Kapitel 14: You belong to Me
Die Sonne fiel durch das Fenster. Der lange Schatten von Miguel wirkte furchteinflößend, während ein hämisches Lächeln seine Mundwinkel nach oben krümmte.
"Eine solch simple Frage beschäftigt dich Tag und Nacht, während du mit dem Huan aller Huans ein Zimmer teilst? Ich fühle mich aufrichtig geehrt."
"Was willst du damit sagen mit 'dem Huan aller Huans'?", hakte Nia nach. Ihr Herz klopfte aus unerfindlichen Gründen bis zum Hals und ihre Nackenhaare sträubten sich. Meinte er Salvatore?
"Das musst du schon selbst herausfinden, meine Holde.", flirtete er mit gespieltem Leichtsinn in der Stimme. "Schließlich gibt es Vertrauen und Geheimnisse nie umsonst... Aber um zu deiner ursprünglichen Frage zurückzukommen: Was glaubst du denn, was ich bin? Ruler oder Huan?"
Grübelnd neigte Nia ihren Kopf zur Seite und verschränkte die Arme. "Wenn ich das wüsste, würde ich dich nicht fragen. Aber deine verspielte, neckende und hyperaktive Art lassen mich auf einen Huan tippen. Du wirkst so selbstsicher und erfahren und dir hat das Gerede um die Huans keine Angst eingeflößt oder dich gar überrascht. Alles was du getan hast, war seelenruhig zu warten und die Zeit abzusitzen. Du hast also davor etwas gewusst – und das kannst du eigentlich nur, wenn du ein Huan bist.", kombinierte sie und schaute ihm dann fest in die Augen.
"Und was ist mit Lais? Sie ist doch auch ein Ruler und wusste trotzdem davor Bescheid, nicht wahr?", konterte Miguel grinsend. Anscheinend hatte er seine helle Freude an diesem Gespräch.
"Lais ist zwar ein Veteran, aber sie scheint eine Ausnahme zu sein. Außerdem gefällt mir der Gedanke, dass du möglicherweise ein Affen-Huan sein könntest. Das würde echt gut zu dir passen.", meinte Nia stocksteif.
Bei diesen Worten prustete Miguel laut los. Schallendes Gelächter füllte den leeren Gang. Aufgeregt schnappte ihr Mitschüler nach Luft und hielt sich den Bauch. Er setzte immer wieder zum Sprechen an, wurde aber erneut von einer Lachsalve unterbrochen. Nervös lachte Nia mit, doch es war ihr sichtlich unangenehm. Miguel wischte sich vereinzelte Lachtränen aus den Augenwinkeln.
"You made my day! Oh du meine Güte, du bist echt der Oberhammer! Ich soll ein Affe sein?...", er konnte nicht weiterreden, weil er wieder kicherte.
"Andererseits", ergänzte Nia langsam, "meinte Frau Wood damals, dass alle Anwesenden außer ihr und Cedric Ruler sind. Wenn diese Aussage stimmt, müsstest du ein Ruler sein..."
Mit einem Schlag wurde der hochgewachsene Mitschüler ernst und schaute ihr direkt in die Augen. Seine Stimme klang erbarmungslos und hart wie Stahl. "Ganz recht. Auch ich bin ein Ruler so wie du. Lais und ich sind die einzigen Ausnahmen an Rulern, die vor dieser Schule von ihrem Schicksal wussten. Überaus bezeichnend, nicht wahr?" Nia erstarrte. Er war ebenfalls ein Ruler? Und er wusste schon davor von den Huans? "Wie ist das möglich?", hauchte das Mädchen atemlos, doch ihr Gegenüber schüttelte stumm den Kopf.
"Meine Hübsche, wenn dir nicht einmal deine Huans alles erzählen, warum sollte ich das tun?"
