Kapitel 28: Those who were left Behind
"Du kannst nicht ewig Trübsal blasen", flüsterte eine Stimme von oben.
Das Albinomädchen reagierte nicht, sondern spielte geistesabwesend mit einer der vielen Ketten, die sich über sein kurzes Tüllkleid in rot und weiß ergossen. Seit Wochen hielt dieser Zustand schon an. Seitdem Anita Grätz von ihrem Schicksal als Ruler erfahren hatte, schottete sie sich nahezu vollständig ab. Sie ging kaum in den Unterricht, schien nicht zu schlafen, nahm kaum Essen zu sich und magerte zusehens ab. Nicht, dass besonders viel an ihr dran gewesen wäre, da sie von Natur aus eher zerbrechlich gebaut war. Als einzige Aktivität konnte Franz den Kampf gegen Nia verbuchen, denn damals hatte sie das Heft selbst in die Hand gehabt. Hatte ihr die Niederlage vielleicht jeglichen Kampfgeist genommen? Soweit er Anita vor der Erselik-Schule kennengelernt hatte, war sie eine selbstbewusste, unabhängige Frau mit starker Tendenz, andere zu erniedrigen. Das hatte sie gar nicht nötig, aber die Macht als Gerüchteküchemitglied, die Angst und Schrecken verbreitete, hatte sie arrogant gemacht. Normalerweise würde Franz ihr den Kopf dafür noch nachträglich waschen, aber aktuell war der geistige Zustand seines Rulers wichtiger als alles Andere.
Mit einem leichten Seufzer schmiss er sich auf ihr Bett. Für gewöhnlich würde Anita laut aufschreien, was er sich erlaubte, doch sie blieb stumm wie ein Fisch. Okay, zugegeben: Er stellte sich zumindest vor, dass sie ihm die Hölle heiß machen würde, wenn sie in ihrer normalen Verfassung wäre. Schließlich hatte er nie zuvor wirklich Kontakt zu ihr, bevor er ihr Huan wurde. Aus Skandalen und vor allem von Salvatore Zefalus hatte er sich immer geflissentlich ferngehalten. Franz mochte zwar so manchen Schabernack treiben, aber er machte niemandem ernsthafte Probleme und war ein Freigeist, der anderen den nötigen Platz zum Atmen ließ. Müßig krabbelte er zu Anita, die am Kopfende des Bettes angelehnt war und schnitt eine lustige Grimasse. Zumindest hoffte er, dass sie lustig war, wenn er sich schon die Mühe machte!
Anita verzog keine Miene. Es war nicht mal sicher, ob sie ihn überhaupt wahr nahm oder direkt durch ihn hindurchschauen konnte.
Just in dem Moment hörte Franz, wie die Zimmertür schnell zugezogen wurde.
Der Huan seufzte.
"Ich hab sie nicht geküsst, Hans! Komm rein, du störst nicht.", beschwichtigte er seinen Mitstreiter und rückte sein Bandana zurecht. Langsam, fast unmerklich öffnete sich die Tür wieder und der kurz geschorene Kopf von Hans Brinkmann lugte durch den Spalt. In seiner Hand befand sich ein Teller Kekse. Seine braunen Augen wanderten verschüchtert vom Boden zu Franz und Anita und wieder zurück. Vor lauter Gucken bemerkte er zu spät, wie ein Keks herunterkullerte. Ungeschickt versuchte er das rollende Gebäck einzufangen und verteilte dabei beinahe noch mehr Kekse.
Franz konnte sein kehliges Lachen nicht zurückhalten. "Du bist echt so goldig, Hans! Ich könnte dir den ganzen Tag zuschauen, es würde nie langweilig werden."
"I-ich bin nicht goldig!", fiepste Hans so wütend zurück, wie es ihm mit seinem schüchternen, weichen Gesicht möglich war. Franz winkte ab. "No homo!"
Währenddessen hatte sich Anita kein Stück bewegt oder machte auch nur den Anschein, die bloße Existenz ihrer beiden Huans wahrgenommen zu haben. "Danke für deine Mühen, aber ich glaube, unsere Prinzessin wird auch diese königliche Mahlzeit verschmähen. Sie fristet lieber ein unglückliches Dasein und bläst Trübsal." Franz zog eine Schnute und spielte halb interessiert, halb gelangweilt mit einer von Anitas weißen Locken herum. "Sie bevorzugt es scheinbar, sich in die Vergangenheit zu flüchten und komplett abzuschotten..."
