Kapitel 13: Never gonna be alone
Nia
kam es vor, als hätte sie die ganze Zeit geträumt.
Viele, viele Jahre lang, bis zum heutigen Tag.
Wie lange war das wohl? Mehr als 15 Jahre insgesamt!
Doch nun fühlte sich das schwarzhaarige Mädchen, als wäre sie aus einem tiefen Schlaf erwacht. Als wäre sie vom Grund eines Sees an die Wasseroberfläche getrieben worden und konnte endlich frische Luft einatmen.
Bisher war das Mädchen in ihrem Leben immer beschützt und behütet worden. Ihre Eltern hatten sich aufopfernd um sie gekümmert und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. In der Schule hatte sie alsbald Katja kennengelernt, die sehr schnell zu Nias Beschützerin wurde. Niemals musste sich die junge Schülerin selbst wehren oder war gnadenlos der Kritik und den harschen Worten anderer ausgesetzt.
So zumindest war das bis vor wenigen Tagen.
Jetzt war sie nicht mehr in Watte gepackt und ihre beste Freundin federte nicht länger für sie das Meiste ab. Nun war sie auf sich allein gestellt. Sie spürte den Hass und die Abneigung ihrer Mitschüler direkt. Das Foto in der Gerüchteküche war nur der Anfang gewesen. Das Erwachen aus einem behüteten Leben. Ein Leben wie in einer Seifenblase.
Die nun geplatzt war.
Nia wusch sich das Gesicht. Langsam richtete sie sich auf und starrte sich im Spiegel an. Stahlblaue Augen glotzten zurück. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich.
Katja war nicht mehr da. Das schwarzhaarige Mädchen war aus ihrem normalen Alltagsleben herausgerissen worden und musste zum ersten Mal auf eigenen Beinen stehen. Noch fühlte sie sich schwach und wackelig, doch allmählich spürte sie, wie sich etwas in ihr veränderte. Erst war sie auf der Toilette zusammengeschlagen worden. Dann hatte sie den Kampf gegen Anita verloren und war bespuckt worden. Und jetzt die Niederlage gegen Lais... Zwar hatte ihre Mitschülerin wirklich fair gekämpft, aber das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
So konnte es nicht weitergehen!
Und das würde es auch nicht. Nia hatte es selbst in der Hand. So schnell würde sie nicht aufgeben.
~*~
Als sie aus dem Bad kam, schauten ihre beiden Huans auf. Salvatore war in ein Buch vertieft gewesen, während Cedric auf sein Smartphone gestarrt hatte.
"I-ich möchte mit euch reden!", stotterte Nia. Sofort war sie wütend auf sich, dass sie erneut so unsicher und eingeschüchtert klang. Aber sie konnte auch nicht erwarten, dass sie von eine auf die andere Sekunde ein vollkommen neuer Mensch war. Dennoch wollte sie von nun an an sich arbeiten.
Stumm tauschten die Jungs Blicke miteinander aus. Wenn solch ein Satz von einer Frau kam, war normalerweise Unheil im Verzug. Salvatore setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf und Cedric räusperte sich.
Ungeachtet dessen setzte sich Nia den beiden gegenüber. Konzentriert und mit angespanntem Gesicht massierte sie geistesabwesend ihre Hände und fixierte einen Punkt auf dem Boden.
"Ich habe so viele Fragen an euch, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll...", flüsterte sie mehr an sich als an ihre beiden Mitbewohner gerichtet. Diese lauschten gebannt. Nia wirkte irgendwie anders als sonst... Zwar war ihre Mimik und Gestik gleich, aber etwas in ihrer Stimme und in ihrem Blick hatte sich verändert.
Endlich schaute sie auf. In ihren meerblauen Augen stand Entschlossenheit. Selbst als sie Salvatore ins Gesicht sah, fing sie nicht an zu stottern. Sie wurde nicht einmal rot.
"Ihr seid also die stärksten Huans, die es gibt, habe ich das richtig verstanden?", fragte das Mädchen ohne Umschweife. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, wie sie das Thema adäquat hätte einleiten können... Nia war nie eine große Rednerin gewesen und stellte selten Fragen. Ihr Herz klopfte so stark, dass es ihre Huans fast hören mussten.
Salvatores Lächeln wurde breiter. "Das ist korrekt. Wir sind mit Abstand die mächtigsten Huans."
Cedric schwieg dazu. Sein Gesichtsausdruck war genauso grimmig wie immer.
Scharf atmete Nia ein. "Woher wisst ihr das?"
Ein langes, gedehntes Schweigen trat ein. Der blonde Hüne öffnete und schloss den Mund wieder – stumm wie ein Fisch, der im Trockenen lag. Das Lächeln ihres Schwarms war leicht verkrampft und wirkte ratlos.
"Ich meine... Ich habe euch förmlich vor ein paar Stunden erweckt und dennoch scheint jeder zu wissen, wie mächtig und stark ihr seid. Ihr habt euch davor direkt angefallen und wolltet euch am liebsten gegenseitig töten! Wie um alles in der Welt wissen die Anderen bitteschön von eurer Stärke? Auch Lais... Wie kann sie ein Veteran sein, wenn wir den Wake-Vorgang doch erst durchgeführt haben? Eine große Kampferfahrung sammelt man nicht über Nacht, das weiß sogar ich als Laie!", sprudelte es aus Nia hervor, die sich nun kaum noch bremsen konnte. Es ergab alles keinen Sinn! Salvatore und Cedric waren die mächtigsten Huans, obwohl ihre wahre Identität erst vor kurzem enthüllt wurde?
Salvatore zögerte. "Sagen wir es so... Wir, also Lais und wir... sind uns nicht zum ersten Mal begegnet." Cedric überlegte kurz und nickte dann zustimmend. So könnte man es durchaus formulieren!
"Ihr kennt euch also von... früher? Also vor der Zeit dieser neuen Schule?", bohrte Nia weiter.
"Ja.", antwortete Salvatore knapp.
"Das ist aber mehr als vage.", nuschelte das Mädchen und betrachtete ihre beiden Huans. "Und es beantwortet nicht die Frage, woher ihr und alle anderen von eurer Stärke wissen." Es wirkte nicht so, als würden sie konkrete Aussagen über diese Zeit machen wollen. Scheinbar schien es ihnen unangenehm zu sein. Oder war es peinlich? Nia seufzte. Wie sollte sie vorwärts kommen, wenn nicht einmal ihre eigenen Huans sich als kooperativ erwiesen?
"Also ich fasse zusammen: Obwohl ihr die beiden mächtigsten Huans seid, haben wir zwei von zwei Kämpfen verloren. Oder drei von drei, wenn man die zweite Runde von Lais miteinbezieht." Ihre Jungs hüllten sich in Schweigen. "Im Umkehrschluss heißt das entweder, dass ihr nicht so mächtig seid wie ihr denkt oder dass ich an den Niederlagen Schuld bin."
Keine Reaktion.
Betrübt schaute das Mädchen zu Boden. Scheinbar war sie mit wirklich starken Huans gesegnet und dennoch scheiterte es an ihr. Es war ein deprimierendes Gefühl. Nia fühlte sich nutzlos und leer.
