles beim Alten."
~*~
Auf leisen Sohlen schlich er in ihr Zimmer. Er traute sich fast nicht zu atmen, obwohl er sah, dass sie tief und fest schlummerte. Mit einem diabolischen Grinsen riss er unvermittelt die Vorhänge auf. Helle Sonnenstrahlen fielen auf ihr Gesicht.
"Aufstehen!!! Es ist kurz vor acht Uhr, du hast verschlafen!", trällerte Franz Kilcher und erntete dafür einen müden Todesblick seines Rulers. Ohne zu zögern zog Anita sich die Bettdecke über den Kopf.
"Hey, so haben wir nicht gewettet!", meinte er und stemmte die Hände in die Hüfte. "Komm, meine Kleine! Du kannst nicht ewig in der Schule fehlen."
"Ich bin nicht klein."
"Nunja, es lässt sich drüber streiten, ob 1,55 Meter groß oder klein sind...", pflichtete Franz ihr bei und krallte sich die Bettdecke. Eigentlich wollte er sie geschickt seinem Ruler entreißen, aber er hatte eine Rechnung ohne einen Morgenmuffel gemacht. Die Decke bewegte sich keinen Zentimeter, obwohl er mit aller Kraft daran zog.
Erschöpft setzte er sich neben ihr Bett. Einige Minuten sprach keiner ein Wort. Die moderne Wanduhr tickte laut und von weit draußen hörte man die Schulglocke sanft läuten.
"Du kommst zu spät zum Unterricht.", brach Anita schließlich das Schweigen.
"Du auch.", konterte Franz und rückte sein Bandana zurecht. "Ich werde hier nicht eher weggehen, bis du ins Klassenzimmer gehst."
"Dann wirst du hier versauern." Ihre Stimme war bar jeglicher Emotion.
Ratlos kratzte er sich am Kopf. "Das klingt so, als wäre alles sinn- und zwecklos..."
Zuerst reagierte sie nicht. Ihre Stimme klang so, als müsste sie Tränen zurückhalten. "Ist es auch."
Sanft und behutsam streichelte er über die Decke. Noch immer hatte sich Anita von Kopf bis Fuß darin eingewickelt. Es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht schon erstickt war.
"Wenn du das so sagst, hört es sich an, als könnten wir uns am Besten
gleich alle einbuddeln..."
~*~
In der ersten Doppelstunde hatten sie Biologie. Heute sollten mithilfe englischsprachiger Fachliteratur die Knochen der Huans als Mensch und als verwandeltes Tier benannt werden, damit sie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Knochenaufbaus besser kennenlernten. Danach hatten sie Frau Wood, die sie in 'Schönschrift' unterrichtete. Darin lernte Nia, wie man Gegenstände nur mithilfe ihres Willens bewegte. Die geeignetste Übung bestand darin, Texte ohne die Zuhilfenahme von Händen zu schreiben. So ganz war Nia der Sinn der Sache nicht klar, aber scheinbar konnte einem diese Fähigkeit im Kampf gute Dienste leisten.
Im Anschluss hatten sie wieder Kriegskunst. Zur Sicherheit hatte Nia die nächsten beiden Kapitel bereits auswendig gelernt. Eigentlich erschreckend, dass sie so fleißig war, obwohl sie nicht die Absicht verfolgte, auf dieser Schule zu bleiben. Auch Schlüsselkunde stand heute auf dem Plan.
Am Spätnachmittag sollte es ein kleines Turnier geben, damit sie ihr neuerworbenes Wissen spielerisch ausprobieren konnten. Bisher hatte Nia nur einen Stempel in ihrem Stempelbuch bekommen... Das war zwar ein kleiner Erfolg und der erste Schritt in die richtige Richtung, aber wenn sie sich mit Lais verglich, wurde sie ganz deprimiert. Lais
hatte aber auch das ständige Glück, herausgefordert zu werden. Binnen Sekunden waren diese Gefechte allerdings dann auch vorbei. Nia konnte sich nicht daran erinnern, Lais jemals mit ihren Huans kämpfen gesehen zu haben. Sie war einfach allen überlegen und Nia vibrierte jedes Mal vor Aufregung, wenn sie einem ihrer Kämpfe beiwohnen konnte. Wie gern wäre sie auch so cool wie sie!