Hans warf seinem Mitstreiter einen für ihn vergleichsweisen vorwurfsvollen Blick zu. "Wir wissen nicht, was Anita bedrückt." Behutsam stellte er das Tablett neben ihr ab und hielt ihr einen Keks hin. Aber wie zu erwarten kam keine Reaktion.
"Na das mit den Huans wird sie bedrücken! Weg von ihrem normalen Leben, weg von der Realschule, in der sie und die anderen zwei Zicken etwas galten, weg von einer möglichen Ausbildung, die sie sich vorgenommen hatte, weg von einer einigermaßen geplanten Zukunft, weg von einer ihrer dicksten Freunde hin zu einer seltsam-grotesken, abgeschotteten Schule voller irrer Mutanten!" Bei diesen Worten schnappte sich Franz den Keks, den Hans in der Hand hielt und leckte daran, während er sich auf das Kissen zurückfallen ließ. "Wenn man so darüber nachdenkt, werde sogar ich fast depressiv..."
Für einige lange Sekunden hörte man die Uhr an der Wand laut ticken. Niemand sagte ein Wort und alle hingen ihren Gedanken nach.
Irre Mutanten...
Für normale Menschen mussten die Huans wirklich etwas Abstoßendes, Abscheuliches und Abartiges sein. Menschen, die sich in Tiere verwandeln konnten... Wo gab es denn so etwas? Normal waren sie wirklich nicht! Hans hatte insgeheim gehofft, dass er als Huan in gute Hände gelangen würde. Zu jemandem, der sich seiner annahm.
Tränen stiegen ihm in die Augen. Als Franz das sah, stülpte er ihm sein Bandana über und zog es ihm über das Gesicht.
"Wir wollen unserer Prinzessin doch wohl keine Tränen zeigen, oder? Sie selbst hat bereits so viel geweint, dass sie ganz leer und ausgetrocknet ist. Seitdem sie gegen Nia verloren hat, kann sie kein Wort mehr erreichen..."
Beide betrachteten die leere Hülle, die am Bett gelehnt saß. Ihre Wangen waren eingefallen, ihr Blick war leer, die Augen blutunterlaufen und ihr gesamtes Äußeres ungepflegt. Von der ursprünglich starken, unabhängigen Anita, die mit vorliebe auf Nia herumgehackt hatte, war nichts mehr zu sehen. Die zierliche Schülerin war im Verlauf der letzten Wochen noch dünner geworden.
Besorgniserregend dünn.
Aber das Schlimmste war für ihre Huans nicht ihr Äußeres. Es bekümmerte sie viel mehr, dass sie ihren augenscheinlichen Kummer nicht teilen wollte oder gar konnte. Natürlich waren sie erst seit kurzem ein Team und mussten sich erst näher kennenlernen... Aber selbst als einmal Tonia zu Besuch war, hatte sie keinerlei Reaktion gezeigt. Nur war sie danach in Tränen ausgebrochen – die einzige wirklich nennenswerte Gefühlsregung, zu der sie scheinbar noch fähig war. Ja nicht einmal Nia Toshiki, die für Anita ein rotes Tuch war, konnte sie aus ihrer Letargie reißen!
"Wir müssen etwas unternehmen..."
In dem Moment war von draußen ein ohrenbetäubender Knall zu hören.
Hans und Franz zuckten zusammen. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich wieder gefasst hatten. Mit großen Kulleraugen schauten sie erst sich an und starrten dann aus dem Fenster.
Von Draußen drangen Schreie herein und dicke, schwarze Rauschschwaden stiegen in Richtung Haupteingang auf.
Was war passiert?
Doch noch bevor Franz sich diesem Gedanken widmen konnte, glitt er vom Bett herunter und kniete vor Anita. Er holte tief Luft.
Dann schulterte er die leblos wirkende Anita und stürmte mit ihr zur Tür hinaus.
Hans fielen fast die Augen aus dem Kopf. "W-wo willst du hin?! Um Gottes Willen, bleib hier!"
"Es tut mir leid, aber ich entführe mal unsere Prinzessin! Sie braucht ganz dringend einen Tapetenwechsel!"
~*~
Ein unmenschlicher Schrei hallte über das Schulgelände.
"Nia! Er hat Nia entführt!", rief Cedric vollkommen außer sich und ballte seine Hände zu Fäusten, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Aus einer Wunde tropfte dickes, rotes Blut auf den schwarzen, verkohlten Boden. "Nia!" Ununterbrochen keuchte er ihren Namen.