"Ganz so ist es nicht!", hakte Cedric ein, der ihren traurigen Gesichtsausdruck nicht länger mitansehen konnte. Neugierig schauten ihn zwei blaue Augen an. Er schluckte. "Wir haben dir einiges vorenthalten. Und wir haben uns auch überhaupt nicht abgesprochen! Oder Vertrauen entgegengebracht..." Salvatore musste ein Lachen unterdrücken, als er den letzten Satz vernahm. "Das nicht vorhandene Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit!" Von einem auf den anderen Moment schien es, als würden die Beiden in Flammen stehen. Wütende Blicke wurden ausgetauscht.
"Hört auf!", ging Nia dazwischen und nahm erst die Hand von Salvatore und dann von Cedric zwischen ihre kleinen, kalten Finger. Die Ohren des Eisbärenhuan glühten und er unterdrückte den Drang, nicht reflexartig wegzuziehen.
Nias Wangen waren fast besorgniserregend gerötet, als sie Salvatore ins Gesicht sah. "Wir sind jetzt ein Team, egal ob ihr euch hasst oder nicht. Wenn wir gemeinsam kämpfen und gewinnen wollen, müssen wir etwas an unserer Einstellung ändern.
Alle drei."
Tief atmete das Mädchen durch. Auf ihrem Gesicht waren ihre Gefühlsregungen deutlich abzulesen. Anspannung, Angst, Nervosität und Verlegenheit wechselten sich im Sekundentakt ab. Schließlich machten sie einer zarten Entschlossenheit Platz. Es konnte einfach nicht ewig so weitergehen wie bisher. Lange genug war sie schwach gewesen...
"I-ich bin selber kein Experte, was das Schließen von Freundschaften angeht... Ich habe bislang nur Katja gehabt und..." Ihr Blick wurde trüb, als sie an ihre beste Freundin dachte. Wo sie jetzt wohl steckte? Suchte Katja nach ihr? Machte sie sich Sorgen?
"Auf alle Fälle möchte ich, dass ihr darüber nachdenkt, was wir tun können, um die Situation zu verbessern!", schloss Nia in einem Atemzug. Es hätte fast überzeugend geklungen, wenn ihre Stimme nicht hörbar gezittert hätte. Fest umschloss Nia mit ihrer rechten Cedrics Hand und mit ihrer Linken die von Salvatore. Ihr Schwarm erwiderte ihre Geste mit einem eisernen Griff, während der blonde Hüne behutsam ihre Hand in seine nahm und geistesabwesend mit dem Daumen streichelte.
"Und es hilft gar nichts, wenn ihr mir nicht einmal sagen könnt, warum ihr glaubt, dass ihr die stärksten Huans seid. Wie soll ich jemandem Vertrauen und mich auf ihn verlassen, wenn nicht einmal solche Informationen preisgegeben werden? Ich bin jetzt mit euch zusammen in dieser Misere... Oder fremden Welt oder wie auch immer ihr das hier nennen wollt. Wenn wir nicht schnell aufeinander bauen können oder ihr mir sagt, was los ist, dann... Sehe ich schwarz für uns. Und ständig zu verlieren kann auch nicht in eurem Interesse sein."
Mit einem Ruck stand Nia auf.
"W-Während ihr darüber nachdenkt, werde ich Lais suchen und mir Tipps zum Kämpfen holen! Ich möchte nicht noch einmal, dass jemand meine Huans so vernichtend schlägt...!" Ohne weitere Worte wirbelte sie eilig aus dem Raum heraus und hinterließ zwei etwas überrumpelte und verwirrte junge Männer. Was war denn bitte in Nia gefahren?
Cedric starrte auf seine Hand, die eben noch Nias' gehalten hatte.
Eine Lösung finden, damit sie als Team zusammenarbeiten können... Informationen preisgeben... Ihm fröstelte. Angst umklammerte sein Herz. Er wollte Nia mit allen Mitteln beschützen und doch...
"Am liebsten würde ich dich töten, Cedric Urs.", flüsterte Salvatore kaum hörbar und bar jeglicher Emotion, während er in seinem Buch umblätterte. Die Worte waren so leise gesprochen worden, dass sie fast unwirklich erschienen.
"Das beruht auf Gegenseitigkeit!", knurrte der Angesprochene mit unverholener Wut. Der Frauenschwarm schaute auf und nagelte den Eisbärenhuan mit seinem Blick förmlich fest. "Und noch etwas, wenn wir schon dabei sind: Hör auf so zu tun, als wärst du ein verliebter Narr. Wir wissen beide, dass Nia eine... essentielle Zutat für unsere jeweiligen Pläne ist."
Cedric ballte die Fäuste. Sein Blick war finster und verschlossen.
~*~
So groß konnte die Schule doch gar nicht sein, dass Nia ihre Mitschülerin Lais einfach nicht finden konnte! Wohin konnte das pinkhaarige Mädchen bitte gegangen sein? Es war früher Nachmittag und Lais wirkte nicht so, als würde sie sich ins Zimmer einsperren... Inzwischen nahm die Schwarzhaarige den pompösen Dekor an der Decke gar nicht mehr wahr. An den korinthischen Säulen und den reichverzierten, schweren Eichentüren hechtete sie regelrecht vorbei.
Bestimmt zum zehnten Mal ging Nia den Gang im Laufschritt auf und ab. Sie hatte jedes Klassenzimmer durchforstet und einige wenige Schüler gefragt, ob sie Lais gesehen hatten. Normalerweise würde sie sich dabei vor Nervosität auf die Zunge beißen, aber bislang war sie tapfer gewesen! Nia war sehr introvertiert, sodass jeder Kontakt zu fremden Menschen sie in helle Aufregung versetzte. Doch nun war sie viel zu beschäftigt und zu konzentriert, als diese Aufregung tatsächlich wahrzunehmen.
Ein Gutes hatte die Suche nach Lais: Inzwischen kannte sich Nia so gut im Schulgebäude aus, dass sie sich keine Sorgen machte, sich in Zukunft zu verlaufen! Die Zeiten, in denen sie zu spät kam, da sie das Klassenzimmer nicht fand, waren damit wohl endgültig vorbei! Das Gebäude kannte sie nun so gut wie ihre Westentasche. Seufzend lehnte Nia ihren Kopf gegen ein Fenster. So traurig es klang, aber allmählich schwand das Feuer in ihr, das unbedingt neue Strategien erlernen und kämpfen wollte. Irgendwie konnte sie nicht glauben, dass sie Salvatore und Cedric vorhin so zur Rede gestellt hatte. Wahrscheinlich hatte sie den Mut ihres gesamten Lebens dafür aufgebraucht. Nia war und blieb anscheinend ein Schwächling...
Als sie die Augen aufschlug, erblickte sie unter eine Ulme sitzend-
"Lais!", stieß sie aus und riss vor Freude das Fenster fast aus den Angeln. "Lais!", rief das Mädchen ihrer Mitschülerin freudig zu. "Beweg dich nicht vom Fleck, ich komme zu dir!"