~*~
Als Nia die Tür zu ihrer unfreiwilligen WG öffnete, saß Cedric noch an seinem angestammten Platz. Von Salvatore war keine Spur zu sehen. Nervös schaute sie sich um, bevor sie letzten Endes den Raum betrat. Ohne aufzusehen bemerkte Cedric sarkastisch. "Keine Sorge, ich beiße nicht, auch wenn der Schönling mal nicht anwesend ist." Nia blähte die Backen. "Salvatore sieht zwar gut aus, aber wenn du das so sagst, wirkt das immer so herablassend!" Desinteressiert schaute er von seinem Smartphone auf. "Na ja, dann habe ich ja mein Ziel erreicht." Es war wirklich zum aus der Haut fahren! Eigentlich war Nia fest entschlossen, sich allmählich mit Cedric anzufreunden, aber der Kotzbrocken machte es ihr wahrlich nicht einfach. Zumindest soweit zu kommen, dass sie ihn nicht ständig anschreien wollen würde, wäre ein großer Schritt nach vorne. Sie rieb sich die Stirn und seufzte. Langsam ließ sie sich in den leeren Sessel fallen. Cedric beobachtete Nia über den Rand seines Smartphones genau und schaute immer weg, wenn das Mädchen ihm Blicke zuwarf. Es dauerte kurz, bis sie sich gesammelt hatte. "Ich habe Lais getroffen und etwas Interessantes in Erfahrung gebracht.", meinte sie tonlos. Cedric reagierte nicht, doch Nia setzte unbeirrt fort. "Sie sprach von einem 'Herzschlüssel', den einer meiner Huans für mich freisetzen kann. Er scheint eine Waffe zu sein, die auch nach mehrmaligem Gebrauch nicht verschwindet. Im Kampf wäre so was echt nützlich für mich!" Keine Reaktion. Nias Wutpegel stieg sichtbar. Ungeduldig tippte sie mit den Fingern auf der Sessellehne herum. Es war nicht erkennbar, ob Cedric ihr überhaupt zugehört hatte oder nicht. Wenn sie wirklich weiterkommen wollte in Sachen "Freundschaft", dann musste sie andere Geschütze auffahren, so viel war sicher. Wie hieß es so schön? Lächle, denn du kannst sie nicht alle töten? Mit einer schnellen Bewegung war sie aufgestanden und lehnte sich über den lässig auf der Couch liegenden Cedric rüber. Einige Haarsträhnen fielen dabei auf seine Brust. Cedrics Augen weiteten sich und er starrte Nia an. "Endlich schenkst du mir mal Beachtung!", lächelte sie und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Er schaute zur Seite. Zwischen seinen weizenblonden Haarsträhnen blitzten hochrote Ohren hervor, doch Nia bemerkte es nicht. "Hab ja scheinbar keine andere Wahl.", knurrte er zwischen leicht zusammengebissenen Zähnen. Nia rümpfte die Nase. "Ich möchte, dass du meinen Herzschlüssel freisetzt, Cedric Urs." In ihrer Stimme schwang ein Unterton mit, der keine weitere Diskussion zuließ. Nia war in dieser 'Welt' gefangen und konnte nicht entkommen, so viel war ihr inzwischen klar geworden. Deshalb wollte sie sich auch auf die Gegebenheiten und Spielregeln hier einlassen – ihre Huans erschwerten durch ihre Arbeitsverweigerung allerdings dieses Vorhaben erheblich. "Warum sollte ich?", erwiderte Cedric dennoch ohne ihr in die Augen zu sehen. "Weil du mein Huan bist und ich nicht länger untätig sein möchte. Ich... ich bin so schwach... Ich habe kein Selbstvertrauen...", ihre Stimme versagte bei diesen Worten. Wie sehr sie sich dafür schämte, doch sie musste es sich eingestehen: Sie war nichts weiter als ein kleines, behütetes Mädchen, welches sich immer auf ihre beste Freundin verlassen hatte. Nun war sie auf sich allein gestellt – oder zumindest fast. Sie hatte zwei Huans, mit denen sie kämpfen sollte. Die bisherigen Gefechte hatten ihr ihre eigene Machtlosigkeit schmerzlich vor Augen geführt. Mit jedem Mal hatte sie sich selbst mehr angewidert. Wie hilflos sie war! Wie ein Säugling, der mit aller Macht beschützt werden wollte! Und mit jedem Mal hatte sie sich mehr gedemütigt gefühlt und ihr geringes Selbstbewusstsein schwand weiter. Wenn sie aus dieser Abwärtsspirale ausbrechen wollte, musste sie etwas unternehmen. Aus eigener Kraft. All dies leuchtete Nia ein, aber dennoch hatte sie Furcht. Es war etwas zutiefst menschliches: Furcht vor dem Unbekannten. Furcht vor Veränderung. Dennoch wollte