~*~
Etwas irritiert lief sie zu ihrem Mitschüler und tippte ihn an. Erschrocken drehte sich der Junge um. Interessiert blickte er in Nias hübsches Gesicht mit ihren meerblauen Augen, die von schwarzen, seidenen Haaren umrahmt waren. Zum Joggen trug sie immer einen Zopf, damit ihre Mähne nicht überall hängen bleiben konnte. Als er sein Heft erkannte, huschte ein breites Lächeln über sein Gesicht. Es war eines von jener Sorte, bei dem nicht nur der Mund, sondern auch die Augen lächelten. Kleine Fältchen bildeten sich um seine Augen und er nahm es dankbar entgegen.Wow, der sah ja nett aus! Warum war er ihr nicht schon viel eher aufgefallen?
Na ja, vielleicht weil sie nur Augen für Salvatore und ihre eigenen Probleme hatte, schimpfte sie sich insgeheim selbst. Sie war immer wieder erstaunt, wer alles in ihrer Klasse war. Man könnte sie auch einfach als extrem unaufmerksam bezeichnen, aber das war eigentlich noch zu nett.
Nia gab sich einen Ruck. "Ich heiße Nia Toshiki! Und du?"
Die Antwort sollte sie niemals erfahren, denn in diesem Moment hörte sie ein Donnergrollen. Irritiert blickte sie zum Himmel. Die Sonne schien und auch sonst war keine einzige Wolke zu sehen.
Woher kam dieses Geräusch?
Plötzlich ertönte ein Pfeifen direkt über ihr. Nia wusste nicht, was geschah. Eine Bombe explodierte.
Die unsichtbare Glaskuppel, welche die Schule umgab, wies Risse auf. Binnen Sekunden erstreckten sich die Risse über mehrere Meter.
Was...?!
Dann fiel die zweite Bombe. Gerade noch rechtzeitig konnte sich Nia unter einen Baum hechten. Ein Meer aus Splittern prasselte herunter und funkelte im Sonnenlicht. Es klirrte und knirschte. Der Geruch von geschmolzenem Glas stieg ihr in die Nase. Etliche Schülerinnen und Schüler starrten ebenso ungläubig wie Nia gen Himmel.
Schließlich fiel eine dritte Bombe.
Die Druckwelle schleuderte sie mehrere Meter weg. Bäume knickten zur Seite. Die Mauern des Schulgebäudes wurden eingedrückt. Feuer. Feuer auf dem Schulhof. Feuer im Schulgarten.
Und Schreie. Rufe nach Sanitätern.
Was... was war geschehen...?
Nia hatte sich am Kopf gestoßen. Ihre Lippe war aufgeplatzt und ihr war schwindelig. Auf beiden Ohren war sie taub. Benommen rappelte sie sich auf. Alles schmerzte. Sie hustete, um den aufgewirbelten Staub aus ihrer Lunge zu bekommen.
Inmitten des Chaos flog ein Helikopter über der Bruchstelle der Schutzglocke. Eine schwarze Leiter wurde heruntergelassen.
Die Schülerin traute ihren Augen nicht.
Es war der Irre aus dem Wald.
Niemals würde Nia diese Erscheinung vergessen. Ein fein geschnittenes Gesicht mit einem Dreitagebart, etwas längeren, braunen Haaren und stahlblauen Augen. Er war derjenige, den sie völlig unvermittelt im Wald getroffen hatte, als sie auf der Suche nach der Erselik-Schule war.
"Verzeihung, dass ich so hereinplatze.", sagte er und lachte leise über seinen eigenen Witz. "Aber ich bin müßig zu warten. Darum habe ich die Sache in die Hand genommen..."