Der Blick der Angesprochenen ließ erahnen, dass das jedoch genau ihr Plan war. Aber Nia hechtete so schnell durch die Gänge und flog die Treppen hinunter, dass Lais ihr nicht entwischen konnte. Die sportliche Betätigung von Nia machte sich doch mal bezahlt!
Entnervt und ertappt drehte sich Lais um. "Und was hab ich dir bitteschön getan, dass du mir nicht meinen Seelenfrieden lässt?"
"Du hast mir von verschiedenen Strategien erzählt und ich möchte etwas von dir lernen!", fiel Nia direkt mit der Tür ins Haus. Seltsamerweise war sie immer offen und ehrlich, wenn sie mit ihrer Mitschülerin sprach. Langsam wurde es dem schüchternen Ruler unheimlich, so extrovertiert gegenüber Lais zu sein... Erst die Aufforderung zum Kampf und nun die fast unabschlagbare Bitte, ihr etwas beizubringen. Deshalb fügte sie schnell mit einer formvollendeten, japanischen Verbeugung hinzu: "Ich bitte dich darum."
Einige Sekunden kam keine Antwort. Nia brach kalter Angstschweiß aus. Wenn Lais sich nicht bereit erklären würde, sie unter ihre Fittiche zu nehmen... Über diesen Fall hatte sie irgendwie noch gar nicht nachgedacht!
"Bilde dir ja nicht ein, ich wäre ein Ersatz für Katja Müller.", knurrte die Pinkhaarige und setzte sich ins Gras. Nia schaute perplex. Was hatte Katja damit zu tun?
"Willst du dich auch hinsetzen oder willst du Wurzeln schlagen?", fragte Lais keck und reckte ihren Hals.
Ein strahlendes Lächeln huschte über Nias Gesicht, als sie sich wortwörtlich auf den Boden fallen ließ.
"Ich habe keine Ahnung, was dir deine Huans schon alles erzählt haben und was nicht... Durch den Kampf konnte ich dich aber ein wenig näher kennenlernen, darum gehe ich davon aus, dass du... nicht so sonderlich viel Ahnung hast.", holte Lais erstaunlich lange aus. Scheinbar hatte sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden, nun Nias Instrukteur zu sein. Oder unter ihrer harten Schale steckte ein weicherer Kern als sich zunächst erahnen ließ.
"Du bist ein Ruler und kämpfst mit zwei Huans, soweit weißt du das ja." Mit leerem Blick spielte sie mit einem ihrer langen, geflochtenen Zöpfe. "Was mich gleich zu meiner ersten Frage bringt: Warum in Gottes Namen kämpfst du immer nur mit einem Huan?"
Nia überlegte kurz. "I-ich weiß nicht...? Die Last von einem Huan ist schon so groß, dass ich nicht weiß, ob ich einen weiteren... verkraften könnte... Ich fühle mich, als würde ich unter diesem Gewicht zerbrechen... Mir ist dann so, als wäre ich eine Ertrinkende, die auf den Grund des Meeres sinkt..."
"Ich verstehe.", seufzte Lais, "Wie willst du gewinnen, wenn du nur halbherzig kämpfst und Angst hast? Wie willst du als Team Vertrauen schaffen, wenn du immer einen ausschließt? Wie willst du als Team kämpfen, wenn du ohne Ausnahme immer den Einen bevorzugst?" Ihr Blick bohrte sich in den von Nia. Sie schluckte hart. "I-ich weiß nicht...? Ich hasse Cedric Urs, auch wenn es manchmal fast grundlos erscheint... Aber jede Faser meines Körpers sträubt sich dagegen, mit ihm zu tun zu haben!" Nia blähte wütend die Backen.
"Du widersprichst dir selbst. Du willst besser kämpfen können? Dann musst du deinen Huans vertrauen und eine Art Freundschaft zu ihnen aufbauen. Wenn du einen von ihnen hasst, wirst du niemals auf einen grünen Zweig kommen.", wies ihre Mitschülerin sie zurecht. Nia schwieg. Lais hatte Recht, aber es war so schwer, jemandem zu vertrauen, den man hasste. Allein wenn Nia Cedric sah, wurde sie wütend. Alles an ihm störte sie einfach. Seine Mimik, seine Gestik, die Blicke, die er ihr zuwarf, seine Stimme, seine unsoziale Art, einfach alles! Andererseits – wer hatte gesagt, dass es leicht werden würde? War Nia ernsthaft davon ausgegangen, dass sie Vertrauen zu jemanden aufbauen könnte, ohne nicht selbst bereit zu sein, etwas dafür zu tun?
"Gib beim nächsten Mal einfach auch dem Anderen eine Chance, sich unter Beweis zu stellen. Und benutz deinen Herzschlüssel, wenn wir schon dabei sind."
Nia horchte auf. "Herzschlüssel?", echote sie mit einem verständnislosen Ausdruck in der Stimme. Lais verzog das Gesicht. "Anscheinend haben dich deine Huans diesbezüglich auch noch nicht unterrichtet." Ohne weitere Erklärungen zog sie den reich verzierten Schlüssel aus ihrer Rocktasche. Soweit sich Nia erinnern konnte, hatte dieser sich in den Schild verwandelt! Warum war er noch da? War es nicht so, dass alle Schlüssel nach dem einmaligen Gebrauch verschwanden?
"Ein Herzschlüssel ist deine Waffe und wird von dir... geboren, um es mal kitschig auszudrücken. Normalerweise sind das Schwerter oder Pfeil und Bogen. Bei mir ist es eben ein Schild.", schnaubte Lais mit hörbarem Stolz auf die Besonderheit ihrer Waffe. "Dieser Schlüssel verschwindet nicht, egal wie oft du ihn benutzt."
"Woher kriege ich den?" Nias Wangen waren vor Aufregung ganz rot geworden. Eine Waffe? Das war unabdingbar, wenn sie überhaupt einen Kampf gewinnen wollte! War das vielleicht des Rätsels Lösung, warum sie so haushoch verloren hatten? Das Mädchen war ganz hibbelig vor Aufregung.
"Einer deiner Huans kann ihn für dich freisetzen. Frag doch später einfach!", meinte Lais. "Frag am Besten den Blondling, der ist der unangefochtene Meister der Schlüssel. Keiner hat so viele Kombinationen innerhalb kürzester Zeit erstellen können wie er."
Nia runzelte die Stirn, als sie diese Worte vernahm. Nicht, weil sich das Gespräch um den verhassten Cedric drehte, sondern vielmehr um den eigentlichen Inhalt. "Wie meinst du das 'kann Schlüssel erstellen'? Hab ich das so richtig verstanden? Und woher weißt du das eigentlich?"
