Kapitel 19: An uneasy Feeling
Mit einer ruckartigen Bewegung streifte sie sich die Handschuhe über. Geistesabwesend fuhr sie sich durch die Haare, während sich ihre Gedanken überschlugen.
Nia, Frau Wood, Salvatore Zefalus und Cedric Urs waren spurlos verschwunden. Keiner wusste, wo sie abgeblieben waren und sie hatten Niemandem eine Nachricht hinterlassen. Bei Cedric Urs war das nicht anders zu erwarten, aber dass Salvatore, der Schwarm aller Mädchen, so einfach abtauchen konnte war mehr als verwunderlich. Wahrscheinlich war das Verschwinden des sozialen Eisblocks namens Cedric Urs auch unbemerkt geblieben und keiner machte sich weiter Gedanken darüber. Es war ja nicht so, als hätte er überhaupt Freunde gehabt.
Katja stand umringt von einem Pulk Mitschüler im leeren Raum von Salvatore. Es waren keine persönlichen Gegenstände zurückgeblieben. Nichts deutete darauf hin, dass der berühmte Schüler dort seine letzten Jahre verbracht hatte. Ihre Augen verengten sich. Ruhig Blut. Niemand konnte ohne eine Spur zu hinterlassen einfach so verschwunden sein!
"Fehlt außer Salvatore Zefalus und Cedric Urs noch jemand von den Jungen aus der Realschule?", bohrte Katja mit finsterem Blick nach. Ein untrügliches Gespür sagte ihr, dass die Beiden erst die Spitze des Eisberges waren. Keiner der Schüler rührte sich, sodass das Mädchen einen bestimmteren Ton anschlagen musste. "Mindestens zwei Schüler werden vermisst und bei uns im Mädchenwohnheim fehlt mindestens Eine. Wir müssen schnellstens herausfinden, wo sie sind und ob es ihnen gut geht." Mit einer sehr herrischen, mächtigen Armgeste kommandierte sie zehn ihrer Mitschüler ab. "Ihr geht durch das ganze Wohnheim und schaut, wer noch verschwunden ist. Schreibt die Namen der Personen auf und bringt mir den Zettel. Teilt euch auf die beiden Flügel auf - in 20 Minuten erwarte ich euch wieder hier!"
Einer der Schüler wollte protestieren, aber Katjas Gesichtsausdruck ließ keine Widerrede zu. Nun wandte sie sich an die anderen. "Du besorgst Fotos von den vermissten Schülern, sobald der Suchtrupp wieder da ist." Der kleine, mollige Schüler nickte so eifrig, als würde sein Leben davon abhängen. "Wer von euch hat Salvatore Zefalus und Cedric Urs heute gesehen?" Einige verhaltene Finger gingen brav nach oben. Katja schöpfte Hoffnung. Es war bestimmt kein Zufall, dass Nia, Cedric und Salvatore verschwunden waren... Zumindest musste es einen Zusammenhang zwischen ihnen geben, auch wenn Katja nicht klar war, welcher das sein konnte.
"Du da im roten T-Shirt", forderte sie einen aus der Unterstufe zum Sprechen auf. "Er hat heute meinen Radiergummi aufgehoben, als ich im Gemeinschaftsraum war!", lispelte er und fügte stotternd hinzu: "Das f-fand ich sehr nett."
Ah, ein Fanboy... Beruhigend zu wissen, dass sich auch Jungs der Magie von Salvatore Zefalus nicht zu entziehen wussten. Alle außer Katja. Sie hatte noch nie den Hype um ihren Mitschüler verstanden, aber seine 'Berühmtheit' konnte ihr nun von Nutzen sein. Denn wo Salvatore war, konnte das süße Fangirl Nia gar nicht weit sein!
Zumindest war das ihre einzige Hoffnung.
"Haben alle Anderen Salvatore auch das letzte Mal im Gemeinschaftsraum gesehen?", hakte sie nach und alle nickten geflissentlich.
Verdammt. Diese Informationsquelle war schneller versiegt, als es Katja lieb war.
~*~
"Verdammte Scheiße!", schnaubte die Blondine mit bebender Stimme. Kunstvoll lackierte und mit kleinen Perlen verzierte Nägel wischten über den Bildschirm des neuesten Smartphonemodells, das es aktuell auf dem Markt gab. Die ausgestoßenen Laute des jungen Mädchens wurden immer unmenschlicher und dämonischer. Ihr Blut fing an zu kochen.
Ein kleiner Junge ging mit seinem Welpen spazieren und machte den Fehler, an Tanja Suck vorbeizugehen. "Was glotzt du so blöd, Kurzer?!", peitschte ihre klare Stimme durch die Luft. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. Wie ein Gewitter stolzierte sie an ihm vorbei, sodass der kleine Hund anfing zu fiepsen und den Schwanz einzuziehen.
Warum um alles in der Welt waren weder Tonia noch Anita zu erreichen? Sie hingen doch sonst an ihren Handys wie zwei Drogenabhängige an ihrer Spritze! Das Ding war quasi ihr Herzschrittmacher, der nie mehr als eine Armlänge von ihnen weg liegen durfte. Und nun waren sie einfach so verschollen? Von jetzt auf gleich nicht mehr auffindbar? Sämtliche Sachen gepackt, keine Nachricht hinterlassen und auch sonst nicht die kleinste Andeutung über ihr Verschwinden gemacht?! Das stank doch bis zum Himmel und noch viel weiter!
Tonia, Anita und Tanja waren das untrennbare Trio gewesen - quasi das böse Trio im Gegenteil zum engelsgleichen Duo Katja Müller und Nia Toshiki. Sie hatten immer zusammengehalten und kannten sich in- und auswendig. Plötzlich sang- und klanglos zu verschwinden passte zu keiner von ihnen. Die Abschlussprüfungen waren vorbei und sie wollten die letzten gemeinsamen Tage zusammen verbringen und gebührend feiern, bevor sie getrennter Wege gingen. So wirklich daran denken wollte auch Tanja nicht. Die letzten Jahre und vor allem das große und erfolgreiche Gemeinschaftsprojekt "Gerüchteküche" hatten sie zusammengeschweißt.