sie sich ihren Ängsten Stück für Stück stellen. Das Erlangen des Herzschlüssels sollte erst der Anfang werden! Cedric beobachtete gespannt Nias Wechselspiel der Gefühle in ihrem Gesicht. Es schwankte von Angst bis hin zu wilder Entschlossenheit. Man konnte regelrecht sehen, wie Nia sich vor seinen Augen verwandelte. Er selbst wunderte sich, warum er sich so vehement wehrte, ihr zu helfen oder Antworten zu geben, nach denen sie so händeringend suchte. Aber auch er hatte Angst. Angst, die ihn lähmte. Cedric hatte es nicht verhindern können, dass Nia auf diese Schule gebracht worden war. Seit Jahren hatte er diesen Moment gefürchtet und nun war er tatsächlich Realität geworden. Innerlich wollte er Nia einfach nur in einen Tresor sperren und niemanden an sie heranlassen. Er wollte sie mit allen Mitteln schützen, auch wenn sie ihn dafür noch mehr hassen würde. Auch die Kämpfe gegen Anita und Lais hatten seine Befürchtungen bestätigt. Nia war nicht für diese Welt gemacht... Aber anscheinend hatte das Mädchen ihr Schicksal eher akzeptiert als er es tun konnte. Sie wollte lernen, sich zu wehren, anstatt tatenlos zuzusehen. Die Auseinandersetzung mit Lais hatte ihr scheinbar die Augen geöffnet, Nia hatte sich in Bewegung gesetzt und etwas unternommen. Ohne sein Zutun hatte sie etwas über den Herzschlüssel herausfinden können... Zugegeben, das war nicht sonderlich schwer, aber für die sonst so schüchterne Nia eine Leistung. Warum sollte er noch weiter herauszögern, was ohnehin unvermeidlich war? Und wenn er ehrlich war, kribbelten seine Fingerspitzen vor Aufregung, dass er den Herzschlüssel freisetzen durfte und nicht Salvatore Zefalus! Warum sollte er sich solch eine Chance durch die Lappen gehen lassen? Langsam richtete sich der Schüler auf, wobei noch mehr schwarze, seidige Haarsträhnen auf seinen Brustkorb fielen. Er räusperte sich vernehmlich, sodass Nia zurückwich. Verlegen kratzte er sich den Nacken. "Also gut. Lass es uns tun." Innerlich schrie er über diesen zweideutigen Satz auf. Verdammter Mist, konnte er nicht ein ganz normal klingendes Gespräch mit ihr führen? Alles klang entweder ruppig, beleidigend oder zweideutig. Er seufzte über seine eigene soziale Inkompetenz. "Was muss ich machen?", fragte Nia mit vor Aufregung hoher Stimme. So wirklich hatte sie den Satz scheinbar nicht wahrgenommen. Zum Glück. Fast musste Cedric grinsen, da sie so sichtbar nervös war. "Keine Sorge, es ist kein großes Hexenwerk. Stell dich einfach ganz ruhig hin und beweg dich nicht.", dirigierte er sie und Nia tat wie geheißen. Cedric trat so nah an sie heran, dass sie seine Körperwärme spüren konnte. "M-mach keinen Unsinn, Speckkopf!", fauchte sie und wollte schon fast zurückweichen. "Bleib einfach so stehen und rühr dich nicht vom Fleck.", murmelte Cedric mit heiserer Stimme. Nia so nah zu sein war ungewohnt. Seine Haut fühlte sich an wie elektrisiert. Ob es ihr ähnlich ging? "Ich werde jetzt den Herzschlüssel freisetzen.", kündigte er an und zückte einen kleinen, silbernen Schlüssel. Cedric hatte die Augen geschlossen, als sich der Schlüssel auflöste. Das minderte Nias Nervosität nicht gerade. Wozu brauchte man einen Schlüssel, um einen anderen freizusetzen? Was bewirkte der Schlüssel überhaupt? Zunächst geschah nichts. Es herrschte absolute Stille im Zimmer. Nur das leise Surren von Cedrics Smartphone erfüllte den Raum. Anscheinend hatte er gerade eine Nachricht erhalten. Doch da... Ganz leise hörte Nia ein Klopfen. Ein Pochen. Als würde man einen Lautstärkeregler allmählich nach oben drehen, wurde das Geräusch lauter. Es war kein normales Klopfen. Es waren deutlich zu hörende Herzschläge. Nia hatte Gänsehaut. Es war ihr eigener Herzschlag, der so übermäßig und raumerfüllend zu vernehmen war! Irgendwie war das ein unangenehmes, furchteinflößendes Gefühl. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Doch während ihr eigener Herzschlag ihr in den Ohren dröhnte, ertönte ein zweiter. Die Schläge waren langsamer und mächtiger. Sie schluckte. Das war der Puls von Cedric, da war sie ganz sicher. Auf einmal fühlte sie sich geborgen und beschützt. Es kam ihr vor, als würden seine Gefühle auf sie überfließen. Was für ein lächerlicher Gedanke!, schimpfte Nia innerlich. So einen Unsinn überhaupt zu denken war absolut absurd! Wie zur Bestätigung schaute sie ihm grimmig ins Gesicht. Ihre Augen weiteten sich überrascht, als sie Cedrics Blick wahrnahm. Seine sonst so kalten, abweisenden schwarzen Augen wirkten nun so weich... ja, zärtlich. Das war das erste Wort, das ihr dazu einfiel. Einer der lauten Herzschläge wurde schneller. Nia konnte nicht sagen, wessen es war. War es ihr eigener gewesen, der so einen Sprung gemacht hatte? Oder war es der von dem Speckkopf vor ihr? Doch von einem Augenblick zum Anderen wurde sein Ausdruck wieder hart. Er hatte ihre prüfenden Blicke bemerkt. Gerade wollte Nia etwas sagen... Da fing ihr Brustkorb plötzlich an zu leuchten. Sie zuckte zusammen. Gehörte das dazu, den Herzschlüssel zu beschwören? Cedric ging langsam einen Schritt zurück. Mit einem Ruck fasste er ihr zwischen die Brüste, wo das Leuchten am hellsten war. Nia quietschte, doch die Herzschläge übertönten inzwischen alles, als sie von den Wänden widerhallten. Cedrics Hand verschwand im gleißenden Licht. Ruhig, langsam und bedächtig zog er den Arm Stück für Stück zurück. Zwischen seinen Fingern hielt er fest umschlossen einen Schlüssel. Kaum war seine Hand wieder komplett sichtbar, erlosch das Leuchten mit einem Mal. Auch ihre Pulsschläge verstummten. Dröhnende Stille erfüllte den Raum. Obwohl sich Nia nicht vom Fleck bewegt hatte, war ihr Atem beschleunigt und Schweiß rann ihr über die Stirn. Vorsichtig, als wolle er die Kostbarkeit nicht zerbrechen, öffnete Cedric seine Hand. Darin lag ein schwarzer Schlüssel. In seiner Mitte befand sich ein großer, geschliffener blauer Edelstein, der das Licht brach und hellblaue Streifen an die Wand malte. Ein mattschwarzes Zahnrad umschloss seine runde Form perfekt. Zarte Gravuren, die an ein X und ein O erinnerten, verzierten es. Der Stil wirkte wie ein zartes Geflecht verschiedener Pflanzenranken, die links und rechts oben in einer kleinen Blüte und einem Blatt endeten. In der Mitte der Blüte funkelte verheißungsvoll ein Opal in allen Regenbogenfarben. Cedric hatte als erstes seine Stimme wiedergefunden. "Das in der Mitte muss ein Azurit sein..." "Er ist wunderschön...", hauchte Nia ehrfurchtsvoll. Vorsichtig berührte sie den Schlüssel. Er war noch ganz warm. Behutsam drehte sie ihn im Licht. Das Mädchen konnte den Blick gar nicht abwenden. Ein zartes Gefühl von Stolz erfüllte Cedric, als hätte er selbst den Schlüssel kreiert. Dem war natürlich nicht so, aber immerhin hatte er ihn freigesetzt. Nun wandte sich Nia an ihren Huan. "Vielen Dank, dass du mir meinen Herzschlüssel gegeben hast." Ein glückliches, ehrliches Lächeln huschte über ihre Lippen. Ihre meerblauen Augen schienen mit dem Azurit zu harmonieren. Cedric schluckte. "Is' nich' der Rede wert. War ja kein großer Aufwand oder so.", grummelte er und massierte sich den Nacken. "Allerdings", meinte Nia und ihr Lächeln erlosch, als sie auf Cedric zuging. Unsanft zog sie ihn an seinem sauber geflochtenen Zopf. "Das nächste Mal möchte ich informiert werden, wenn du nochmal so eine Aktion startest, Speckkopf!" Dabei deutete sie auf ihre Brust. Cedric wurde rot, als er ihrem Fingerzeig folgte. "Aber so funktioniert das nunmal. Hättest du das machen lassen, wenn du das davor gewusst hättest?" Nia neigte ihren Kopf und legte ihre Stirn in Falten. "Nein, wahrscheinlich nicht, da hast du Recht..." musste sie eingestehen. Dennoch ließ sie seinen Zopf nicht los und zog daran. "Komm mit!" "Wohin denn bitte? Wenn du mich verprügeln willst, geht das auch sehr gut hier!", wandte er ein. Was hatte sie denn nun vor? "Wir suchen Salvatore...", meinte sie und Cedrics Herz sank. Natürlich. Wie hatte er den vergessen können? "... und fordern dann gemeinsam Anita zum Kampf heraus. Ich möchte eine Revanche!"