Etwas entnervt rieb sich Lais die Stirn. "Reden deine Huans überhaupt mit dir oder was ist da los? Du wusstest ja nicht mal über den Herzschlüssel Bescheid, das ist echt ein Armutszeugnis für die!" Sie seufzte, während Nia entschuldigend zu Boden blickte und ihre Hände in ihren Rock krallte. "Sowohl Ruler als auch Huans können im Kampf Schlüssel verwenden. Du weißt ja, dass es ganz billige Schlüssel gibt, die nach dem einmaligen Einsatz verschwinden." Eifrig nickte Nia. Soweit wusste sie das tatsächlich. "Frau Wood hat auch von wertvolleren Schlüsseln erzählt, die einen gewissen... 'Preis' haben, damit man sie verwenden kann. Aber die Lehrerin hat dabei ein klitzekleines Detail unterschlagen:
Man kann Schlüssel auch selber zusammenstellen."
Nias Herzschlag beschleunigte sich. Schlüssel selbst zusammenstellen? Musste sie die etwa schmieden?
"Es ist nicht so wie du denkst. Man schmiedet nicht, sondern man verwendet schlicht und ergreifend einzelne Bauteile, um einen vollständigen Schlüssel zu erhalten. Warte, wenn ich es dir zeige, verstehst du es besser..." Mit diesen Worten kramte Lais in ihrer Umhängetasche mit "Sanitöter"-Aufdruck. Sie hielt Nia eine Art Ring, einen länglichen, dünnen Zylinder und einen Schlüsselbart unter die Nase. Gebannt lauschte sie der weiteren Erklärung. "Wenn du gut genug bist, kannst du spüren, was diese einzelnen Bestandteile für Kräfte beinhalten. Dieser Ring hier ist der Griff, der in diesem Fall Wind erzeugen kann. Der Stiel erzeugt Prismen, also geometrische Körper, die das Licht brechen... Der Bart des Schlüssels hier lässt es regnen." Während dieser Worte deutete Lais auf die einzelnen Teile. Nun nahm sie den Ring und den Stiel und fügte sie problemlos zusammen. Nia staunte Bauklötze. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Die beiden Einzelteile waren direkt miteinander verschmolzen! War das etwa Magie? Nun nahm das Mädchen auch den Bart und platzierte ihn an die vorgesehene Stelle. Ein zweites Mal verwuchsen die beiden Metallteile miteinander. Weder eine Naht noch etwas anderes ließen erahnen, dass der fertige Schlüssel soeben noch aus verschiedenen Kleinteilen zusammengesetzt worden war.
Wortlos drückte ihn Lais Nia in die Hand und nickte ihr zu. Nia fasste dies als Aufforderung auf, den Schlüssel zu testen. Binnen Sekunden erstrahlte zwischen den beiden ein kleiner Regenbogen, der durch den feinen Niesel entstanden war. Vor lauter Aufregung glühten die Wangen des Mädchens und sie strahlte über beide Ohren.
"Oh, das ist so hübsch!", flüsterte sie atemlos und Lais runzelte belustigt die Stirn. "Du bist echt eine Marke. Das ist ja wohl absolut nichts Besonderes. Wenn du wirklich gut werden willst, musst du lernen, mit Schlüsseln umzugehen. Du magst zwar die stärksten Huans haben, aber... Das schwächste Glied in der Kette bestimmt, wann alles zu Bruch geht."
Entschlossen schaute Nia Lais an. "Ich weiß, dass ich schwach und ängstlich bin. Aber ich bin heute zu dir gekommen, um meine Furcht zu überwinden und um endlich einen Schritt vorwärts zu gehen. Es gibt so viel, was ich nicht verstehe und erst nach und nach in Erfahrung bringen werde... Aber das heißt nicht, dass ich mich nicht anstrengen kann! Salvatore und Cedric wollen mir nicht einmal sagen, woher alle wissen, dass sie die stärksten Huans sind."
Langsam stand Nia auf und ballte die Faust. "Das werde ich noch herausfinden, ob sie wollen oder nicht."
Gleisendes Licht ließ Nia erstrahlen. Lais blinzelte. Das sonst so zerbrechliche Mädchen schaute zielbewusst in die Ferne. So einfach würde die Pinkhaarige Nia das nächste Mal nicht in die Knie zwingen!
Nun rappelte sie sich auch auf und klopfte ihr auf die Schulter. "So gefällst du mir schon viel besser. Man muss immer einmal mehr aufstehen als man hinfällt."
~*~
Während Nia den Gang entlangschlenderte, rekapitulierte sie noch einmal, was sie als nächstes tun wollte. Dabei murmelte sie leise vor sich hin und zählte die Punkte an ihren Fingern ab.
Für sie persönlich stand der 'Herzschlüssel' momentan im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wenn sie den hätte, könnte sie sich bei kommenden Kämpfen wehren und ihren Huans zur Seite stehen. Außerdem beschäftigte sie es immens, woher alle Welt wusste, wie unglaublich stark Salvatore und Cedric waren. Scheinbar wussten sie es schon lange... Vielleicht hatten sie zuvor gegeneinander gekämpft, um den Stärksten zu bestimmen? Und ausgerechnet bei den beiden war es im finalen Kampf zu einem Unentschieden gekommen? Angestrengt versuchte sie sich vorzustellen, wie ein Kampf zwischen einem Weißkopfseeadler und einem Eisbären aussehen könnte. Doch ihre Fantasie reichte nicht so weit, dass diese beiden wilden Tiere überhaupt gegeneinander einen Kampf auf Leben und Tod ausfechten könnten. Es passte einfach nicht! Aber wie sonst könnte man die Stärksten der Starken bestimmen, als mit einem Wettkampf?
Frustriert blähte sie die Wangen. War das echt so ein großes Geheimnis, dass ihre beiden Jungs nicht darüber reden konnten? Das war doch lächerlich! Wie sollte Nia mit ihnen zusammenarbeiten, wenn sie praktisch nichts über sie und ihre Fähigkeiten wusste?
Bei diesen Gedanken bog sie um die Ecke.
Ein riesengroßer Schatten baute sich vor ihr auf. Nia quietschte vor Schreck.
"Na wenn das mal nicht unsere kleine Nia ist!", feixte der Schülersprecher breit und verbeugte sich formvollendet.
"Wow Miguel, du hast mich zutode erschreckt!", meinte das Mädchen und musste dabei selbst lachen, wie ängstlich sie doch manchmal war.
"Aber, aber! So gruselig sehe ich ja wohl nicht aus!", gackerte er fröhlich und fügte augenzwinkernd hinzu: "Oder bist du durch deine beiden Adonis-Huans inzwischen an ein anderes Schönheitsniveau gewöhnt?"
Nia errötete. "Was redest du da?" Miguel betrachtete die Schwarzhaarige eindringlich von oben bis unten. Seine Augen blitzten. "Du siehst anders aus als sonst..." Geflissentlich überhörte das Mädchen diese Worte. Eine Frage brannte ihr auf der Seele und sie war froh, ihren Mitschüler endlich gefunden zu haben. "Miguel, mich beschäftigt seit der Ankunft an dieser Schule hier eine Frage."
Er wurde hellhörig und sein Lächeln wurde breit. "Ich kann mir denken, was es ist. Stell sie, holde Maid und dir soll kein Leid geschehen."
