Kapitel 29: Run Girl, Run
Inzwischen konnte sie nicht einmal mehr sagen, wie viel Zeit vergangen war. Waren es nur wenige Minuten oder gar Stunden gewesen? Um ganz ehrlich zu sein, konnte Nia nicht mal mehr mit absoluter Bestimmtheit sagen, ob es noch derselbe Tag war.
Jede Faser ihres Körpers schmerzte und ihr überreiztes Gehirn war kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr vollkommen ausgelaugter, ermatteter Körper reagierte nur noch auf die äußeren, schmerzhaften Reize, aber es kam kein Ton mehr über Nias spröde, eingerissene Lippen. Der Geruch von stechender Säure und Blut mischte sich, doch das junge Mädchen hatte sich schon längst daran gewöhnt. Anfangs war sie froh gewesen, dass sich die Kettensäge als kleiner, amüsanter "Scherz" herausgestellt hatte, doch inzwischen würde sie fast mit diesem Instrument vorlieb nehmen. Dann wäre wenigstens alles vorbei. Das Klimpern der metallischen Instrumente konnte sie nicht mehr erschrecken, wie ihr getrübter Blick auch ihren Häscher Pugal Kar erahnen ließ.
Aber das war ihm nur recht. Ein Objekt, welches sich wehrlos untersuchen ließ, war einfacher in der Handhabung.
In Gedanken klickte er mit dem Kugelschreiber und stierte auf die Unterlagen auf dem Klemmbrett.
Nia Toshiki war wirklich ein bemerkenswertes Versuchsobjekt. Zwar hatte er insgeheim gehofft, dass sich die Theorie über ihre Regenerationskraft bestätigen würde, aber mit solch fulminaten Ergebnissen hatte niemand rechnen können!
Abgesehen von den anfänglichen Wunden, die vor seinen Augen wieder zugewachsen waren, zeigte auch Salzsäure keine bleibenden Schäden. Diese Substanz hatte er auf verschiedene Stellen der Haut geträufelt, doch binnen weniger Minuten waren die Verätzungen nicht mehr zu sehen.
Natürlich musste Pugal auch testen, wie es sich mit Knochenbrüchen verhielt. Mithilfe eines Hammers hatte er Nias Unterschenkel gebrochen. Doch noch während des Röntgenvorgangs waren beide Bruchteile wieder zusammengewachsen. Befriedigt rieb er sich seinen Bart, als er weitere Ergebnisse durchblätterte.
Ihr Blut war anfangs tadellos gewesen.
Flusssäure war eine ätzende, klare Flüssigkeit, die bei Hautkontakt in der größe eines Centstücks bereits zum Tode führen konnte. Die Säure drang durch die Haut direkt in die Blutbahn und zerstörte dort alles, was ihr in den Weg kam, sodass der Betroffene letztlich an quälendem Herzversagen starb, während sich die Substanz ihren Weg durch die Blutbahn fraß. In seiner Untersuchung hatte er Nias gesamte Hand in Flusssäure getaucht und sie hatte auch einige Symptome gezeigt, doch sie war nach wie vor am Leben. Selbst das abgeätzte, in Fetzen herunterhängende Fleisch war wieder nahtlos nachgewachsen und zeigte keine äußere Einwirkung mehr.
Ja sogar als er ihr eine Überdosis Schlaf- und Beruhigungsmittel verabreicht hatte, war sie nicht daran gestorben. Eigentlich hätte sie wie Dornröschen bis zum Sankt Nimmerleinstag entschlafen müssen.
Und zu seiner eigenen Überraschung war bei der Abtrennung einer ihrer Fingerglieder die Wunde zugewachsen, bevor ein neuer Finger nachgewachsen war. Ein komplett neuer Finger war entstanden! Das versetzte den Wissenschaftler in Ekstase nie dagewesener Art. Vor allem würde das abgetrennte Glied noch gute Dienste erweisen, wenn er weitere Untersuchungen durchführen wollte. Gewebeproben brauchten ihre Zeit, bis sie fertig analysiert waren. Zudem hatte er vor, noch einen anderen, wichtigen Test daran zu machen... Der war nicht weiter schwer, aber er brauchte noch zusätzliche... "Utensilien" und obendrein hatte er das Gerät gerade nicht in seinem Labor. Es war sowieso ein Akt gewesen, ein Röntgengerät zu installieren, da das in normalen Labors nicht vorgesehen war. Aber sein Name galt etwas, darum war er nun auch mit einem solchen System ausgestattet.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass die Abendstunden schon angebrochen waren. War es jetzt noch sinnvoll, ein oder mehrere von Nias Organen zu entfernen? Es war essentiell wichtig zu wissen, ob diese nachwachsen würden oder ob sie ohne sie lebensfähig war. Eigentlich wäre es interessant zu sehen, in welcher Geschwindigkeit sie zurückwachsen würden, wenn sie es täten... Aber dafür müsste Nia ins MRT. Das Röntgengerät ermöglichte es ihm nur, Knochen und ähnlich harte Substanzen aufzunehmen. Im MRT dagegen war das auch problemlos von Weichteilen wie Organen möglich. Aber das Gerät befand sich im anderen Flügel des Gebäudes. Obendrein war es schon schwierig gewesen, Nia unbemerkt in das Labor zu befördern...