"Und genau deswegen sollen die Beiden wieder auftauchen! Aber pronto!", stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen laut hervor. Jede Sekunde, in der sie nicht zusammen waren, war vergeudete Zeit! War das denn den Beiden Zicken gar nicht bewusst?
"Wo sind diese Arschgeigen?", fauchte sie vor sich hier und bog um die Ecke.
Haselnussbraune, große Kulleraugen umrahmt von wilden, ungezähmten Locken starrten sie an.
~*~
"Ich kann nicht glauben, dass dir dasselbe widerfahren ist.", meinte Katja, die sich gerade einen Stuhl freischaufelte. Mindestens zehn Nagellackfläschen in allen Farben des Regenbogens fielen ihr dabei herunter, aber das schien die Blondine und Herrin des Zimmers herzlich wenig zu stören. Überall klebten überdimensional große Fotos von Salvatore Zefalus, die mit Blumen und Schriftzügen mit Lippenstift verziert worden waren. Ein Dutzend Diätzeitschriften stapelten sich auf dem Nachtschrank, während das Bett übersät mit Kleidern aus der neuesten Herbstkollektion war. Über dem Bett hing ein riesiger Setzkasten, in dem sich alle anderen Nagellacke, die Katja nicht soeben zu Boden geworfen hatte, befanden. Über dem chaotischen Schreibtisch war ein Spiegel angebracht, an dem ein Foto von Tonia, Tanja und Anita hing. Ansonsten konnte Katja noch einen kurzen Blick auf ein Diagramm erhaschen, das Tanjas Gewicht über die letzten Wochen grafisch darstellte. Wenn auch nur ein Wort davon stimmte, könnte man direkt vor Neid erblassen. Nicht, dass Katja viel darauf gab, wie viel man wog. Hauptsache, man fühlte sich selbst wohl - das war das Wichtigste!
"Und du hast schon eine Vermisstenanzeige aufgegeben?", unterbrach Tanja in einem barschen, aber besorgten Ton Katjas prüfenden Blick durch ihr kleines Reich.
"Ich konnte Nia nirgendwo finden und habe außerdem weder die Adresse noch die Telefonnummer von ihr zu Hause. In der Schule ist niemand mehr da, der mir darüber Auskunft geben könnte... Darum bin ich direkt zur Polizei gegangen.", erläuterte Katja geradeheraus. "Hab direkt ein Foto mitgehabt und abgegeben. Ich musste Nia beschreiben und sagen, wann ich sie wo das letzte Mal gesehen habe..."
Eine kurze Pause entstand.
"Und du hast natürlich gleich gesagt, dass alle Anderen auch verschollen sind?", hakte Tanja nach, die sich auf den Bettrand setzte und die Beine übereinanderschlug.
Katja nickte ernst. "Zuerst wollte der Polizist mir nicht glauben. Es ist ja auch sehr mysteriös, dass auf einen Schlag so viele Schüler spurlos verschwunden sind! Allein bei den Jungs fehlen... an die 30 Leute! Und wenn ich mir so anhöre, dass auch Tonia und Anita nicht auffindbar sind..."
"Klingt es ganz so, als gäbe es da einen Zusammenhang.", ergänzte Tanja und runzelte ihre Stirn noch mehr als ohnehin schon. "Wenn es helfen würde, würde ich schreien und Dinge aus dem Fenster werfen..."
Katja überging diesen jähzornigen Kommentar. "Morgen früh werde ich zum Direktor gehen. Ich habe von allen Schülern und Dank dir auch von einigen Schülerinnen Namen und Fotos zusammengetragen... Rechtlich gesehen hat die Schule seine Aufsichtspflicht verletzt, wenn Schüler vor dem Beenden der 10. Klasse einfach so verschwinden."
"Was du nicht alles weißt.", pfiff Tanja durch die Zähne. "Du scheinst ja nicht nur was in den Fingern, sondern auch Grips zu haben!"
"Bis einschließlich der 10. Klasse besteht Schulpflicht und damit auch die Pflicht der Schule, auf die Schüler aufzupassen. Wenn ein Schüler währenddessen verschwindet oder ihm etwas passiert, haftet die Schule."
"Nunja...", grübelte Tanja, "Aber was ist, wenn es außerhalb der Schulzeit passiert ist?"
"Wir sind in einem Internat.", warf Katja scharf dazwischen. Das sonst so kecke, aufgeweckte Mädchen hatte mit einem Schlag den Blick einer Mörderin. "Ich werde den Direktor morgen an seine Pflichten erinnern... Und wenn es das Letzte ist, was ich tue..."
~*~
Pünktlich wie ein Maurer stand Katja um 8 Uhr vor dem Sekreteriat. Am liebsten wäre sie direkt durch den Vorraum gestapft und hätte sich Zutritt zum Direktorat verschafft, aber... Man war ja ein gesitteter Mensch und Katja wollte niemanden vergraulen, auf dessen Hilfe sie eventuell noch angewiesen war.
Gerade wollte sie die Türklinke senken, als ein ihr vertrautes Gesicht auftauchte. "Hey Löwenmähne"
"Dir auch einen guten Morgen, Zottelhaar.", begrüßte Katja Tanja. "Hast du dich verlaufen oder was suchst du nach deinem Abschluss hier?"
"Weder noch. Nachdem du gestern Bericht erstattet hast, wollte ich dabei sein. Zu zweit sind wir glaubwürdiger als wenn es nur eine ist, findest du nicht?"
Irgendwie seltsam... Bis vor kurzem hätte Katja Tanja an die Gurgel springen können, weil sie Nia so gemobbt hatten. Aber die gemeinsame Sorge um ihre Freunde ließ die beiden starken jungen Frauen über diesen Problemen stehen. Zumindest für den Moment.