Nia holte tief Luft. "Miguel, bist du ein Huan oder ein Ruler?"
Viele, viele Jahre lang, bis zum heutigen Tag.
Wie lange war das wohl? Mehr als 15 Jahre insgesamt!
Doch nun fühlte sich das schwarzhaarige Mädchen, als wäre sie aus einem tiefen Schlaf erwacht. Als wäre sie vom Grund eines Sees an die Wasseroberfläche getrieben worden und konnte endlich frische Luft einatmen.
Bisher war das Mädchen in ihrem Leben immer beschützt und behütet worden. Ihre Eltern hatten sich aufopfernd um sie gekümmert und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. In der Schule hatte sie alsbald Katja kennengelernt, die sehr schnell zu Nias Beschützerin wurde. Niemals musste sich die junge Schülerin selbst wehren oder war gnadenlos der Kritik und den harschen Worten anderer ausgesetzt.
So zumindest war das bis vor wenigen Tagen.
Jetzt war sie nicht mehr in Watte gepackt und ihre beste Freundin federte nicht länger für sie das Meiste ab. Nun war sie auf sich allein gestellt. Sie spürte den Hass und die Abneigung ihrer Mitschüler direkt. Das Foto in der Gerüchteküche war nur der Anfang gewesen. Das Erwachen aus einem behüteten Leben. Ein Leben wie in einer Seifenblase.
Die nun geplatzt war.
Nia wusch sich das Gesicht. Langsam richtete sie sich auf und starrte sich im Spiegel an. Stahlblaue Augen glotzten zurück. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich.
Katja war nicht mehr da. Das schwarzhaarige Mädchen war aus ihrem normalen Alltagsleben herausgerissen worden und musste zum ersten Mal auf eigenen Beinen stehen. Noch fühlte sie sich schwach und wackelig, doch allmählich spürte sie, wie sich etwas in ihr veränderte. Erst war sie auf der Toilette zusammengeschlagen worden. Dann hatte sie den Kampf gegen Anita verloren und war bespuckt worden. Und jetzt die Niederlage gegen Lais... Zwar hatte ihre Mitschülerin wirklich fair gekämpft, aber das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
So konnte es nicht weitergehen!
Und das würde es auch nicht. Nia hatte es selbst in der Hand. So schnell würde sie nicht aufgeben.
~*~
Als sie aus dem Bad kam, schauten ihre beiden Huans auf. Salvatore war in ein Buch vertieft gewesen, während Cedric auf sein Smartphone gestarrt hatte.
"I-ich möchte mit euch reden!", stotterte Nia. Sofort war sie wütend auf sich, dass sie erneut so unsicher und eingeschüchtert klang. Aber sie konnte auch nicht erwarten, dass sie von eine auf die andere Sekunde ein vollkommen neuer Mensch war. Dennoch wollte sie von nun an an sich arbeiten.
Stumm tauschten die Jungs Blicke miteinander aus. Wenn solch ein Satz von einer Frau kam, war normalerweise Unheil im Verzug. Salvatore setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf und Cedric räusperte sich.
Ungeachtet dessen setzte sich Nia den beiden gegenüber. Konzentriert und mit angespanntem Gesicht massierte sie geistesabwesend ihre Hände und fixierte einen Punkt auf dem Boden.
"Ich habe so viele Fragen an euch, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll...", flüsterte sie mehr an sich als an ihre beiden Mitbewohner gerichtet. Diese lauschten gebannt. Nia wirkte irgendwie anders als sonst... Zwar war ihre Mimik und Gestik gleich, aber etwas in ihrer Stimme und in ihrem Blick hatte sich verändert.
Endlich schaute sie auf. In ihren meerblauen Augen stand Entschlossenheit. Selbst als sie Salvatore ins Gesicht sah, fing sie nicht an zu stottern. Sie wurde nicht einmal rot.
"Ihr seid also die stärksten Huans, die es gibt, habe ich das richtig verstanden?", fragte das Mädchen ohne Umschweife. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, wie sie das Thema adäquat hätte einleiten können... Nia war nie eine große Rednerin gewesen und stellte selten Fragen. Ihr Herz klopfte so stark, dass es ihre Huans fast hören mussten.
Salvatores Lächeln wurde breiter. "Das ist korrekt. Wir sind mit Abstand die mächtigsten Huans."
Cedric schwieg dazu. Sein Gesichtsausdruck war genauso grimmig wie immer.
Scharf atmete Nia ein. "Woher wisst ihr das?"
Ein langes, gedehntes Schweigen trat ein. Der blonde Hüne öffnete und schloss den Mund wieder – stumm wie ein Fisch, der im Trockenen lag. Das Lächeln ihres Schwarms war leicht verkrampft und wirkte ratlos.
"Ich meine... Ich habe euch förmlich vor ein paar Stunden erweckt und dennoch scheint jeder zu wissen, wie mächtig und stark ihr seid. Ihr habt euch davor direkt angefallen und wolltet euch am liebsten gegenseitig töten! Wie um alles in der Welt wissen die Anderen bitteschön von eurer Stärke? Auch Lais... Wie kann sie ein Veteran sein, wenn wir den Wake-Vorgang doch erst durchgeführt haben? Eine große Kampferfahrung sammelt man nicht über Nacht, das weiß sogar ich als Laie!", sprudelte es aus Nia hervor, die sich nun kaum noch bremsen konnte. Es ergab alles keinen Sinn! Salvatore und Cedric waren die mächtigsten Huans, obwohl ihre wahre Identität erst vor kurzem enthüllt wurde?
Salvatore zögerte. "Sagen wir es so... Wir, also Lais und wir... sind uns nicht zum ersten Mal begegnet." Cedric überlegte kurz und nickte dann zustimmend. So könnte man es durchaus formulieren!
"Ihr kennt euch also von... früher? Also vor der Zeit dieser neuen Schule?", bohrte Nia weiter.
"Ja.", antwortete Salvatore knapp.
"Das ist aber mehr als vage.", nuschelte das Mädchen und betrachtete ihre beiden Huans. "Und es beantwortet nicht die Frage, woher ihr und alle anderen von eurer Stärke wissen." Es wirkte nicht so, als würden sie konkrete Aussagen über diese Zeit machen wollen. Scheinbar schien es ihnen unangenehm zu sein. Oder war es peinlich? Nia seufzte. Wie sollte sie vorwärts kommen, wenn nicht einmal ihre eigenen Huans sich als kooperativ erwiesen?
"Also ich fasse zusammen: Obwohl ihr die beiden mächtigsten Huans seid, haben wir zwei von zwei Kämpfen verloren. Oder drei von drei, wenn man die zweite Runde von Lais miteinbezieht." Ihre Jungs hüllten sich in Schweigen. "Im Umkehrschluss heißt das entweder, dass ihr nicht so mächtig seid wie ihr denkt oder dass ich an den Niederlagen Schuld bin."
Keine Reaktion.
Betrübt schaute das Mädchen zu Boden. Scheinbar war sie mit wirklich starken Huans gesegnet und dennoch scheiterte es an ihr. Es war ein deprimierendes Gefühl. Nia fühlte sich nutzlos und leer.