Wieder klickte er mit dem Kugelschreiber.
Sein ganzer Körper kribbelte vor Aufregung und Adrenalin. Wenn Nias Organe wirklich nachwachsen würden, wäre sie die perfekte Organspenderin! Im wahrsten Sinne des Wortes nachwachsend. Wie vielen Menschen man damit helfen könnte! Natürlich könnte man auch eine ordentliche Stange Geld damit verdienen, aber das war nicht Pugals Ziel. Außerdem hatte er noch nicht überprüft, welche Blutgruppe das Mädchen hatte. Blutgruppe 0 wäre sensationell, da man dann ihre Organe auch anderen Blutgruppen ohne Schwierigkeiten einpflanzen könnte. Jede andere Blutgruppe wäre in ihrem Gebrauch der Organe eingeschränkt.
Erneut klickte er mit dem Kugelschreiber.
So sehr und so fanatisch er seine Arbeit auch liebte, nach fast zwölf Stunden ununterbrochenen Versuchsdurchführungen ließ auch seine Konzentration nach. Außerdem hatte er mal wieder das Essen und Trinken vergessen! Typisch. Wenn er an einem interessanten Objekt zugange war, vergaß er alles um sich herum und vor allem sich selbst.
Mahnende Kopfschmerzen erinnerten ihn daran, dass es Zeit war, seinem Körper Flüssigkeit zuzuführen. Aber davor wollte er noch einen kurzen Versuch durchführen und zweimal ihr Blut abnehmen.
Mit geübtem Handgriff zog er sich die blutverkrusteten Nitrilhandschuhe aus und warf sie weg. Man konnte ihre ursprüngliche, blaue Farbe nur noch erahnen. Mit neuen Handschuhen bestückt setzte er die Kanüle auf die Spritze auf und schnallte Nia einen Stauchschlauch um den Arm. Behutsam klopfte er auf die Adern in der Armbeuge, bis diese deutlich hervortraten. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er Nia Toshiki für tot halten. Seit einiger Zeit war der jungen Schülerin kein Ton mehr über die Lippen gekommen und ihr Körper zeigte nur noch Reaktionen, aber keine Emotionen mehr. Vielleicht zeigte das Blutbild nun doch Einwirkungen der Schlaftabletten? Wäre reichlich spät... Aber umso interessanter.
Der rote Lebenssaft schoss in die Kanüle. Nun stöpselte er die Plastikspritze ab und befestigte ein Blutröhrchen.
Aus seinem Laborkittel zog er sein Smartphone und aktivierte die Taschenlampe. Nias Augenlider wurden auseinander gespreizt. Ruckartig zog sich die Pupille zusammen, als das Licht sie traf.
Gut, eine normale Reaktion. Körperlich war also alles in Ordnung. Es wäre wirklich schade, wenn sein Testobjekt plötzlich versterben würde. Nicht, dass das nicht auch schon vorgekommen war, aber Nia war mit Abstand das interessanteste.
Kurz überlegte er, ob er den üblichen Wattebausch auf die Einstichstelle machen sollte. Wenn es um Nia Toshiki ginge, müsste die Wunde binnen Sekunden geschlossen sein... Prüfend zog er die Nadel heraus und konnte mit bloßem Auge beobachten, wie das austretende Blut verkrustete und sich die Wunde schloss. Ein hämisches Grinsen huschte über sein Gesicht. Wer hätte Gedacht, dass sich die Tochter von Roy Toshiki als so ein Prachtobjekt entpuppen würde? Beschwingt verstaute er das Röhrchen mit dem Blut.
Zielstrebig ging er zum Säuren- und Laugenschrank und holte eine große, braune Glasflasche hervor. Konzentriere Schwefelsäure hatte er noch nicht ausprobiert. Anders als Salz- oder Flusssäure konnte diese sich auch durch organische Materialien wie Papier fressen. Das war einen Versuch wert, zumal Pugal direkt im Anschluss erneut Blut abnehmen wollte. Er konnte zwar nicht abschätzen, in welcher Geschwindigkeit Nias Körper die Säure neutralisierte, aber probieren ging ja bekanntlich über studieren.