"Eine solch simple Frage beschäftigt dich Tag und Nacht, während du mit dem Huan aller Huans ein Zimmer teilst? Ich fühle mich aufrichtig geehrt."
"Was willst du damit sagen mit 'dem Huan aller Huans'?", hakte Nia nach. Ihr Herz klopfte aus unerfindlichen Gründen bis zum Hals und ihre Nackenhaare sträubten sich. Meinte er Salvatore?
"Das musst du schon selbst herausfinden, meine Holde.", flirtete er mit gespieltem Leichtsinn in der Stimme. "Schließlich gibt es Vertrauen und Geheimnisse nie umsonst... Aber um zu deiner ursprünglichen Frage zurückzukommen: Was glaubst du denn, was ich bin? Ruler oder Huan?"
Grübelnd neigte Nia ihren Kopf zur Seite und verschränkte die Arme. "Wenn ich das wüsste, würde ich dich nicht fragen. Aber deine verspielte, neckende und hyperaktive Art lassen mich auf einen Huan tippen. Du wirkst so selbstsicher und erfahren und dir hat das Gerede um die Huans keine Angst eingeflößt oder dich gar überrascht. Alles was du getan hast, war seelenruhig zu warten und die Zeit abzusitzen. Du hast also davor etwas gewusst – und das kannst du eigentlich nur, wenn du ein Huan bist.", kombinierte sie und schaute ihm dann fest in die Augen.
"Und was ist mit Lais? Sie ist doch auch ein Ruler und wusste trotzdem davor Bescheid, nicht wahr?", konterte Miguel grinsend. Anscheinend hatte er seine helle Freude an diesem Gespräch.
"Lais ist zwar ein Veteran, aber sie scheint eine Ausnahme zu sein. Außerdem gefällt mir der Gedanke, dass du möglicherweise ein Affen-Huan sein könntest. Das würde echt gut zu dir passen.", meinte Nia stocksteif.
Bei diesen Worten prustete Miguel laut los. Schallendes Gelächter füllte den leeren Gang. Aufgeregt schnappte ihr Mitschüler nach Luft und hielt sich den Bauch. Er setzte immer wieder zum Sprechen an, wurde aber erneut von einer Lachsalve unterbrochen. Nervös lachte Nia mit, doch es war ihr sichtlich unangenehm. Miguel wischte sich vereinzelte Lachtränen aus den Augenwinkeln.
"You made my day! Oh du meine Güte, du bist echt der Oberhammer! Ich soll ein Affe sein?...", er konnte nicht weiterreden, weil er wieder kicherte.
"Andererseits", ergänzte Nia langsam, "meinte Frau Wood damals, dass alle Anwesenden außer ihr und Cedric Ruler sind. Wenn diese Aussage stimmt, müsstest du ein Ruler sein..."
Mit einem Schlag wurde der hochgewachsene Mitschüler ernst und schaute ihr direkt in die Augen. Seine Stimme klang erbarmungslos und hart wie Stahl. "Ganz recht. Auch ich bin ein Ruler so wie du. Lais und ich sind die einzigen Ausnahmen an Rulern, die vor dieser Schule von ihrem Schicksal wussten. Überaus bezeichnend, nicht wahr?" Nia erstarrte. Er war ebenfalls ein Ruler? Und er wusste schon davor von den Huans? "Wie ist das möglich?", hauchte das Mädchen atemlos, doch ihr Gegenüber schüttelte stumm den Kopf.
"Meine Hübsche, wenn dir nicht einmal deine Huans alles erzählen, warum sollte ich das tun?"