"Sal-Salvatore! Du musst dich verwandeln und Nia holen! Du musst ihr hinterherfliegen!", schrie er seinen Mit-Huan an und packte ihn unsanft am Kragen. "Hilf Nia! Sie wurde von Pugal Kar entführt!"
Er stand unter Schock. Beide standen unter Schock.
Der Angesprochene schüttelte ganz langsam und fast unmerklich den Kopf. "Verdammte Scheiße, Salvatore! Nia wurde entführt und du willst ihr nicht helfen?", keifte der blonde Hüne Nias Schwarm an, doch dieser erwiderte tonlos: "Ich kann ihr nicht helfen, Cedric. Selbst wenn ich wollte... Ich..." Seine Stimme verstarb. Niemals in seinem gesamten Leben hatte er damit gerechnet, noch einmal Pugal Kar gegenüber zu stehen. Dieser Mann... Er...
Instinktiv umklammerte Salvatore sich. Schweiß trat auf seine Stirn und sein Blick war vollkommen leer. "Verflucht! Muss man alles selber machen? Nia wurde entführt! Nia... Sie wurde... entführt...", sprach Cedric mit fast brechender Stimme. Das Gewicht seiner Worte sank nur langsam in sein Unterbewusstsein.
Mit zittrigen Fingern versuchte er vergebens, einen geeigneten Schlüssel zusammenzubauen. Aber er wusste nicht einmal, WAS er genau erreichen wollte. Jede Faser seines Seins kannte nur einen Gedanken: Nia! Nia wurde entführt! Zum Wiederholten male entglitten ihm die Schlüsselteile.
Nia! Nia... Nia war nicht mehr da! Nia war weg... Nia war entführt worden! Nia war nicht an seiner Seite... Er konnte Nia nicht helfen...
Er war nutzlos.
"Pugal Kar hat Nia entführt!", schrie er, während er die Flammen um sich herum vollkommen ignorierte. Ein wütender, entschlossener Schlag auf die Brust schaffte es schließlich, ihn in die Realität zurückzuholen. Zumindest soweit, dass er wieder wahrnahm, was um ihn herum passierte.
"Wir haben alle gesehen, was mit Nia geschehen ist!", fauchte Lais "Aber das hilft uns lieber, den Brand zu bekämpfen!"
"Ich... ich muss Nia retten!", stammelte er benommen und erneut schlug die kleine Schülerin auf seine Brust. "Du kannst ihr nicht helfen! Selbst wenn du hier heraus kommen würdest, was für eine Hilfe bist du in deinem jetzigen Zustand?! Reiß dich gefälligst zusammen!" Jedes ihrer Worte sagte sie mit mehr und mehr Nachdruck. Cedric sah aus, als würde er gleich weinen. Naserümpfend wirbelte sie zu Salvatore. "Und du!" Sie stapfte auf ihn zu und deutete mit einem verkohlen, schwarzen Finger auf ihn. "Für dich gilt dasselbe. Schwing deinen adretten Arsch und hilf!"
"Fuad, disconnect!", rief sie ihrem Löwen-Huan zu, während sie einen Schlüssel aus ihrer Rocktasche holte. Altbekannte Töne des Knochenbrechens und -rearrangierens drangen durch die lauernden, leckenden, lauten Flammen ans Ohr. Tonlos hielt sich der Schüler das Auge, rappelte sich aber dennoch auf und aktivierte einen Schlüssel. Unentwegt tropfte Blut auf den Boden. Lais stellte sich zu ihm und ließ Schlüsselbestandteile unentwegt miteinander verschmelzen. Eine kleine Wasserfontäne schoss unweit der Flammen empor und stellte sich David gegen Goliath gleich der Katastrophe entgegen. Ein großer Schüler mit Wuschelkopf kam atemlos um die Ecke geschossen. In seinen Armen hatte er eine Trinkflasche. Fast wäre er über einen abgebrochenen, glühenden Ast gestolpert, manövrierte aber noch erfolgreich außen herum und kam schließlich vor Fuad und Lais zum Halt. Tiefe, besorgte Furchen durchzogen Lorcans Gesicht, als er seinem Mit-Huan die Flasche überreichte. Dieser schenkte ihm ein strahlendes, aufrichtiges Lächeln. Lorcan kam nicht drumherum, seinen Kameraden zu umarmen, sodass klebriges Blut auf seinem Hemd zurückblieb. Fuad wedelte wild mit den Armen, ließ es aber tonlos über sich ergehen. Lächelnd und unter Schmerzen strich er seinem Kumpel über die Schulter.