Mit Schwung stellte er eine große Kristallisierschale neben Nia und schüttete darin fast flötend die Säure hinein. Schließlich schnappte er sich ihre Hand und tauchte sie so gut es dank der ledernen Fesseln ging hinein. Die klare Flüssigkeit färbte sich schwarz, als sie langsam aber sicher das bloße Fleisch von der Hand des Mädchens ätzte. Rotes Blut mischte sich darunter und ein seltsamer Duft erfüllte den Raum. So schnell und zügig wie möglich, aber ohne Hektik entnahm er ihr in der üblichen Prozedur wieder Blut. Er atmete scharf aus, als er das zweite Röhrchen in den dafür vorgesehenen Ständer stellte.
Durchdringendes Pochen erfüllte seinen Kopf auf unangenehme Art und Weise. Zeit für ein Glas Wasser und eine Tasse Kaffee, keine Frage! Bei den ganzen dampfenden Säuren war es auch kein Wunder, dass er auch ein paar Blessuren davontrug. Die Dehydrierung tat auch noch ihr übriges.
Ohne Nia weiter zu beachten, ging er zum hinteren Teil seines Labors, in dem sich ein PC sowie eine kleine Kaffeemaschine befand. Essen und Trinken war in Laboren für gewöhnlich und vollkommen zurecht verboten... Aber das war Pugals alleiniges Reich und er konnte sich Kaffee kochen wo und wann immer er wollte. Und niemand konnte ihn daran hindern! Als der erste Schluck Wasser seine Kehle herunterfloss, ließ der Schmerz schlagartig nach. Neben ihm brodelte die Kaffeemaschine und verströmte ihr köstliches Aroma. Das melodische Kochen und Reißen weckte seine Lebensgeister.
Reißen?
Mit einem Satz war er ans andere Ende des Ganges gehechtet. Pugal traute seinen Augen nicht. Nia Toshiki stand auf wackeligen Beinen, ihre Augen waren zu wütenden Schlitzen verengt.
Wie um alles in der Welt?
Ein Blick auf den Tisch genügte: Die Schwefelsäure.
Die gottverdammte Schwefelsäure konnte sich natürlich auch durch das Leder fressen, das Nia an Ort und Stelle befestigt hatte! Fast hätte er über seinen eigenen dummen Fehler gelacht.
Aber auch nur fast.
"Fluchtversuche sind zwecklos.", grollte Pugal, der die Tür in seinem Rücken wusste. Sie konnte nicht entkommen.
Nia hielt die Glasflasche mit der Säure fest umklammert.
Sie wollte hier raus. Und sie würde hier auch raus kommen!
Entschlossen sprintete sie nach vorne. Der Stöpsel der Flasche war entfernt worden. Ein Schwall farbloser Flüssigkeit ergoss sich über ihn. Gerade noch rechtzeitig riss er seinen Arm hoch. Binnen Sekunden fraß sich die Schwefelsäure durch seinen Laborkittel. Mit einem Ruck hatte er das Kleidungsstück von seinem Körper gerissen. Wütend versuchte er, Nia den Kittel über den Kopf zu werfen, doch die dünne Klinge ihres Degens zerstörte seinen Plan.
Blutverschmiert, zerzaust, aufgebracht und entschlossen stand er Nia gegenüber, die ihre Degenspitze an seinen Hals hielt. Doch in ihrem Blick war zeitgleich Todesangst zu lesen. Sie glich einem verwundeten Tier, welches mit allen Mitteln flüchten wollte.
Ach ja, der Herzschlüssel... Den hatte er tatsächlich vollkommen vergessen. Diese Eigenart eines Rulers, die Waffe seines Herzens jederzeit materialisieren zu können, da sich der Schlüssel für gewöhnlich im Körper befand. Es war aber auch nicht abzusehen gewesen, dass sich Nia Toshiki wehren würde. Und schon gar nicht nach so vielen, nervenzehrenden und langatmigen Versuchen!
Ein gehässiges Grinsen huschte über seine Lippen. Die Wucht des Aufpralls mit seinem Rabenschnabel entriss ihr die Waffe. Perplex starrte Nia ihrer scheppernd zu Boden fallenden Waffe hinterher.
Nia war nicht die Einzige, die einen solchen Herzschlüssel besaß!
Nun war Pugal an der Reihe, Nia seine Waffe an den Hals zu halten. Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Er konnte die Räder in ihrem Kopf förmlich rattern hören. Dieses Mädchen wusste immer wieder, wie sie ihn amüsieren konnte! Aber irgendwo hatte der Spaß ein Loch. Vor allem, wenn sich sein Versuchsobjekt aus dem Staub zu machen versuchte!
Pfeilschnell schoss Nia nach vorne. Den Rabenschnabel stieß sie unsanft zur Seite. Mit aller Kraft, den ihr entkräfteter, malträtierter Körper aufbringen konnte, stieß sie das Seziermesser in Pugals Seite.
Pugal keuchte laut auf und krümmte sich vor Schmerz. Knirschend ging er in die Knie.
Jetzt war ihre Chance gekommen!
Wenn sie richtig gedacht hatte, musste die Tür von innen jederzeit zu öffnen sein. Ein Labor konnte nicht von innen abgeschlossen werden - zumindest nicht die modernen, die mithilfe eines programmierten Schlüssels geöffnet werden konnten.