"Ganz so ist es nicht!", hakte Cedric ein, der ihren traurigen Gesichtsausdruck nicht länger mitansehen konnte. Neugierig schauten ihn zwei blaue Augen an. Er schluckte. "Wir haben dir einiges vorenthalten. Und wir haben uns auch überhaupt nicht abgesprochen! Oder Vertrauen entgegengebracht..." Salvatore musste ein Lachen unterdrücken, als er den letzten Satz vernahm. "Das nicht vorhandene Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit!" Von einem auf den anderen Moment schien es, als würden die Beiden in Flammen stehen. Wütende Blicke wurden ausgetauscht.
"Hört auf!", ging Nia dazwischen und nahm erst die Hand von Salvatore und dann von Cedric zwischen ihre kleinen, kalten Finger. Die Ohren des Eisbärenhuan glühten und er unterdrückte den Drang, nicht reflexartig wegzuziehen.
Nias Wangen waren fast besorgniserregend gerötet, als sie Salvatore ins Gesicht sah. "Wir sind jetzt ein Team, egal ob ihr euch hasst oder nicht. Wenn wir gemeinsam kämpfen und gewinnen wollen, müssen wir etwas an unserer Einstellung ändern.
Alle drei."
Tief atmete das Mädchen durch. Auf ihrem Gesicht waren ihre Gefühlsregungen deutlich abzulesen. Anspannung, Angst, Nervosität und Verlegenheit wechselten sich im Sekundentakt ab. Schließlich machten sie einer zarten Entschlossenheit Platz. Es konnte einfach nicht ewig so weitergehen wie bisher. Lange genug war sie schwach gewesen...
"I-ich bin selber kein Experte, was das Schließen von Freundschaften angeht... Ich habe bislang nur Katja gehabt und..." Ihr Blick wurde trüb, als sie an ihre beste Freundin dachte. Wo sie jetzt wohl steckte? Suchte Katja nach ihr? Machte sie sich Sorgen?
"Auf alle Fälle möchte ich, dass ihr darüber nachdenkt, was wir tun können, um die Situation zu verbessern!", schloss Nia in einem Atemzug. Es hätte fast überzeugend geklungen, wenn ihre Stimme nicht hörbar gezittert hätte. Fest umschloss Nia mit ihrer rechten Cedrics Hand und mit ihrer Linken die von Salvatore. Ihr Schwarm erwiderte ihre Geste mit einem eisernen Griff, während der blonde Hüne behutsam ihre Hand in seine nahm und geistesabwesend mit dem Daumen streichelte.
"Und es hilft gar nichts, wenn ihr mir nicht einmal sagen könnt, warum ihr glaubt, dass ihr die stärksten Huans seid. Wie soll ich jemandem Vertrauen und mich auf ihn verlassen, wenn nicht einmal solche Informationen preisgegeben werden? Ich bin jetzt mit euch zusammen in dieser Misere... Oder fremden Welt oder wie auch immer ihr das hier nennen wollt. Wenn wir nicht schnell aufeinander bauen können oder ihr mir sagt, was los ist, dann... Sehe ich schwarz für uns. Und ständig zu verlieren kann auch nicht in eurem Interesse sein."
Mit einem Ruck stand Nia auf.
"W-Während ihr darüber nachdenkt, werde ich Lais suchen und mir Tipps zum Kämpfen holen! Ich möchte nicht noch einmal, dass jemand meine Huans so vernichtend schlägt...!" Ohne weitere Worte wirbelte sie eilig aus dem Raum heraus und hinterließ zwei etwas überrumpelte und verwirrte junge Männer. Was war denn bitte in Nia gefahren?
Cedric starrte auf seine Hand, die eben noch Nias' gehalten hatte.
Eine Lösung finden, damit sie als Team zusammenarbeiten können... Informationen preisgeben... Ihm fröstelte. Angst umklammerte sein Herz. Er wollte Nia mit allen Mitteln beschützen und doch...
"Am liebsten würde ich dich töten, Cedric Urs.", flüsterte Salvatore kaum hörbar und bar jeglicher Emotion, während er in seinem Buch umblätterte. Die Worte waren so leise gesprochen worden, dass sie fast unwirklich erschienen.
"Das beruht auf Gegenseitigkeit!", knurrte der Angesprochene mit unverholener Wut. Der Frauenschwarm schaute auf und nagelte den Eisbärenhuan mit seinem Blick förmlich fest. "Und noch etwas, wenn wir schon dabei sind: Hör auf so zu tun, als wärst du ein verliebter Narr. Wir wissen beide, dass Nia eine... essentielle Zutat für unsere jeweiligen Pläne ist."
Cedric ballte die Fäuste. Sein Blick war finster und verschlossen.
~*~
So groß konnte die Schule doch gar nicht sein, dass Nia ihre Mitschülerin Lais einfach nicht finden konnte! Wohin konnte das pinkhaarige Mädchen bitte gegangen sein? Es war früher Nachmittag und Lais wirkte nicht so, als würde sie sich ins Zimmer einsperren... Inzwischen nahm die Schwarzhaarige den pompösen Dekor an der Decke gar nicht mehr wahr. An den korinthischen Säulen und den reichverzierten, schweren Eichentüren hechtete sie regelrecht vorbei.
Bestimmt zum zehnten Mal ging Nia den Gang im Laufschritt auf und ab. Sie hatte jedes Klassenzimmer durchforstet und einige wenige Schüler gefragt, ob sie Lais gesehen hatten. Normalerweise würde sie sich dabei vor Nervosität auf die Zunge beißen, aber bislang war sie tapfer gewesen! Nia war sehr introvertiert, sodass jeder Kontakt zu fremden Menschen sie in helle Aufregung versetzte. Doch nun war sie viel zu beschäftigt und zu konzentriert, als diese Aufregung tatsächlich wahrzunehmen.
Ein Gutes hatte die Suche nach Lais: Inzwischen kannte sich Nia so gut im Schulgebäude aus, dass sie sich keine Sorgen machte, sich in Zukunft zu verlaufen! Die Zeiten, in denen sie zu spät kam, da sie das Klassenzimmer nicht fand, waren damit wohl endgültig vorbei! Das Gebäude kannte sie nun so gut wie ihre Westentasche. Seufzend lehnte Nia ihren Kopf gegen ein Fenster. So traurig es klang, aber allmählich schwand das Feuer in ihr, das unbedingt neue Strategien erlernen und kämpfen wollte. Irgendwie konnte sie nicht glauben, dass sie Salvatore und Cedric vorhin so zur Rede gestellt hatte. Wahrscheinlich hatte sie den Mut ihres gesamten Lebens dafür aufgebraucht. Nia war und blieb anscheinend ein Schwächling...
Als sie die Augen aufschlug, erblickte sie unter eine Ulme sitzend-
"Lais!", stieß sie aus und riss vor Freude das Fenster fast aus den Angeln. "Lais!", rief das Mädchen ihrer Mitschülerin freudig zu. "Beweg dich nicht vom Fleck, ich komme zu dir!"