Mit einigem Stirnrunzeln und fragenden Blicken wurde das ungewöhnliche Pärchen in das Zimmer des Direktors gelassen. Weiße Möbel strahlten eine Ruhe und Nüchternheit aus. Die morgendliche Sonne schien zum Fenster hinein und bestrahlte einen Mann mittleren Alters mit ergrautem, schütteren Haar, das zu einem kleinen Zopf zusammengebunden war. Er saß tief gebeugt über einem Stapel Papier, den er mit einem Montblanc-Füller in Rekordzeit unterschrieb. Diese teuren, edlen Füller hatten ihren ganz eigenen Zauber... Allein durch ihre schwarze, bestechende Eleganz und einen stilisieren weißen Schneeberg am Ende des Füllers war er ein Eyecatcher. Und ein Statussymbol obendrein. Sein taubengrauer Anzug und die gelbe Krawatte zeigten, welches hohe Amt er in der Schule inne hatte.
Mit stoischer Ruhe hob er den Blick und musterte die beiden Schülerinnen. Viele hatten Angst vor dem Direktor. Das war per se nichts Ungewöhnliches, da er das höchste Tier an einer Schule war, aber... Die Augen des Direktors waren so hellblau, dass sie fast weiß erschienen. Eine Gänsehaut huschte Katja über den Rücken. Alles kein Problem. Sie hatte das unter Kontrolle.
"Guten Morgen die Damen. Was führt sie so früh zu mir, nachdem sie bereits alle Schulpflichten erfüllt haben?" Ein breites Lächeln ließ kleine Fältchen im Gesicht des Mannes entstehen. Mit einer geübten Bewegung steckte er den teuren Füller an seinen vorgesehenen Platz in der Brusttasche. Von dort schimmerte der versinnbildlichte weiße Gipfel unheilvoll. Kalt. Grausam. Unbarmherzig.
"Vielen Dank, dass sie zu so früher Stunde schon Zeit haben, uns zu empfangen, Herr Samui.", begann Katja mit den üblichen höflichen Floskeln, die leider zu jeder sozialen Interaktion dieser Art dazugehörten. "Leider ist der Anlass unseres Besuches kein erfreulicher." Sie machte eine kleine, künstliche Pause, damit diese Worte durchsickern und ihre Wirkung entfalten konnten. Doch das beständige Lächeln wich nicht aus dem Gesicht.
"Einige Schülerinnen und Schüler der 10. Klasse der Realschule sind spurlos verschwunden. Wir konnten keinerlei Kontakt herstellen und haben auch keine Notizen oder sonstige Hinweise auf ihr Verbleiben gefunden... Als wir das gestern Abend festgestellt haben, bin ich direkt zur -"
"Frau Müller", unterbrach Herr Samui den Informationsstrom mit erhobener Hand. "Ich glaube, sie machen sich ein wenig zu viel Gedanken. Ist es nicht logisch, dass man nach dem Ende der Schule endlich Mal eine Auszeit haben möchte? Endlich kann man aus diesem Gefängnis..." Er machte dabei eine ausholende Geste mit beiden Händen und sein Lächeln wurde noch breiter. "entkommen, nachdem man so viele Jahre seines Daseins darin fristen musste? Da haben die Meisten genug davon und brauchen einen Tapetenwechsel. Außerdem kostet das Internat jede Menge Geld. Viele Eltern sehen keinen Sinn mehr darin, ihr Kind auf der Schule zu lassen, wenn sie fertig sind. Das Zeugnis kann man sich auch bequem nach Hause schicken lassen, da muss man nicht im Wohnheim versauern und auf bessere Tage warten.
Und sie dürfen nicht vergessen..."
Dabei ruhten seine amüsierten, kalten Augen auf Tanja, "... dass einige bald ihre Ausbildung beginnen und keine Zeit mehr haben, ziellos irgendwelchen sinnlosen Hobbies zu fröhnen oder einfach so in den Tag hinein zu leben."
Die Blondine schwillte der Hals. "Ich fühle mich jetzt einfach mal nicht angesprochen, denn jeder Kommentar dazu würde vom eigentlichen Thema wegführen.", stieß Tanja mit sichtbar unterdrückter Wut aus. "Der Punkt ist nicht der, dass wir denken, dass unsere Freunde und Mitschüler einen drauf machen gegangen sind! Wir glauben, dass sie einfach verschwunden sind. So viele Jahre haben wir uns gegenseitig begleitet und unterstützt. Warum sollten sie einfach sang- und klanglos verschwinden und keine Nachricht hinterlassen haben?"
"Weil die Schule nur ein Abschnitt ihres Lebens ist. Sie sind noch zu jung, um das zu begreifen... Die Schule ist nur ein kurzer Zeitraum, der die Weichen für das spätere Leben stellt... Es wäre besser, wenn Sie schnell aus dem kindlichen Traum aufwachen, dass alle Freundschaften für immer halten. Wie heißt es so schön? 'Aus den Augen, aus dem Sinn'..." Das Lächeln wurde noch ein Stück breiter. Es wirkte fast grotesk.
"Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie uns nicht ernst nehmen" Diesmal war es an Katja, den Direktor zu unterbrechen. Es wurde ihr alles eindeutig zu bunt. Wie konnte man das Fehlen von so vielen Schülern auf die leichte Schulter nehmen? War das Bestandteil der Kompetenzen, die man als Führungsperson mitbringen musste?
Mit einem Schlag wuchtete Katja sämtliche Fotos auf den Tisch des Direktors. Dieser hob nur minimal die Augenbraue.