Pure Verzweiflung sprach aus ihr, als sie sich an die Türklinke hing.
Die Tür öffnete sich und ein frischer Windstoß wehte hinein.
Freiheit. Nia schmeckte Freiheit.
"Nicht so schnell!", rief Pugal pfeifend und versetzte ihr mithilfe seines Rabenschnabels einen Kniekehlenkick. Nia fiel hin. Mit eiserner Faust umklammerte der Forscher ihren Fuß, während er mit der anderen das blutige Skalpell festhielt.
Bevor Nia reagieren konnte, schnitt er dem Mädchen quer und tief in die Wade. Ein stummer Schrei erfüllte den Raum. Mit hilfesuchenden Händen klammerte sie sich an den Feuerlöscher, der neben der Tür hing. Trotz Tränen in den Augen riss sie ihn von der Wand. Mithilfe ihrer letzten Kräften schleuderte sie ihn nach rücklinks nach hinten. Ein dumpfer Schlag war zu hören, doch sie drehte sich nicht um. Geistesabwesend griff sie nach ihrem in reichweite liegenden Degen. In Sekundenbruchteilen verwandelte er sich in einen Schlüssel und verschwand schließlich mit einem sanften Leuchten. Zittrige Hände stießen die Labortür weit auf. Schlurfend, humpelnd und hinkend stolperte sie so schnell durch die Gänge, wie es ihr möglich war. Kaum war sie ein paar Meter gegangen, waren ihre durchtrennten Muskeln in ihrem Bein wieder zusammen gewachsen. Mit wackligen Knien rannte sie los und bog um eine Ecke, bei der sie sich den Ausgang erhoffte.
Beinahe stieß sie mit jemanden zusammen. Nia taumelte rückwärts und fiel hin. Sie wollte jetzt nichts und niemanden sehen, solange sie nicht aus dieser Irrenanstalt entkommen war. Alles andere zählte nicht.
"Hoppsala!", stieß die Person aus. Rote, verwuschelte Lockenhaare umrahmten ein Sommersprossiges Gesicht mit grünen Augen. Fürsorglich bot er ihr seine Hand an. "Warte, ich helfe di-"
Seine Worte blieben ihm im Hals stecken, als er das Mädchen genauer ansah. Ihm gefror das Blut in seinen Adern.
"Ak-"
Überall klebte verkrustetes, dunkles Blut. Mit absoluter Sicherheit war es ihr eigenes, so viel wusste er instinktiv. Teile der Kleidung war zerrissen, angesengt oder weggeätzt und größtenteils konnte man die ursprüngliche Farbe der Kleidungsstücke nur noch erahnen. Was um alles in der Welt...? Der Forscher wurde kreidebleich und öffnete entsetzt die Lippen, als ein gellender Schrei über den Flur ertönte. Nia zuckte zusammen. Blanke Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Es war Pugal! Pugal suchte sie.
Und er würde sie finden.
Ohne zu zögern handelte der Mann. Mit Schwung brachte er sie wieder auf die Beine. Im gleichen Augenblick hielt er seinen programmierten Schlüssel an die nächstbeste Labortüre. Mit einem leisen Piepsen zeigte sie, dass sie entriegelt war. Mit größter Vorsicht, aber höchster Eile bugsierte er die junge Schülerin hinein. "Rühr dich nicht vom Fleck!", waren seine letzten Worte, bevor er die Tür ins Schloss warf.
Atemlos und verwirrt sah sich Nia um. War sie soeben vom Regen in die Traufe gekommen oder hatte der Mann sie gerade vor dem Schlimmsten bewahrt?
Dieser Mann...
War es möglich, dass dieser Mann...? Unsicher rappelte sich Nia auf und sah sich um. Dieses Labor war so ähnlich aufgebaut wie das von Pugal Kar, aber dennoch verströmte es mehr... Lebendigkeit und Wärme. Sofern man etwas derartiges von einem klinisch sauberen Labor überhaupt behaupten konnte. Aber kleine Girlanden hingen von der Decke, an die Wände waren Sprüche und Witze gepinnt und an den Abzügen standen allerlei Formeln, aber auch der Wetterbericht der kommenden Tage. Jedes Gerät war mit ausgeblichenen, alten Stickern von Kinderserien markiert und am Schreibtisch in der Ecke standen Unmengen an Fotos.
Zögerlich ging Nia darauf zu. Im Grunde ihres Herzens kannte sie die Antwort schon.
Im schummrigen Abendlicht ließ sie ihren Blick über die Fotos gleiten. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie die Gesichter wahrnahm.
Schüchtern, fast so als hätte sie Angst verletzt und zurückgewiesen werden, streckte Nia ihren Arm aus. Ihr Finger strich so behutsam über das Glas des Fotorahmens, als könnte die darin eingeschlossene Erinnerung bei der kleinen Berührung zerbersten.