Der Blick der Angesprochenen ließ erahnen, dass das jedoch genau ihr Plan war. Aber Nia hechtete so schnell durch die Gänge und flog die Treppen hinunter, dass Lais ihr nicht entwischen konnte. Die sportliche Betätigung von Nia machte sich doch mal bezahlt!
Entnervt und ertappt drehte sich Lais um. "Und was hab ich dir bitteschön getan, dass du mir nicht meinen Seelenfrieden lässt?"
"Du hast mir von verschiedenen Strategien erzählt und ich möchte etwas von dir lernen!", fiel Nia direkt mit der Tür ins Haus. Seltsamerweise war sie immer offen und ehrlich, wenn sie mit ihrer Mitschülerin sprach. Langsam wurde es dem schüchternen Ruler unheimlich, so extrovertiert gegenüber Lais zu sein... Erst die Aufforderung zum Kampf und nun die fast unabschlagbare Bitte, ihr etwas beizubringen. Deshalb fügte sie schnell mit einer formvollendeten, japanischen Verbeugung hinzu: "Ich bitte dich darum."
Einige Sekunden kam keine Antwort. Nia brach kalter Angstschweiß aus. Wenn Lais sich nicht bereit erklären würde, sie unter ihre Fittiche zu nehmen... Über diesen Fall hatte sie irgendwie noch gar nicht nachgedacht!
"Bilde dir ja nicht ein, ich wäre ein Ersatz für Katja Müller.", knurrte die Pinkhaarige und setzte sich ins Gras. Nia schaute perplex. Was hatte Katja damit zu tun?
"Willst du dich auch hinsetzen oder willst du Wurzeln schlagen?", fragte Lais keck und reckte ihren Hals.
Ein strahlendes Lächeln huschte über Nias Gesicht, als sie sich wortwörtlich auf den Boden fallen ließ.
"Ich habe keine Ahnung, was dir deine Huans schon alles erzählt haben und was nicht... Durch den Kampf konnte ich dich aber ein wenig näher kennenlernen, darum gehe ich davon aus, dass du... nicht so sonderlich viel Ahnung hast.", holte Lais erstaunlich lange aus. Scheinbar hatte sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden, nun Nias Instrukteur zu sein. Oder unter ihrer harten Schale steckte ein weicherer Kern als sich zunächst erahnen ließ.
"Du bist ein Ruler und kämpfst mit zwei Huans, soweit weißt du das ja." Mit leerem Blick spielte sie mit einem ihrer langen, geflochtenen Zöpfe. "Was mich gleich zu meiner ersten Frage bringt: Warum in Gottes Namen kämpfst du immer nur mit einem Huan?"
Nia überlegte kurz. "I-ich weiß nicht...? Die Last von einem Huan ist schon so groß, dass ich nicht weiß, ob ich einen weiteren... verkraften könnte... Ich fühle mich, als würde ich unter diesem Gewicht zerbrechen... Mir ist dann so, als wäre ich eine Ertrinkende, die auf den Grund des Meeres sinkt..."
"Ich verstehe.", seufzte Lais, "Wie willst du gewinnen, wenn du nur halbherzig kämpfst und Angst hast? Wie willst du als Team Vertrauen schaffen, wenn du immer einen ausschließt? Wie willst du als Team kämpfen, wenn du ohne Ausnahme immer den Einen bevorzugst?" Ihr Blick bohrte sich in den von Nia. Sie schluckte hart. "I-ich weiß nicht...? Ich hasse Cedric Urs, auch wenn es manchmal fast grundlos erscheint... Aber jede Faser meines Körpers sträubt sich dagegen, mit ihm zu tun zu haben!" Nia blähte wütend die Backen.
"Du widersprichst dir selbst. Du willst besser kämpfen können? Dann musst du deinen Huans vertrauen und eine Art Freundschaft zu ihnen aufbauen. Wenn du einen von ihnen hasst, wirst du niemals auf einen grünen Zweig kommen.", wies ihre Mitschülerin sie zurecht. Nia schwieg. Lais hatte Recht, aber es war so schwer, jemandem zu vertrauen, den man hasste. Allein wenn Nia Cedric sah, wurde sie wütend. Alles an ihm störte sie einfach. Seine Mimik, seine Gestik, die Blicke, die er ihr zuwarf, seine Stimme, seine unsoziale Art, einfach alles! Andererseits – wer hatte gesagt, dass es leicht werden würde? War Nia ernsthaft davon ausgegangen, dass sie Vertrauen zu jemanden aufbauen könnte, ohne nicht selbst bereit zu sein, etwas dafür zu tun?
"Gib beim nächsten Mal einfach auch dem Anderen eine Chance, sich unter Beweis zu stellen. Und benutz deinen Herzschlüssel, wenn wir schon dabei sind."
Nia horchte auf. "Herzschlüssel?", echote sie mit einem verständnislosen Ausdruck in der Stimme. Lais verzog das Gesicht. "Anscheinend haben dich deine Huans diesbezüglich auch noch nicht unterrichtet." Ohne weitere Erklärungen zog sie den reich verzierten Schlüssel aus ihrer Rocktasche. Soweit sich Nia erinnern konnte, hatte dieser sich in den Schild verwandelt! Warum war er noch da? War es nicht so, dass alle Schlüssel nach dem einmaligen Gebrauch verschwanden?
"Ein Herzschlüssel ist deine Waffe und wird von dir... geboren, um es mal kitschig auszudrücken. Normalerweise sind das Schwerter oder Pfeil und Bogen. Bei mir ist es eben ein Schild.", schnaubte Lais mit hörbarem Stolz auf die Besonderheit ihrer Waffe. "Dieser Schlüssel verschwindet nicht, egal wie oft du ihn benutzt."
"Woher kriege ich den?" Nias Wangen waren vor Aufregung ganz rot geworden. Eine Waffe? Das war unabdingbar, wenn sie überhaupt einen Kampf gewinnen wollte! War das vielleicht des Rätsels Lösung, warum sie so haushoch verloren hatten? Das Mädchen war ganz hibbelig vor Aufregung.
"Einer deiner Huans kann ihn für dich freisetzen. Frag doch später einfach!", meinte Lais. "Frag am Besten den Blondling, der ist der unangefochtene Meister der Schlüssel. Keiner hat so viele Kombinationen innerhalb kürzester Zeit erstellen können wie er."
Nia runzelte die Stirn, als sie diese Worte vernahm. Nicht, weil sich das Gespräch um den verhassten Cedric drehte, sondern vielmehr um den eigentlichen Inhalt. "Wie meinst du das 'kann Schlüssel erstellen'? Hab ich das so richtig verstanden? Und woher weißt du das eigentlich?"