"Diese Schülerinnen und Schüler hier.", damit tippte sie auf die Fotos, die sich über die Fläche ergossen hatten, "sind seit gestern nicht mehr gesehen worden. Keiner der Mitbewohner oder Lehrer hat Bescheid gesagt bekommen. Keiner von ihnen ist telefonisch erreichbar. Das Elternhaus geht nicht ans Telefon. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass über 50 Schüler einfach so verschwinden und kein einziger von ihnen mehr erreichbar ist, ist verdammt gering. Außerdem sind all ihre persönlichen Gegenstände angefangen von Bekleidung, Büchern, Waschutensilien bis hin zu Möbeln komplett verschwunden und niemand weiß wohin. Sie können mir nicht sagen, dass das Zufall ist. Sie können mir nicht sagen, dass all diese Schüler und Schülerinnen sich spontan dazu entschlossen haben, zufällig am selben Tag ihre Zelte abzubrechen und ohne ein Lebenszeichen den Campus verlassen, auf dem sie so viele Jahre ihres doch so kurzen Lebens verbracht haben."
Katja war atemlos vor Wut, als sie sah, dass sich der Gesichtsausdruck des Direktors nicht ein My geändert hatte. Er setzte zum Sprechen an, doch die Brünette war schneller.
"Bitte fangen sie nun nicht an, dass alle in den Urlaub gefahren sind. Allein der Vorschlag ist absurd. Eines der größten Sorgenkinder ist Nia Toshiki. Sie war seit Jahren nicht mehr zu Hause... Glauben sie ernsthaft, dass sie sich so plötzlich in Luft auflösen kann? Nia hatte zu ihrem Vater nicht einmal Kontakt!"
Ein leises, heiseres Kichern war zu vernehmen. Beide Mädchen starrten fassungslos auf den Anzugträger.
"Meine Damen. Es gibt Dinge, die kann und wird man nicht verstehen. Es gibt Zufälle, die gibt es gleich gar nicht. Nias Vater, Roy Toshiki hat einen Antrag gestellt gehabt... Wo hab ich es denn...?"
Die Falten auf Katjas Stirn glichen inzwischen Furchen. Der Direktor öffnete eine Schublade und zog einen fein säuberlich gefalteten Brief hervor.
"Sehr geehrter Herr Samui,
ich (Roy Toshiki), bitte darum, mir das Zeugnis meiner Tochter per Post zukommen zu lassen. Bitte schicken Sie die Originale an folgende Adresse...", las der Direktor vor. "Das Zeugnis habe ich bereits abgeschickt und es sollte sich schon seit einigen Tagen in den Händen von Herrn Toshiki befinden. Mit der Übergabe des Zeugnisses erlischt auch die Daseinsberechtigung im Wohnheim, da die Schule als abgeschlossen gilt... Und damit erlischt auch die Aufsichtspflicht der Schule gegenüber der Schüler... Schließlich hat man nur bis einschließlich der 10. Klasse Schulpflicht und diese ist mit dem Erhalt des Zeugnisses abgegolten."
Er machte eine Pause. Behutsam legte er den Brief zur Seite und faltete seine Hände.
"Aber dieses Argument wollten Sie, als erfahrene, junge und aufstrebende, intelligente Geigenspielerin sowieso nicht bringen, habe ich Recht...?"
Katja und Tanja waren wie vom Donner gerührt.
"Warum hat Nia schon ihr Zeugnis?", hauchte die Blondine fassungslos. Sollten sie das nicht erst in ein paar Wochen bekommen?
"Die Abschlussprüfung ist korrigiert und das Zeugnis ist bereits gedruckt worden, da Herr Toshiki einen Antrag gestellt hat. Ähnliche Fälle gab es auch bei anderen Schülern, wie beispielsweise Herrn Miguel Luengo, wenn ich schon gerade sein Foto hier liegen habe."
Katja zuckte zusammen. Ihr Herzschlag setzte aus, wenn sie sich vorstellte, dass sogar Miguel fehlte. Krampfhaft konzentrierte sie sich darauf, ihre Hände nicht zu Fäusten zusammen zu ballen. Ganz ruhig.
Miguel...
"Ich glaube, Sie sind vernünftig und erwachsen genug, dass ich nicht die Zeit habe, jedes einzelne Schicksal eines jeden Schülers mit Ihnen durchzugehen. Das wäre außerdem gegen das Gesetz... Bei Nia Toshiki habe ich eine Ausnahme für sie gemacht, um Ihnen entgegen zu kommen und ihre Sorgen zu zerstreuen..."
"Neben den ganzen Schülerinnen und Schülern ist auch Frau Wood nicht mehr auffindbar!", warf Katja dazwischen. "Ihr Raum ist leer und man kann sie nicht mehr erreichen! Ich weiß nicht, wo meine..."
"...ehemalige Klassenleitung ist?", vervollkommnete Herr Samui den Satz und die Absolventin biss sich auf die Zunge. Sie nickte wütend.
"Auch hier kann ich sie beruhigen. Frau Wood ist im Schullandheim und währenddessen wurde ihr Umzug in ein neues Zimmer in die Wege geleitet. Schließlich wollen wir unsere Lehrer nicht doppelt und dreifach belasten!"
"Aber...", setzte Katja an. "Es sind Schüler spurlos verschwunden! Und Frau Wood!" Das war alles zu aalglatt. Als hätte Jemand ein Skript geschrieben, das er nun ablesen würde. Wie konnte er auf jede Frage, jeden Vorwurf und alles eine Antwort haben? Und dabei auch noch vollkommen ruhig bleiben? Lag es ernsthaft nur daran, dass sie nicht mehr seine Schüler waren?
Herr Samui seufzte theatralisch. "Das erwähnten Sie bereits, Frau Müller. Gefühlte... hundert Mal?"
Das Telefon klingelte.
"Wenn Sie mich nun entschuldigen würden... Ich habe zu tun.", ohne weitere Worte beantwortete er den Anruf und winkte mit einer desinteressierten Handbewegung die beiden jungen Frauen zum Ausgang.
~*~
Als Katja den Raum verließ, klingelte ihr Handy. Die Polizei teilte ihr mit, dass man die Suche nach den vermissten Schülerinnen und Schülern eingestellt hatte.