"Mama... Papa...", flüsterte das junge, malträtierte Mädchen und brach in Tränen aus.
Jede Faser ihres Körpers schmerzte und ihr überreiztes Gehirn war kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr vollkommen ausgelaugter, ermatteter Körper reagierte nur noch auf die äußeren, schmerzhaften Reize, aber es kam kein Ton mehr über Nias spröde, eingerissene Lippen. Der Geruch von stechender Säure und Blut mischte sich, doch das junge Mädchen hatte sich schon längst daran gewöhnt. Anfangs war sie froh gewesen, dass sich die Kettensäge als kleiner, amüsanter "Scherz" herausgestellt hatte, doch inzwischen würde sie fast mit diesem Instrument vorlieb nehmen. Dann wäre wenigstens alles vorbei. Das Klimpern der metallischen Instrumente konnte sie nicht mehr erschrecken, wie ihr getrübter Blick auch ihren Häscher Pugal Kar erahnen ließ.
Aber das war ihm nur recht. Ein Objekt, welches sich wehrlos untersuchen ließ, war einfacher in der Handhabung.
In Gedanken klickte er mit dem Kugelschreiber und stierte auf die Unterlagen auf dem Klemmbrett.
Nia Toshiki war wirklich ein bemerkenswertes Versuchsobjekt. Zwar hatte er insgeheim gehofft, dass sich die Theorie über ihre Regenerationskraft bestätigen würde, aber mit solch fulminaten Ergebnissen hatte niemand rechnen können!
Abgesehen von den anfänglichen Wunden, die vor seinen Augen wieder zugewachsen waren, zeigte auch Salzsäure keine bleibenden Schäden. Diese Substanz hatte er auf verschiedene Stellen der Haut geträufelt, doch binnen weniger Minuten waren die Verätzungen nicht mehr zu sehen.
Natürlich musste Pugal auch testen, wie es sich mit Knochenbrüchen verhielt. Mithilfe eines Hammers hatte er Nias Unterschenkel gebrochen. Doch noch während des Röntgenvorgangs waren beide Bruchteile wieder zusammengewachsen. Befriedigt rieb er sich seinen Bart, als er weitere Ergebnisse durchblätterte.
Ihr Blut war anfangs tadellos gewesen.
Flusssäure war eine ätzende, klare Flüssigkeit, die bei Hautkontakt in der größe eines Centstücks bereits zum Tode führen konnte. Die Säure drang durch die Haut direkt in die Blutbahn und zerstörte dort alles, was ihr in den Weg kam, sodass der Betroffene letztlich an quälendem Herzversagen starb, während sich die Substanz ihren Weg durch die Blutbahn fraß. In seiner Untersuchung hatte er Nias gesamte Hand in Flusssäure getaucht und sie hatte auch einige Symptome gezeigt, doch sie war nach wie vor am Leben. Selbst das abgeätzte, in Fetzen herunterhängende Fleisch war wieder nahtlos nachgewachsen und zeigte keine äußere Einwirkung mehr.
Ja sogar als er ihr eine Überdosis Schlaf- und Beruhigungsmittel verabreicht hatte, war sie nicht daran gestorben. Eigentlich hätte sie wie Dornröschen bis zum Sankt Nimmerleinstag entschlafen müssen.
Und zu seiner eigenen Überraschung war bei der Abtrennung einer ihrer Fingerglieder die Wunde zugewachsen, bevor ein neuer Finger nachgewachsen war. Ein komplett neuer Finger war entstanden! Das versetzte den Wissenschaftler in Ekstase nie dagewesener Art. Vor allem würde das abgetrennte Glied noch gute Dienste erweisen, wenn er weitere Untersuchungen durchführen wollte. Gewebeproben brauchten ihre Zeit, bis sie fertig analysiert waren. Zudem hatte er vor, noch einen anderen, wichtigen Test daran zu machen... Der war nicht weiter schwer, aber er brauchte noch zusätzliche... "Utensilien" und obendrein hatte er das Gerät gerade nicht in seinem Labor. Es war sowieso ein Akt gewesen, ein Röntgengerät zu installieren, da das in normalen Labors nicht vorgesehen war. Aber sein Name galt etwas, darum war er nun auch mit einem solchen System ausgestattet.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass die Abendstunden schon angebrochen waren. War es jetzt noch sinnvoll, ein oder mehrere von Nias Organen zu entfernen? Es war essentiell wichtig zu wissen, ob diese nachwachsen würden oder ob sie ohne sie lebensfähig war. Eigentlich wäre es interessant zu sehen, in welcher Geschwindigkeit sie zurückwachsen würden, wenn sie es täten... Aber dafür müsste Nia ins MRT. Das Röntgengerät ermöglichte es ihm nur, Knochen und ähnlich harte Substanzen aufzunehmen. Im MRT dagegen war das auch problemlos von Weichteilen wie Organen möglich. Aber das Gerät befand sich im anderen Flügel des Gebäudes. Obendrein war es schon schwierig gewesen, Nia unbemerkt in das Labor zu befördern...