~*~
Als Nia die Tür zu ihrer unfreiwilligen WG öffnete, saß Cedric noch an seinem angestammten Platz. Von Salvatore war keine Spur zu sehen. Nervös schaute sie sich um, bevor sie letzten Endes den Raum betrat. Ohne aufzusehen bemerkte Cedric sarkastisch. "Keine Sorge, ich beiße nicht, auch wenn der Schönling mal nicht anwesend ist." Nia blähte die Backen. "Salvatore sieht zwar gut aus, aber wenn du das so sagst, wirkt das immer so herablassend!" Desinteressiert schaute er von seinem Smartphone auf. "Na ja, dann habe ich ja mein Ziel erreicht." Es war wirklich zum aus der Haut fahren! Eigentlich war Nia fest entschlossen, sich allmählich mit Cedric anzufreunden, aber der Kotzbrocken machte es ihr wahrlich nicht einfach. Zumindest soweit zu kommen, dass sie ihn nicht ständig anschreien wollen würde, wäre ein großer Schritt nach vorne. Sie rieb sich die Stirn und seufzte. Langsam ließ sie sich in den leeren Sessel fallen. Cedric beobachtete Nia über den Rand seines Smartphones genau und schaute immer weg, wenn das Mädchen ihm Blicke zuwarf. Es dauerte kurz, bis sie sich gesammelt hatte. "Ich habe Lais getroffen und etwas Interessantes in Erfahrung gebracht.", meinte sie tonlos. Cedric reagierte nicht, doch Nia setzte unbeirrt fort. "Sie sprach von einem 'Herzschlüssel', den einer meiner Huans für mich freisetzen kann. Er scheint eine Waffe zu sein, die auch nach mehrmaligem Gebrauch nicht verschwindet. Im Kampf wäre so was echt nützlich für mich!" Keine Reaktion. Nias Wutpegel stieg sichtbar. Ungeduldig tippte sie mit den Fingern auf der Sessellehne herum. Es war nicht erkennbar, ob Cedric ihr überhaupt zugehört hatte oder nicht. Wenn sie wirklich weiterkommen wollte in Sachen "Freundschaft", dann musste sie andere Geschütze auffahren, so viel war sicher. Wie hieß es so schön? Lächle, denn du kannst sie nicht alle töten? Mit einer schnellen Bewegung war sie aufgestanden und lehnte sich über den lässig auf der Couch liegenden Cedric rüber. Einige Haarsträhnen fielen dabei auf seine Brust. Cedrics Augen weiteten sich und er starrte Nia an. "Endlich schenkst du mir mal Beachtung!", lächelte sie und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Er schaute zur Seite. Zwischen seinen weizenblonden Haarsträhnen blitzten hochrote Ohren hervor, doch Nia bemerkte es nicht. "Hab ja scheinbar keine andere Wahl.", knurrte er zwischen leicht zusammengebissenen Zähnen. Nia rümpfte die Nase. "Ich möchte, dass du meinen Herzschlüssel freisetzt, Cedric Urs." In ihrer Stimme schwang ein Unterton mit, der keine weitere Diskussion zuließ. Nia war in dieser 'Welt' gefangen und konnte nicht entkommen, so viel war ihr inzwischen klar geworden. Deshalb wollte sie sich auch auf die Gegebenheiten und Spielregeln hier einlassen – ihre Huans erschwerten durch ihre Arbeitsverweigerung allerdings dieses Vorhaben erheblich. "Warum sollte ich?", erwiderte Cedric dennoch ohne ihr in die Augen zu sehen. "Weil du mein Huan bist und ich nicht länger untätig sein möchte. Ich... ich bin so schwach... Ich habe kein Selbstvertrauen...", ihre Stimme versagte bei diesen Worten. Wie sehr sie sich dafür schämte, doch sie musste es sich eingestehen: Sie war nichts weiter als ein kleines, behütetes Mädchen, welches sich immer auf ihre beste Freundin verlassen hatte. Nun war sie auf sich allein gestellt – oder zumindest fast. Sie hatte zwei Huans, mit denen sie kämpfen sollte. Die bisherigen Gefechte hatten ihr ihre eigene Machtlosigkeit schmerzlich vor Augen geführt. Mit jedem Mal hatte sie sich selbst mehr angewidert. Wie hilflos sie war! Wie ein Säugling, der mit aller Macht beschützt werden wollte! Und mit jedem Mal hatte sie sich mehr gedemütigt gefühlt und ihr geringes Selbstbewusstsein schwand weiter. Wenn sie aus dieser Abwärtsspirale ausbrechen wollte, musste sie etwas unternehmen. Aus eigener Kraft. All dies leuchtete Nia ein, aber dennoch hatte sie Furcht. Es war etwas zutiefst menschliches: Furcht vor dem Unbekannten. Furcht vor Veränderung. Dennoch wollte