Gründe wurden keine genannt. Es wurde einfach aufgelegt.
Nia, Frau Wood, Salvatore Zefalus und Cedric Urs waren spurlos verschwunden. Keiner wusste, wo sie abgeblieben waren und sie hatten Niemandem eine Nachricht hinterlassen. Bei Cedric Urs war das nicht anders zu erwarten, aber dass Salvatore, der Schwarm aller Mädchen, so einfach abtauchen konnte war mehr als verwunderlich. Wahrscheinlich war das Verschwinden des sozialen Eisblocks namens Cedric Urs auch unbemerkt geblieben und keiner machte sich weiter Gedanken darüber. Es war ja nicht so, als hätte er überhaupt Freunde gehabt.
Katja stand umringt von einem Pulk Mitschüler im leeren Raum von Salvatore. Es waren keine persönlichen Gegenstände zurückgeblieben. Nichts deutete darauf hin, dass der berühmte Schüler dort seine letzten Jahre verbracht hatte. Ihre Augen verengten sich. Ruhig Blut. Niemand konnte ohne eine Spur zu hinterlassen einfach so verschwunden sein!
"Fehlt außer Salvatore Zefalus und Cedric Urs noch jemand von den Jungen aus der Realschule?", bohrte Katja mit finsterem Blick nach. Ein untrügliches Gespür sagte ihr, dass die Beiden erst die Spitze des Eisberges waren. Keiner der Schüler rührte sich, sodass das Mädchen einen bestimmteren Ton anschlagen musste. "Mindestens zwei Schüler werden vermisst und bei uns im Mädchenwohnheim fehlt mindestens Eine. Wir müssen schnellstens herausfinden, wo sie sind und ob es ihnen gut geht." Mit einer sehr herrischen, mächtigen Armgeste kommandierte sie zehn ihrer Mitschüler ab. "Ihr geht durch das ganze Wohnheim und schaut, wer noch verschwunden ist. Schreibt die Namen der Personen auf und bringt mir den Zettel. Teilt euch auf die beiden Flügel auf - in 20 Minuten erwarte ich euch wieder hier!"
Einer der Schüler wollte protestieren, aber Katjas Gesichtsausdruck ließ keine Widerrede zu. Nun wandte sie sich an die anderen. "Du besorgst Fotos von den vermissten Schülern, sobald der Suchtrupp wieder da ist." Der kleine, mollige Schüler nickte so eifrig, als würde sein Leben davon abhängen. "Wer von euch hat Salvatore Zefalus und Cedric Urs heute gesehen?" Einige verhaltene Finger gingen brav nach oben. Katja schöpfte Hoffnung. Es war bestimmt kein Zufall, dass Nia, Cedric und Salvatore verschwunden waren... Zumindest musste es einen Zusammenhang zwischen ihnen geben, auch wenn Katja nicht klar war, welcher das sein konnte.
"Du da im roten T-Shirt", forderte sie einen aus der Unterstufe zum Sprechen auf. "Er hat heute meinen Radiergummi aufgehoben, als ich im Gemeinschaftsraum war!", lispelte er und fügte stotternd hinzu: "Das f-fand ich sehr nett."
Ah, ein Fanboy... Beruhigend zu wissen, dass sich auch Jungs der Magie von Salvatore Zefalus nicht zu entziehen wussten. Alle außer Katja. Sie hatte noch nie den Hype um ihren Mitschüler verstanden, aber seine 'Berühmtheit' konnte ihr nun von Nutzen sein. Denn wo Salvatore war, konnte das süße Fangirl Nia gar nicht weit sein!
Zumindest war das ihre einzige Hoffnung.
"Haben alle Anderen Salvatore auch das letzte Mal im Gemeinschaftsraum gesehen?", hakte sie nach und alle nickten geflissentlich.
Verdammt. Diese Informationsquelle war schneller versiegt, als es Katja lieb war.
~*~
"Verdammte Scheiße!", schnaubte die Blondine mit bebender Stimme. Kunstvoll lackierte und mit kleinen Perlen verzierte Nägel wischten über den Bildschirm des neuesten Smartphonemodells, das es aktuell auf dem Markt gab. Die ausgestoßenen Laute des jungen Mädchens wurden immer unmenschlicher und dämonischer. Ihr Blut fing an zu kochen.
Ein kleiner Junge ging mit seinem Welpen spazieren und machte den Fehler, an Tanja Suck vorbeizugehen. "Was glotzt du so blöd, Kurzer?!", peitschte ihre klare Stimme durch die Luft. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. Wie ein Gewitter stolzierte sie an ihm vorbei, sodass der kleine Hund anfing zu fiepsen und den Schwanz einzuziehen.
Warum um alles in der Welt waren weder Tonia noch Anita zu erreichen? Sie hingen doch sonst an ihren Handys wie zwei Drogenabhängige an ihrer Spritze! Das Ding war quasi ihr Herzschrittmacher, der nie mehr als eine Armlänge von ihnen weg liegen durfte. Und nun waren sie einfach so verschollen? Von jetzt auf gleich nicht mehr auffindbar? Sämtliche Sachen gepackt, keine Nachricht hinterlassen und auch sonst nicht die kleinste Andeutung über ihr Verschwinden gemacht?! Das stank doch bis zum Himmel und noch viel weiter!
Tonia, Anita und Tanja waren das untrennbare Trio gewesen - quasi das böse Trio im Gegenteil zum engelsgleichen Duo Katja Müller und Nia Toshiki. Sie hatten immer zusammengehalten und kannten sich in- und auswendig. Plötzlich sang- und klanglos zu verschwinden passte zu keiner von ihnen. Die Abschlussprüfungen waren vorbei und sie wollten die letzten gemeinsamen Tage zusammen verbringen und gebührend feiern, bevor sie getrennter Wege gingen. So wirklich daran denken wollte auch Tanja nicht. Die letzten Jahre und vor allem das große und erfolgreiche Gemeinschaftsprojekt "Gerüchteküche" hatten sie zusammengeschweißt.