Wieder klickte er mit dem Kugelschreiber.
Sein ganzer Körper kribbelte vor Aufregung und Adrenalin. Wenn Nias Organe wirklich nachwachsen würden, wäre sie die perfekte Organspenderin! Im wahrsten Sinne des Wortes nachwachsend. Wie vielen Menschen man damit helfen könnte! Natürlich könnte man auch eine ordentliche Stange Geld damit verdienen, aber das war nicht Pugals Ziel. Außerdem hatte er noch nicht überprüft, welche Blutgruppe das Mädchen hatte. Blutgruppe 0 wäre sensationell, da man dann ihre Organe auch anderen Blutgruppen ohne Schwierigkeiten einpflanzen könnte. Jede andere Blutgruppe wäre in ihrem Gebrauch der Organe eingeschränkt.
Erneut klickte er mit dem Kugelschreiber.
So sehr und so fanatisch er seine Arbeit auch liebte, nach fast zwölf Stunden ununterbrochenen Versuchsdurchführungen ließ auch seine Konzentration nach. Außerdem hatte er mal wieder das Essen und Trinken vergessen! Typisch. Wenn er an einem interessanten Objekt zugange war, vergaß er alles um sich herum und vor allem sich selbst.
Mahnende Kopfschmerzen erinnerten ihn daran, dass es Zeit war, seinem Körper Flüssigkeit zuzuführen. Aber davor wollte er noch einen kurzen Versuch durchführen und zweimal ihr Blut abnehmen.
Mit geübtem Handgriff zog er sich die blutverkrusteten Nitrilhandschuhe aus und warf sie weg. Man konnte ihre ursprüngliche, blaue Farbe nur noch erahnen. Mit neuen Handschuhen bestückt setzte er die Kanüle auf die Spritze auf und schnallte Nia einen Stauchschlauch um den Arm. Behutsam klopfte er auf die Adern in der Armbeuge, bis diese deutlich hervortraten. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er Nia Toshiki für tot halten. Seit einiger Zeit war der jungen Schülerin kein Ton mehr über die Lippen gekommen und ihr Körper zeigte nur noch Reaktionen, aber keine Emotionen mehr. Vielleicht zeigte das Blutbild nun doch Einwirkungen der Schlaftabletten? Wäre reichlich spät... Aber umso interessanter.
Der rote Lebenssaft schoss in die Kanüle. Nun stöpselte er die Plastikspritze ab und befestigte ein Blutröhrchen.
Aus seinem Laborkittel zog er sein Smartphone und aktivierte die Taschenlampe. Nias Augenlider wurden auseinander gespreizt. Ruckartig zog sich die Pupille zusammen, als das Licht sie traf.
Gut, eine normale Reaktion. Körperlich war also alles in Ordnung. Es wäre wirklich schade, wenn sein Testobjekt plötzlich versterben würde. Nicht, dass das nicht auch schon vorgekommen war, aber Nia war mit Abstand das interessanteste.
Kurz überlegte er, ob er den üblichen Wattebausch auf die Einstichstelle machen sollte. Wenn es um Nia Toshiki ginge, müsste die Wunde binnen Sekunden geschlossen sein... Prüfend zog er die Nadel heraus und konnte mit bloßem Auge beobachten, wie das austretende Blut verkrustete und sich die Wunde schloss. Ein hämisches Grinsen huschte über sein Gesicht. Wer hätte Gedacht, dass sich die Tochter von Roy Toshiki als so ein Prachtobjekt entpuppen würde? Beschwingt verstaute er das Röhrchen mit dem Blut.
Zielstrebig ging er zum Säuren- und Laugenschrank und holte eine große, braune Glasflasche hervor. Konzentriere Schwefelsäure hatte er noch nicht ausprobiert. Anders als Salz- oder Flusssäure konnte diese sich auch durch organische Materialien wie Papier fressen. Das war einen Versuch wert, zumal Pugal direkt im Anschluss erneut Blut abnehmen wollte. Er konnte zwar nicht abschätzen, in welcher Geschwindigkeit Nias Körper die Säure neutralisierte, aber probieren ging ja bekanntlich über studieren.
Mit Schwung stellte er eine große Kristallisierschale neben Nia und schüttete darin fast flötend die Säure hinein. Schließlich schnappte er sich ihre Hand und tauchte sie so gut es dank der ledernen Fesseln ging hinein. Die klare Flüssigkeit färbte sich schwarz, als sie langsam aber sicher das bloße Fleisch von der Hand des Mädchens ätzte. Rotes Blut mischte sich darunter und ein seltsamer Duft erfüllte den Raum. So schnell und zügig wie möglich, aber ohne Hektik entnahm er ihr in der üblichen Prozedur wieder Blut. Er atmete scharf aus, als er das zweite Röhrchen in den dafür vorgesehenen Ständer stellte.