Etwas entnervt rieb sich Lais die Stirn. "Reden deine Huans überhaupt mit dir oder was ist da los? Du wusstest ja nicht mal über den Herzschlüssel Bescheid, das ist echt ein Armutszeugnis für die!" Sie seufzte, während Nia entschuldigend zu Boden blickte und ihre Hände in ihren Rock krallte. "Sowohl Ruler als auch Huans können im Kampf Schlüssel verwenden. Du weißt ja, dass es ganz billige Schlüssel gibt, die nach dem einmaligen Einsatz verschwinden." Eifrig nickte Nia. Soweit wusste sie das tatsächlich. "Frau Wood hat auch von wertvolleren Schlüsseln erzählt, die einen gewissen... 'Preis' haben, damit man sie verwenden kann. Aber die Lehrerin hat dabei ein klitzekleines Detail unterschlagen:
Man kann Schlüssel auch selber zusammenstellen."
Nias Herzschlag beschleunigte sich. Schlüssel selbst zusammenstellen? Musste sie die etwa schmieden?
"Es ist nicht so wie du denkst. Man schmiedet nicht, sondern man verwendet schlicht und ergreifend einzelne Bauteile, um einen vollständigen Schlüssel zu erhalten. Warte, wenn ich es dir zeige, verstehst du es besser..." Mit diesen Worten kramte Lais in ihrer Umhängetasche mit "Sanitöter"-Aufdruck. Sie hielt Nia eine Art Ring, einen länglichen, dünnen Zylinder und einen Schlüsselbart unter die Nase. Gebannt lauschte sie der weiteren Erklärung. "Wenn du gut genug bist, kannst du spüren, was diese einzelnen Bestandteile für Kräfte beinhalten. Dieser Ring hier ist der Griff, der in diesem Fall Wind erzeugen kann. Der Stiel erzeugt Prismen, also geometrische Körper, die das Licht brechen... Der Bart des Schlüssels hier lässt es regnen." Während dieser Worte deutete Lais auf die einzelnen Teile. Nun nahm sie den Ring und den Stiel und fügte sie problemlos zusammen. Nia staunte Bauklötze. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Die beiden Einzelteile waren direkt miteinander verschmolzen! War das etwa Magie? Nun nahm das Mädchen auch den Bart und platzierte ihn an die vorgesehene Stelle. Ein zweites Mal verwuchsen die beiden Metallteile miteinander. Weder eine Naht noch etwas anderes ließen erahnen, dass der fertige Schlüssel soeben noch aus verschiedenen Kleinteilen zusammengesetzt worden war.
Wortlos drückte ihn Lais Nia in die Hand und nickte ihr zu. Nia fasste dies als Aufforderung auf, den Schlüssel zu testen. Binnen Sekunden erstrahlte zwischen den beiden ein kleiner Regenbogen, der durch den feinen Niesel entstanden war. Vor lauter Aufregung glühten die Wangen des Mädchens und sie strahlte über beide Ohren.
"Oh, das ist so hübsch!", flüsterte sie atemlos und Lais runzelte belustigt die Stirn. "Du bist echt eine Marke. Das ist ja wohl absolut nichts Besonderes. Wenn du wirklich gut werden willst, musst du lernen, mit Schlüsseln umzugehen. Du magst zwar die stärksten Huans haben, aber... Das schwächste Glied in der Kette bestimmt, wann alles zu Bruch geht."
Entschlossen schaute Nia Lais an. "Ich weiß, dass ich schwach und ängstlich bin. Aber ich bin heute zu dir gekommen, um meine Furcht zu überwinden und um endlich einen Schritt vorwärts zu gehen. Es gibt so viel, was ich nicht verstehe und erst nach und nach in Erfahrung bringen werde... Aber das heißt nicht, dass ich mich nicht anstrengen kann! Salvatore und Cedric wollen mir nicht einmal sagen, woher alle wissen, dass sie die stärksten Huans sind."
Langsam stand Nia auf und ballte die Faust. "Das werde ich noch herausfinden, ob sie wollen oder nicht."
Gleisendes Licht ließ Nia erstrahlen. Lais blinzelte. Das sonst so zerbrechliche Mädchen schaute zielbewusst in die Ferne. So einfach würde die Pinkhaarige Nia das nächste Mal nicht in die Knie zwingen!
Nun rappelte sie sich auch auf und klopfte ihr auf die Schulter. "So gefällst du mir schon viel besser. Man muss immer einmal mehr aufstehen als man hinfällt."
~*~
Während Nia den Gang entlangschlenderte, rekapitulierte sie noch einmal, was sie als nächstes tun wollte. Dabei murmelte sie leise vor sich hin und zählte die Punkte an ihren Fingern ab.
Für sie persönlich stand der 'Herzschlüssel' momentan im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wenn sie den hätte, könnte sie sich bei kommenden Kämpfen wehren und ihren Huans zur Seite stehen. Außerdem beschäftigte sie es immens, woher alle Welt wusste, wie unglaublich stark Salvatore und Cedric waren. Scheinbar wussten sie es schon lange... Vielleicht hatten sie zuvor gegeneinander gekämpft, um den Stärksten zu bestimmen? Und ausgerechnet bei den beiden war es im finalen Kampf zu einem Unentschieden gekommen? Angestrengt versuchte sie sich vorzustellen, wie ein Kampf zwischen einem Weißkopfseeadler und einem Eisbären aussehen könnte. Doch ihre Fantasie reichte nicht so weit, dass diese beiden wilden Tiere überhaupt gegeneinander einen Kampf auf Leben und Tod ausfechten könnten. Es passte einfach nicht! Aber wie sonst könnte man die Stärksten der Starken bestimmen, als mit einem Wettkampf?
Frustriert blähte sie die Wangen. War das echt so ein großes Geheimnis, dass ihre beiden Jungs nicht darüber reden konnten? Das war doch lächerlich! Wie sollte Nia mit ihnen zusammenarbeiten, wenn sie praktisch nichts über sie und ihre Fähigkeiten wusste?
Bei diesen Gedanken bog sie um die Ecke.
Ein riesengroßer Schatten baute sich vor ihr auf. Nia quietschte vor Schreck.
"Na wenn das mal nicht unsere kleine Nia ist!", feixte der Schülersprecher breit und verbeugte sich formvollendet.
"Wow Miguel, du hast mich zutode erschreckt!", meinte das Mädchen und musste dabei selbst lachen, wie ängstlich sie doch manchmal war.
"Aber, aber! So gruselig sehe ich ja wohl nicht aus!", gackerte er fröhlich und fügte augenzwinkernd hinzu: "Oder bist du durch deine beiden Adonis-Huans inzwischen an ein anderes Schönheitsniveau gewöhnt?"
Nia errötete. "Was redest du da?" Miguel betrachtete die Schwarzhaarige eindringlich von oben bis unten. Seine Augen blitzten. "Du siehst anders aus als sonst..." Geflissentlich überhörte das Mädchen diese Worte. Eine Frage brannte ihr auf der Seele und sie war froh, ihren Mitschüler endlich gefunden zu haben. "Miguel, mich beschäftigt seit der Ankunft an dieser Schule hier eine Frage."
Er wurde hellhörig und sein Lächeln wurde breit. "Ich kann mir denken, was es ist. Stell sie, holde Maid und dir soll kein Leid geschehen."
Nia holte tief Luft. "Miguel, bist du ein Huan oder ein Ruler?"