"Und genau deswegen sollen die Beiden wieder auftauchen! Aber pronto!", stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen laut hervor. Jede Sekunde, in der sie nicht zusammen waren, war vergeudete Zeit! War das denn den Beiden Zicken gar nicht bewusst?
"Wo sind diese Arschgeigen?", fauchte sie vor sich hier und bog um die Ecke.
Haselnussbraune, große Kulleraugen umrahmt von wilden, ungezähmten Locken starrten sie an.
~*~
"Ich kann nicht glauben, dass dir dasselbe widerfahren ist.", meinte Katja, die sich gerade einen Stuhl freischaufelte. Mindestens zehn Nagellackfläschen in allen Farben des Regenbogens fielen ihr dabei herunter, aber das schien die Blondine und Herrin des Zimmers herzlich wenig zu stören. Überall klebten überdimensional große Fotos von Salvatore Zefalus, die mit Blumen und Schriftzügen mit Lippenstift verziert worden waren. Ein Dutzend Diätzeitschriften stapelten sich auf dem Nachtschrank, während das Bett übersät mit Kleidern aus der neuesten Herbstkollektion war. Über dem Bett hing ein riesiger Setzkasten, in dem sich alle anderen Nagellacke, die Katja nicht soeben zu Boden geworfen hatte, befanden. Über dem chaotischen Schreibtisch war ein Spiegel angebracht, an dem ein Foto von Tonia, Tanja und Anita hing. Ansonsten konnte Katja noch einen kurzen Blick auf ein Diagramm erhaschen, das Tanjas Gewicht über die letzten Wochen grafisch darstellte. Wenn auch nur ein Wort davon stimmte, könnte man direkt vor Neid erblassen. Nicht, dass Katja viel darauf gab, wie viel man wog. Hauptsache, man fühlte sich selbst wohl - das war das Wichtigste!
"Und du hast schon eine Vermisstenanzeige aufgegeben?", unterbrach Tanja in einem barschen, aber besorgten Ton Katjas prüfenden Blick durch ihr kleines Reich.
"Ich konnte Nia nirgendwo finden und habe außerdem weder die Adresse noch die Telefonnummer von ihr zu Hause. In der Schule ist niemand mehr da, der mir darüber Auskunft geben könnte... Darum bin ich direkt zur Polizei gegangen.", erläuterte Katja geradeheraus. "Hab direkt ein Foto mitgehabt und abgegeben. Ich musste Nia beschreiben und sagen, wann ich sie wo das letzte Mal gesehen habe..."
Eine kurze Pause entstand.
"Und du hast natürlich gleich gesagt, dass alle Anderen auch verschollen sind?", hakte Tanja nach, die sich auf den Bettrand setzte und die Beine übereinanderschlug.
Katja nickte ernst. "Zuerst wollte der Polizist mir nicht glauben. Es ist ja auch sehr mysteriös, dass auf einen Schlag so viele Schüler spurlos verschwunden sind! Allein bei den Jungs fehlen... an die 30 Leute! Und wenn ich mir so anhöre, dass auch Tonia und Anita nicht auffindbar sind..."
"Klingt es ganz so, als gäbe es da einen Zusammenhang.", ergänzte Tanja und runzelte ihre Stirn noch mehr als ohnehin schon. "Wenn es helfen würde, würde ich schreien und Dinge aus dem Fenster werfen..."
Katja überging diesen jähzornigen Kommentar. "Morgen früh werde ich zum Direktor gehen. Ich habe von allen Schülern und Dank dir auch von einigen Schülerinnen Namen und Fotos zusammengetragen... Rechtlich gesehen hat die Schule seine Aufsichtspflicht verletzt, wenn Schüler vor dem Beenden der 10. Klasse einfach so verschwinden."
"Was du nicht alles weißt.", pfiff Tanja durch die Zähne. "Du scheinst ja nicht nur was in den Fingern, sondern auch Grips zu haben!"
"Bis einschließlich der 10. Klasse besteht Schulpflicht und damit auch die Pflicht der Schule, auf die Schüler aufzupassen. Wenn ein Schüler währenddessen verschwindet oder ihm etwas passiert, haftet die Schule."
"Nunja...", grübelte Tanja, "Aber was ist, wenn es außerhalb der Schulzeit passiert ist?"
"Wir sind in einem Internat.", warf Katja scharf dazwischen. Das sonst so kecke, aufgeweckte Mädchen hatte mit einem Schlag den Blick einer Mörderin. "Ich werde den Direktor morgen an seine Pflichten erinnern... Und wenn es das Letzte ist, was ich tue..."
~*~
Pünktlich wie ein Maurer stand Katja um 8 Uhr vor dem Sekreteriat. Am liebsten wäre sie direkt durch den Vorraum gestapft und hätte sich Zutritt zum Direktorat verschafft, aber... Man war ja ein gesitteter Mensch und Katja wollte niemanden vergraulen, auf dessen Hilfe sie eventuell noch angewiesen war.
Gerade wollte sie die Türklinke senken, als ein ihr vertrautes Gesicht auftauchte. "Hey Löwenmähne"
"Dir auch einen guten Morgen, Zottelhaar.", begrüßte Katja Tanja. "Hast du dich verlaufen oder was suchst du nach deinem Abschluss hier?"
"Weder noch. Nachdem du gestern Bericht erstattet hast, wollte ich dabei sein. Zu zweit sind wir glaubwürdiger als wenn es nur eine ist, findest du nicht?"
Irgendwie seltsam... Bis vor kurzem hätte Katja Tanja an die Gurgel springen können, weil sie Nia so gemobbt hatten. Aber die gemeinsame Sorge um ihre Freunde ließ die beiden starken jungen Frauen über diesen Problemen stehen. Zumindest für den Moment.