Durchdringendes Pochen erfüllte seinen Kopf auf unangenehme Art und Weise. Zeit für ein Glas Wasser und eine Tasse Kaffee, keine Frage! Bei den ganzen dampfenden Säuren war es auch kein Wunder, dass er auch ein paar Blessuren davontrug. Die Dehydrierung tat auch noch ihr übriges.
Ohne Nia weiter zu beachten, ging er zum hinteren Teil seines Labors, in dem sich ein PC sowie eine kleine Kaffeemaschine befand. Essen und Trinken war in Laboren für gewöhnlich und vollkommen zurecht verboten... Aber das war Pugals alleiniges Reich und er konnte sich Kaffee kochen wo und wann immer er wollte. Und niemand konnte ihn daran hindern! Als der erste Schluck Wasser seine Kehle herunterfloss, ließ der Schmerz schlagartig nach. Neben ihm brodelte die Kaffeemaschine und verströmte ihr köstliches Aroma. Das melodische Kochen und Reißen weckte seine Lebensgeister.
Reißen?
Mit einem Satz war er ans andere Ende des Ganges gehechtet. Pugal traute seinen Augen nicht. Nia Toshiki stand auf wackeligen Beinen, ihre Augen waren zu wütenden Schlitzen verengt.
Wie um alles in der Welt?
Ein Blick auf den Tisch genügte: Die Schwefelsäure.
Die gottverdammte Schwefelsäure konnte sich natürlich auch durch das Leder fressen, das Nia an Ort und Stelle befestigt hatte! Fast hätte er über seinen eigenen dummen Fehler gelacht.
Aber auch nur fast.
"Fluchtversuche sind zwecklos.", grollte Pugal, der die Tür in seinem Rücken wusste. Sie konnte nicht entkommen.
Nia hielt die Glasflasche mit der Säure fest umklammert.
Sie wollte hier raus. Und sie würde hier auch raus kommen!
Entschlossen sprintete sie nach vorne. Der Stöpsel der Flasche war entfernt worden. Ein Schwall farbloser Flüssigkeit ergoss sich über ihn. Gerade noch rechtzeitig riss er seinen Arm hoch. Binnen Sekunden fraß sich die Schwefelsäure durch seinen Laborkittel. Mit einem Ruck hatte er das Kleidungsstück von seinem Körper gerissen. Wütend versuchte er, Nia den Kittel über den Kopf zu werfen, doch die dünne Klinge ihres Degens zerstörte seinen Plan.
Blutverschmiert, zerzaust, aufgebracht und entschlossen stand er Nia gegenüber, die ihre Degenspitze an seinen Hals hielt. Doch in ihrem Blick war zeitgleich Todesangst zu lesen. Sie glich einem verwundeten Tier, welches mit allen Mitteln flüchten wollte.
Ach ja, der Herzschlüssel... Den hatte er tatsächlich vollkommen vergessen. Diese Eigenart eines Rulers, die Waffe seines Herzens jederzeit materialisieren zu können, da sich der Schlüssel für gewöhnlich im Körper befand. Es war aber auch nicht abzusehen gewesen, dass sich Nia Toshiki wehren würde. Und schon gar nicht nach so vielen, nervenzehrenden und langatmigen Versuchen!
Ein gehässiges Grinsen huschte über seine Lippen. Die Wucht des Aufpralls mit seinem Rabenschnabel entriss ihr die Waffe. Perplex starrte Nia ihrer scheppernd zu Boden fallenden Waffe hinterher.
Nia war nicht die Einzige, die einen solchen Herzschlüssel besaß!
Nun war Pugal an der Reihe, Nia seine Waffe an den Hals zu halten. Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Er konnte die Räder in ihrem Kopf förmlich rattern hören. Dieses Mädchen wusste immer wieder, wie sie ihn amüsieren konnte! Aber irgendwo hatte der Spaß ein Loch. Vor allem, wenn sich sein Versuchsobjekt aus dem Staub zu machen versuchte!
Pfeilschnell schoss Nia nach vorne. Den Rabenschnabel stieß sie unsanft zur Seite. Mit aller Kraft, den ihr entkräfteter, malträtierter Körper aufbringen konnte, stieß sie das Seziermesser in Pugals Seite.
Pugal keuchte laut auf und krümmte sich vor Schmerz. Knirschend ging er in die Knie.
Jetzt war ihre Chance gekommen!
Wenn sie richtig gedacht hatte, musste die Tür von innen jederzeit zu öffnen sein. Ein Labor konnte nicht von innen abgeschlossen werden - zumindest nicht die modernen, die mithilfe eines programmierten Schlüssels geöffnet werden konnten.
Pure Verzweiflung sprach aus ihr, als sie sich an die Türklinke hing.