sie sich ihren Ängsten Stück für Stück stellen. Das Erlangen des Herzschlüssels sollte erst der Anfang werden! Cedric beobachtete gespannt Nias Wechselspiel der Gefühle in ihrem Gesicht. Es schwankte von Angst bis hin zu wilder Entschlossenheit. Man konnte regelrecht sehen, wie Nia sich vor seinen Augen verwandelte. Er selbst wunderte sich, warum er sich so vehement wehrte, ihr zu helfen oder Antworten zu geben, nach denen sie so händeringend suchte. Aber auch er hatte Angst. Angst, die ihn lähmte. Cedric hatte es nicht verhindern können, dass Nia auf diese Schule gebracht worden war. Seit Jahren hatte er diesen Moment gefürchtet und nun war er tatsächlich Realität geworden. Innerlich wollte er Nia einfach nur in einen Tresor sperren und niemanden an sie heranlassen. Er wollte sie mit allen Mitteln schützen, auch wenn sie ihn dafür noch mehr hassen würde. Auch die Kämpfe gegen Anita und Lais hatten seine Befürchtungen bestätigt. Nia war nicht für diese Welt gemacht... Aber anscheinend hatte das Mädchen ihr Schicksal eher akzeptiert als er es tun konnte. Sie wollte lernen, sich zu wehren, anstatt tatenlos zuzusehen. Die Auseinandersetzung mit Lais hatte ihr scheinbar die Augen geöffnet, Nia hatte sich in Bewegung gesetzt und etwas unternommen. Ohne sein Zutun hatte sie etwas über den Herzschlüssel herausfinden können... Zugegeben, das war nicht sonderlich schwer, aber für die sonst so schüchterne Nia eine Leistung. Warum sollte er noch weiter herauszögern, was ohnehin unvermeidlich war? Und wenn er ehrlich war, kribbelten seine Fingerspitzen vor Aufregung, dass er den Herzschlüssel freisetzen durfte und nicht Salvatore Zefalus! Warum sollte er sich solch eine Chance durch die Lappen gehen lassen? Langsam richtete sich der Schüler auf, wobei noch mehr schwarze, seidige Haarsträhnen auf seinen Brustkorb fielen. Er räusperte sich vernehmlich, sodass Nia zurückwich. Verlegen kratzte er sich den Nacken. "Also gut. Lass es uns tun." Innerlich schrie er über diesen zweideutigen Satz auf. Verdammter Mist, konnte er nicht ein ganz normal klingendes Gespräch mit ihr führen? Alles klang entweder ruppig, beleidigend oder zweideutig. Er seufzte über seine eigene soziale Inkompetenz. "Was muss ich machen?", fragte Nia mit vor Aufregung hoher Stimme. So wirklich hatte sie den Satz scheinbar nicht wahrgenommen. Zum Glück. Fast musste Cedric grinsen, da sie so sichtbar nervös war. "Keine Sorge, es ist kein großes Hexenwerk. Stell dich einfach ganz ruhig hin und beweg dich nicht.", dirigierte er sie und Nia tat wie geheißen. Cedric trat so nah an sie heran, dass sie seine Körperwärme spüren konnte. "M-mach keinen Unsinn, Speckkopf!", fauchte sie und wollte schon fast zurückweichen. "Bleib einfach so stehen und rühr dich nicht vom Fleck.", murmelte Cedric mit heiserer Stimme. Nia so nah zu sein war ungewohnt. Seine Haut fühlte sich an wie elektrisiert. Ob es ihr ähnlich ging? "Ich werde jetzt den Herzschlüssel freisetzen.", kündigte er an und zückte einen kleinen, silbernen Schlüssel. Cedric hatte die Augen geschlossen, als sich der Schlüssel auflöste. Das minderte Nias Nervosität nicht gerade. Wozu brauchte man einen Schlüssel, um einen anderen freizusetzen? Was bewirkte der Schlüssel überhaupt? Zunächst geschah nichts. Es herrschte absolute Stille im Zimmer. Nur das leise Surren von Cedrics Smartphone erfüllte den Raum. Anscheinend hatte er gerade eine Nachricht erhalten. Doch da... Ganz leise hörte Nia ein Klopfen. Ein Pochen. Als würde man einen Lautstärkeregler allmählich nach oben drehen, wurde das Geräusch lauter. Es war kein normales Klopfen. Es waren deutlich zu hörende Herzschläge. Nia hatte Gänsehaut. Es war ihr eigener Herzschlag, der so übermäßig und raumerfüllend zu vernehmen war! Irgendwie war das ein unangenehmes, furchteinflößendes Gefühl. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Doch während ihr eigener Herzschlag ihr in den Ohren dröhnte, ertönte ein zweiter. Die Schläge waren langsamer und mächtiger. Sie schluckte. Das war der Puls von Cedric, da war sie ganz sicher. Auf einmal fühlte sie sich geborgen und beschützt. Es kam ihr vor, als würden seine Gefühle auf sie überfließen. Was für ein lächerlicher Gedanke!, schimpfte Nia innerlich. So einen Unsinn überhaupt zu denken war absolut absurd! Wie zur Bestätigung schaute sie ihm grimmig ins Gesicht. Ihre Augen weiteten sich überrascht, als sie Cedrics Blick wahrnahm. Seine sonst so kalten, abweisenden schwarzen Augen wirkten nun so weich... ja, zärtlich. Das war das erste Wort, das ihr dazu einfiel. Einer der lauten Herzschläge wurde schneller. Nia konnte nicht sagen, wessen es war. War es ihr eigener gewesen, der so einen Sprung gemacht hatte? Oder war es der von dem Speckkopf vor ihr? Doch von einem Augenblick zum Anderen wurde sein Ausdruck wieder hart. Er hatte ihre prüfenden Blicke bemerkt. Gerade wollte Nia etwas sagen... Da fing ihr Brustkorb plötzlich an zu leuchten. Sie zuckte zusammen. Gehörte das dazu, den Herzschlüssel zu beschwören? Cedric ging langsam einen Schritt zurück. Mit einem Ruck fasste er ihr zwischen die Brüste, wo das Leuchten am hellsten war. Nia quietschte, doch die Herzschläge übertönten inzwischen alles, als sie von den Wänden widerhallten. Cedrics Hand verschwand im gleißenden Licht. Ruhig, langsam und bedächtig zog er den Arm Stück für Stück zurück. Zwischen seinen Fingern hielt er fest umschlossen einen Schlüssel. Kaum war seine Hand wieder komplett sichtbar, erlosch das Leuchten mit einem Mal. Auch ihre Pulsschläge verstummten. Dröhnende Stille erfüllte den Raum. Obwohl sich Nia nicht vom Fleck bewegt hatte, war ihr Atem beschleunigt und Schweiß rann ihr über die Stirn. Vorsichtig, als wolle er die Kostbarkeit nicht zerbrechen, öffnete Cedric seine Hand. Darin lag ein schwarzer Schlüssel. In seiner Mitte befand sich ein großer, geschliffener blauer Edelstein, der das Licht brach und hellblaue Streifen an die Wand malte. Ein mattschwarzes Zahnrad umschloss seine runde Form perfekt. Zarte Gravuren, die an ein X und ein O erinnerten, verzierten es. Der Stil wirkte wie ein zartes Geflecht verschiedener Pflanzenranken, die links und rechts oben in einer kleinen Blüte und einem Blatt endeten. In der Mitte der Blüte funkelte verheißungsvoll ein Opal in allen Regenbogenfarben. Cedric hatte als erstes seine Stimme wiedergefunden. "Das in der Mitte muss ein Azurit sein..." "Er ist wunderschön...", hauchte Nia ehrfurchtsvoll. Vorsichtig berührte sie den Schlüssel. Er war noch ganz warm. Behutsam drehte sie ihn im Licht. Das Mädchen konnte den Blick gar nicht abwenden. Ein zartes Gefühl von Stolz erfüllte Cedric, als hätte er selbst den Schlüssel kreiert. Dem war natürlich nicht so, aber immerhin hatte er ihn freigesetzt. Nun wandte sich Nia an ihren Huan. "Vielen Dank, dass du mir meinen Herzschlüssel gegeben hast." Ein glückliches, ehrliches Lächeln huschte über ihre Lippen. Ihre meerblauen Augen schienen mit dem Azurit zu harmonieren. Cedric schluckte. "Is' nich' der Rede wert. War ja kein großer Aufwand oder so.", grummelte er und massierte sich den Nacken. "Allerdings", meinte Nia und ihr Lächeln erlosch, als sie auf Cedric zuging. Unsanft zog sie ihn an seinem sauber geflochtenen Zopf. "Das nächste Mal möchte ich informiert werden, wenn du nochmal so eine Aktion startest, Speckkopf!" Dabei deutete sie auf ihre Brust. Cedric wurde rot, als er ihrem Fingerzeig folgte. "Aber so funktioniert das nunmal. Hättest du das machen lassen, wenn du das davor gewusst hättest?" Nia neigte ihren Kopf und legte ihre Stirn in Falten. "Nein, wahrscheinlich nicht, da hast du Recht..." musste sie eingestehen. Dennoch ließ sie seinen Zopf nicht los und zog daran. "Komm mit!" "Wohin denn bitte? Wenn du mich verprügeln willst, geht das auch sehr gut hier!", wandte er ein. Was hatte sie denn nun vor? "Wir suchen Salvatore...", meinte sie und Cedrics Herz sank. Natürlich. Wie hatte er den vergessen können? "... und fordern dann gemeinsam Anita zum Kampf heraus. Ich möchte eine Revanche!"