Mit einigem Stirnrunzeln und fragenden Blicken wurde das ungewöhnliche Pärchen in das Zimmer des Direktors gelassen. Weiße Möbel strahlten eine Ruhe und Nüchternheit aus. Die morgendliche Sonne schien zum Fenster hinein und bestrahlte einen Mann mittleren Alters mit ergrautem, schütteren Haar, das zu einem kleinen Zopf zusammengebunden war. Er saß tief gebeugt über einem Stapel Papier, den er mit einem Montblanc-Füller in Rekordzeit unterschrieb. Diese teuren, edlen Füller hatten ihren ganz eigenen Zauber... Allein durch ihre schwarze, bestechende Eleganz und einen stilisieren weißen Schneeberg am Ende des Füllers war er ein Eyecatcher. Und ein Statussymbol obendrein. Sein taubengrauer Anzug und die gelbe Krawatte zeigten, welches hohe Amt er in der Schule inne hatte.
Mit stoischer Ruhe hob er den Blick und musterte die beiden Schülerinnen. Viele hatten Angst vor dem Direktor. Das war per se nichts Ungewöhnliches, da er das höchste Tier an einer Schule war, aber... Die Augen des Direktors waren so hellblau, dass sie fast weiß erschienen. Eine Gänsehaut huschte Katja über den Rücken. Alles kein Problem. Sie hatte das unter Kontrolle.
"Guten Morgen die Damen. Was führt sie so früh zu mir, nachdem sie bereits alle Schulpflichten erfüllt haben?" Ein breites Lächeln ließ kleine Fältchen im Gesicht des Mannes entstehen. Mit einer geübten Bewegung steckte er den teuren Füller an seinen vorgesehenen Platz in der Brusttasche. Von dort schimmerte der versinnbildlichte weiße Gipfel unheilvoll. Kalt. Grausam. Unbarmherzig.
"Vielen Dank, dass sie zu so früher Stunde schon Zeit haben, uns zu empfangen, Herr Samui.", begann Katja mit den üblichen höflichen Floskeln, die leider zu jeder sozialen Interaktion dieser Art dazugehörten. "Leider ist der Anlass unseres Besuches kein erfreulicher." Sie machte eine kleine, künstliche Pause, damit diese Worte durchsickern und ihre Wirkung entfalten konnten. Doch das beständige Lächeln wich nicht aus dem Gesicht.
"Einige Schülerinnen und Schüler der 10. Klasse der Realschule sind spurlos verschwunden. Wir konnten keinerlei Kontakt herstellen und haben auch keine Notizen oder sonstige Hinweise auf ihr Verbleiben gefunden... Als wir das gestern Abend festgestellt haben, bin ich direkt zur -"
"Frau Müller", unterbrach Herr Samui den Informationsstrom mit erhobener Hand. "Ich glaube, sie machen sich ein wenig zu viel Gedanken. Ist es nicht logisch, dass man nach dem Ende der Schule endlich Mal eine Auszeit haben möchte? Endlich kann man aus diesem Gefängnis..." Er machte dabei eine ausholende Geste mit beiden Händen und sein Lächeln wurde noch breiter. "entkommen, nachdem man so viele Jahre seines Daseins darin fristen musste? Da haben die Meisten genug davon und brauchen einen Tapetenwechsel. Außerdem kostet das Internat jede Menge Geld. Viele Eltern sehen keinen Sinn mehr darin, ihr Kind auf der Schule zu lassen, wenn sie fertig sind. Das Zeugnis kann man sich auch bequem nach Hause schicken lassen, da muss man nicht im Wohnheim versauern und auf bessere Tage warten.
Und sie dürfen nicht vergessen..."
Dabei ruhten seine amüsierten, kalten Augen auf Tanja, "... dass einige bald ihre Ausbildung beginnen und keine Zeit mehr haben, ziellos irgendwelchen sinnlosen Hobbies zu fröhnen oder einfach so in den Tag hinein zu leben."
Die Blondine schwillte der Hals. "Ich fühle mich jetzt einfach mal nicht angesprochen, denn jeder Kommentar dazu würde vom eigentlichen Thema wegführen.", stieß Tanja mit sichtbar unterdrückter Wut aus. "Der Punkt ist nicht der, dass wir denken, dass unsere Freunde und Mitschüler einen drauf machen gegangen sind! Wir glauben, dass sie einfach verschwunden sind. So viele Jahre haben wir uns gegenseitig begleitet und unterstützt. Warum sollten sie einfach sang- und klanglos verschwinden und keine Nachricht hinterlassen haben?"
"Weil die Schule nur ein Abschnitt ihres Lebens ist. Sie sind noch zu jung, um das zu begreifen... Die Schule ist nur ein kurzer Zeitraum, der die Weichen für das spätere Leben stellt... Es wäre besser, wenn Sie schnell aus dem kindlichen Traum aufwachen, dass alle Freundschaften für immer halten. Wie heißt es so schön? 'Aus den Augen, aus dem Sinn'..." Das Lächeln wurde noch ein Stück breiter. Es wirkte fast grotesk.
"Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie uns nicht ernst nehmen" Diesmal war es an Katja, den Direktor zu unterbrechen. Es wurde ihr alles eindeutig zu bunt. Wie konnte man das Fehlen von so vielen Schülern auf die leichte Schulter nehmen? War das Bestandteil der Kompetenzen, die man als Führungsperson mitbringen musste?
Mit einem Schlag wuchtete Katja sämtliche Fotos auf den Tisch des Direktors. Dieser hob nur minimal die Augenbraue.