Die Tür öffnete sich und ein frischer Windstoß wehte hinein.
Freiheit. Nia schmeckte Freiheit.
"Nicht so schnell!", rief Pugal pfeifend und versetzte ihr mithilfe seines Rabenschnabels einen Kniekehlenkick. Nia fiel hin. Mit eiserner Faust umklammerte der Forscher ihren Fuß, während er mit der anderen das blutige Skalpell festhielt.
Bevor Nia reagieren konnte, schnitt er dem Mädchen quer und tief in die Wade. Ein stummer Schrei erfüllte den Raum. Mit hilfesuchenden Händen klammerte sie sich an den Feuerlöscher, der neben der Tür hing. Trotz Tränen in den Augen riss sie ihn von der Wand. Mithilfe ihrer letzten Kräften schleuderte sie ihn nach rücklinks nach hinten. Ein dumpfer Schlag war zu hören, doch sie drehte sich nicht um. Geistesabwesend griff sie nach ihrem in reichweite liegenden Degen. In Sekundenbruchteilen verwandelte er sich in einen Schlüssel und verschwand schließlich mit einem sanften Leuchten. Zittrige Hände stießen die Labortür weit auf. Schlurfend, humpelnd und hinkend stolperte sie so schnell durch die Gänge, wie es ihr möglich war. Kaum war sie ein paar Meter gegangen, waren ihre durchtrennten Muskeln in ihrem Bein wieder zusammen gewachsen. Mit wackligen Knien rannte sie los und bog um eine Ecke, bei der sie sich den Ausgang erhoffte.
Beinahe stieß sie mit jemanden zusammen. Nia taumelte rückwärts und fiel hin. Sie wollte jetzt nichts und niemanden sehen, solange sie nicht aus dieser Irrenanstalt entkommen war. Alles andere zählte nicht.
"Hoppsala!", stieß die Person aus. Rote, verwuschelte Lockenhaare umrahmten ein Sommersprossiges Gesicht mit grünen Augen. Fürsorglich bot er ihr seine Hand an. "Warte, ich helfe di-"
Seine Worte blieben ihm im Hals stecken, als er das Mädchen genauer ansah. Ihm gefror das Blut in seinen Adern.
"Ak-"
Überall klebte verkrustetes, dunkles Blut. Mit absoluter Sicherheit war es ihr eigenes, so viel wusste er instinktiv. Teile der Kleidung war zerrissen, angesengt oder weggeätzt und größtenteils konnte man die ursprüngliche Farbe der Kleidungsstücke nur noch erahnen. Was um alles in der Welt...? Der Forscher wurde kreidebleich und öffnete entsetzt die Lippen, als ein gellender Schrei über den Flur ertönte. Nia zuckte zusammen. Blanke Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Es war Pugal! Pugal suchte sie.
Und er würde sie finden.
Ohne zu zögern handelte der Mann. Mit Schwung brachte er sie wieder auf die Beine. Im gleichen Augenblick hielt er seinen programmierten Schlüssel an die nächstbeste Labortüre. Mit einem leisen Piepsen zeigte sie, dass sie entriegelt war. Mit größter Vorsicht, aber höchster Eile bugsierte er die junge Schülerin hinein. "Rühr dich nicht vom Fleck!", waren seine letzten Worte, bevor er die Tür ins Schloss warf.
Atemlos und verwirrt sah sich Nia um. War sie soeben vom Regen in die Traufe gekommen oder hatte der Mann sie gerade vor dem Schlimmsten bewahrt?
Dieser Mann...
War es möglich, dass dieser Mann...? Unsicher rappelte sich Nia auf und sah sich um. Dieses Labor war so ähnlich aufgebaut wie das von Pugal Kar, aber dennoch verströmte es mehr... Lebendigkeit und Wärme. Sofern man etwas derartiges von einem klinisch sauberen Labor überhaupt behaupten konnte. Aber kleine Girlanden hingen von der Decke, an die Wände waren Sprüche und Witze gepinnt und an den Abzügen standen allerlei Formeln, aber auch der Wetterbericht der kommenden Tage. Jedes Gerät war mit ausgeblichenen, alten Stickern von Kinderserien markiert und am Schreibtisch in der Ecke standen Unmengen an Fotos.
Zögerlich ging Nia darauf zu. Im Grunde ihres Herzens kannte sie die Antwort schon.
Im schummrigen Abendlicht ließ sie ihren Blick über die Fotos gleiten. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie die Gesichter wahrnahm.
Schüchtern, fast so als hätte sie Angst verletzt und zurückgewiesen werden, streckte Nia ihren Arm aus. Ihr Finger strich so behutsam über das Glas des Fotorahmens, als könnte die darin eingeschlossene Erinnerung bei der kleinen Berührung zerbersten.
"Mama... Papa...", flüsterte das junge, malträtierte Mädchen und brach in Tränen aus.