"Diese Schülerinnen und Schüler hier.", damit tippte sie auf die Fotos, die sich über die Fläche ergossen hatten, "sind seit gestern nicht mehr gesehen worden. Keiner der Mitbewohner oder Lehrer hat Bescheid gesagt bekommen. Keiner von ihnen ist telefonisch erreichbar. Das Elternhaus geht nicht ans Telefon. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass über 50 Schüler einfach so verschwinden und kein einziger von ihnen mehr erreichbar ist, ist verdammt gering. Außerdem sind all ihre persönlichen Gegenstände angefangen von Bekleidung, Büchern, Waschutensilien bis hin zu Möbeln komplett verschwunden und niemand weiß wohin. Sie können mir nicht sagen, dass das Zufall ist. Sie können mir nicht sagen, dass all diese Schüler und Schülerinnen sich spontan dazu entschlossen haben, zufällig am selben Tag ihre Zelte abzubrechen und ohne ein Lebenszeichen den Campus verlassen, auf dem sie so viele Jahre ihres doch so kurzen Lebens verbracht haben."
Katja war atemlos vor Wut, als sie sah, dass sich der Gesichtsausdruck des Direktors nicht ein My geändert hatte. Er setzte zum Sprechen an, doch die Brünette war schneller.
"Bitte fangen sie nun nicht an, dass alle in den Urlaub gefahren sind. Allein der Vorschlag ist absurd. Eines der größten Sorgenkinder ist Nia Toshiki. Sie war seit Jahren nicht mehr zu Hause... Glauben sie ernsthaft, dass sie sich so plötzlich in Luft auflösen kann? Nia hatte zu ihrem Vater nicht einmal Kontakt!"
Ein leises, heiseres Kichern war zu vernehmen. Beide Mädchen starrten fassungslos auf den Anzugträger.
"Meine Damen. Es gibt Dinge, die kann und wird man nicht verstehen. Es gibt Zufälle, die gibt es gleich gar nicht. Nias Vater, Roy Toshiki hat einen Antrag gestellt gehabt... Wo hab ich es denn...?"
Die Falten auf Katjas Stirn glichen inzwischen Furchen. Der Direktor öffnete eine Schublade und zog einen fein säuberlich gefalteten Brief hervor.
"Sehr geehrter Herr Samui,
ich (Roy Toshiki), bitte darum, mir das Zeugnis meiner Tochter per Post zukommen zu lassen. Bitte schicken Sie die Originale an folgende Adresse...", las der Direktor vor. "Das Zeugnis habe ich bereits abgeschickt und es sollte sich schon seit einigen Tagen in den Händen von Herrn Toshiki befinden. Mit der Übergabe des Zeugnisses erlischt auch die Daseinsberechtigung im Wohnheim, da die Schule als abgeschlossen gilt... Und damit erlischt auch die Aufsichtspflicht der Schule gegenüber der Schüler... Schließlich hat man nur bis einschließlich der 10. Klasse Schulpflicht und diese ist mit dem Erhalt des Zeugnisses abgegolten."
Er machte eine Pause. Behutsam legte er den Brief zur Seite und faltete seine Hände.
"Aber dieses Argument wollten Sie, als erfahrene, junge und aufstrebende, intelligente Geigenspielerin sowieso nicht bringen, habe ich Recht...?"
Katja und Tanja waren wie vom Donner gerührt.
"Warum hat Nia schon ihr Zeugnis?", hauchte die Blondine fassungslos. Sollten sie das nicht erst in ein paar Wochen bekommen?
"Die Abschlussprüfung ist korrigiert und das Zeugnis ist bereits gedruckt worden, da Herr Toshiki einen Antrag gestellt hat. Ähnliche Fälle gab es auch bei anderen Schülern, wie beispielsweise Herrn Miguel Luengo, wenn ich schon gerade sein Foto hier liegen habe."
Katja zuckte zusammen. Ihr Herzschlag setzte aus, wenn sie sich vorstellte, dass sogar Miguel fehlte. Krampfhaft konzentrierte sie sich darauf, ihre Hände nicht zu Fäusten zusammen zu ballen. Ganz ruhig.
Miguel...
"Ich glaube, Sie sind vernünftig und erwachsen genug, dass ich nicht die Zeit habe, jedes einzelne Schicksal eines jeden Schülers mit Ihnen durchzugehen. Das wäre außerdem gegen das Gesetz... Bei Nia Toshiki habe ich eine Ausnahme für sie gemacht, um Ihnen entgegen zu kommen und ihre Sorgen zu zerstreuen..."
"Neben den ganzen Schülerinnen und Schülern ist auch Frau Wood nicht mehr auffindbar!", warf Katja dazwischen. "Ihr Raum ist leer und man kann sie nicht mehr erreichen! Ich weiß nicht, wo meine..."
"...ehemalige Klassenleitung ist?", vervollkommnete Herr Samui den Satz und die Absolventin biss sich auf die Zunge. Sie nickte wütend.
"Auch hier kann ich sie beruhigen. Frau Wood ist im Schullandheim und währenddessen wurde ihr Umzug in ein neues Zimmer in die Wege geleitet. Schließlich wollen wir unsere Lehrer nicht doppelt und dreifach belasten!"
"Aber...", setzte Katja an. "Es sind Schüler spurlos verschwunden! Und Frau Wood!" Das war alles zu aalglatt. Als hätte Jemand ein Skript geschrieben, das er nun ablesen würde. Wie konnte er auf jede Frage, jeden Vorwurf und alles eine Antwort haben? Und dabei auch noch vollkommen ruhig bleiben? Lag es ernsthaft nur daran, dass sie nicht mehr seine Schüler waren?
Herr Samui seufzte theatralisch. "Das erwähnten Sie bereits, Frau Müller. Gefühlte... hundert Mal?"
Das Telefon klingelte.
"Wenn Sie mich nun entschuldigen würden... Ich habe zu tun.", ohne weitere Worte beantwortete er den Anruf und winkte mit einer desinteressierten Handbewegung die beiden jungen Frauen zum Ausgang.
~*~
Als Katja den Raum verließ, klingelte ihr Handy. Die Polizei teilte ihr mit, dass man die Suche nach den vermissten Schülerinnen und Schülern eingestellt hatte.
Gründe wurden keine genannt. Es wurde einfach aufgelegt.