Trotz der Lautstärke des Feuers hörte man entfernt, wie sich Tonia und Akuma stritten. Isaac trat wie so oft als Streitschlichter ein, sodass das ungleiche Trio entschlossen den tosenden Flammen entgegentrat, um so gut wie es ging beim Löschen zu helfen. Aus dem Schulgebäude kam Frau Wood herbeigestürzt, Miguel im Schlepptau.
"Miguel, du leitest sofort die Löscharbeiten, bis ein anderer Lehrer kommt. Verwandel mich, damit ich durch die Kuppel fliegen kann!", ordnete sie an und hatte dabei dutzende Schlüssel in der Hand.
"Alles klar. Eunice - connect!" Binnen Sekunden hatte sich die strenge Lehrerin in eine Waldohreule verwandelt und schoss gen Himmel.
Cedric schrie wie am Spieß. "Sie müssen Nia retten! Bitte... retten Sie Nia! Nia wurde entführt!" Doch seine Worte wurden von den Flammen verschlungen wie trockenes, dürres Geäst. Frau Wood aktivierte die Schlüssel am höchsten Punkt der zerstörten Kuppel. Andauernder, dichter Platzregen viel auf den entflammten Grund. Gleichmäßiges Prasseln kämpfte gegen die vernichtende Lautstärke des Feuers an. Binnen Minuten gehörte die Flammenhölle der Vergangenheit an. Währenddessen schlüpfte Frau Wood durch die zersplitterte, außer Kraft gesetzte Kuppel und flog auf leisen Schwingen davon.
Mit langsamen, fast schlurfenden Schritten ging der lädierte Salvatore auf Cedric zu. Völlig entgeistert umklammerte er dessen Handgelenk und hob es hoch, bis es sich auf Augenhöhe befand. Wütend versuchte sich Cedric, seinem Griff zu entwenden. Erfolglos. Ein ungläubiger Blick huschte erst über Salvatores, dann über sein eigenes Gesicht, als er sich sein Huans-Armband genauer ansah...
~*~
Im Eingangsbereich stieß er unsanft mit jemandem zusammen. Obwohl er die Beine in die Hand genommen hatte, benötigte er doch einige Zeit, um sich einen Weg über Scherben und halb zerstörte Gänge zu bahnen um schließlich ins Freie zu gelangen.
Alles brannte.
"Was zur Hölle machst du da?!", fauchte Tonia Dierl, die sich bedrohlich vor Franz aufbaute. Mit Händen in den Hüften gestemmt sah sie nicht so aus, als würde sie ihn vorbei lassen, ehe sie nicht eine gute Erklärung bekam. "Warum trägst du eine meiner besten Freundinnen wie einen nassen Sack durch die Gegend?!"
"Ein nasser, lebloser Sack.", verbesserte Franz schief grinsend. "Ich wollte, dass unsere Prinzessin ein klein wenig Abwechlsung erhält... Damit vielleicht eventuell und ganz rein hypothetisch ihre Lebensgeister zurückkehren!"
"Einen Scheiß wirst du mit ihr machen! Sieh zu, dass du sie aus der Gefahrenzone in Sicherheit bringst! Wir haben hier genug zu tun auch ohne eine lebende Tote! Nia Toshiki wurde entführt, wir wurden bombardiert und alles steht in Flammen! Wenn du Anita an einen sicheren Ort gebracht hast, kannst du gerne mithel-"
Weiter kam Tonia nicht, den plötzlich ging ein Ruck durch das kleine Albinomädchen.
"Nia Toshiki wurde entführt?", echote sie fragend mit einer Stimme, die so klang, als wäre sie sehr lange nicht mehr in Gebrauch gewesen. Blitzartig setzte Franz seinen Ruler ab. Eine Mischung aus Verwirrung und Fröhlichkeit huschte über sein Gesicht.
"Ich kann auch kämpfen.", wisperte Anita.
"Mach dich nicht lächerlich, Süße.", konterte Tonia gnadenlos. "Wir können froh sein, dass du noch am Leben bist, so tot wie du in letzter Zeit ausgesehen hast!"
"Ich kann auch kämpfen.", wiederholte Anita.
"Kämpf du erst einmal gegen das, was dich beschäftigt. So bist du eher ein Hindernis als eine Hilfe!", entgegnete ihre beste Freundin und strich sich dabei eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht.
"Hey Matschfresse, komm her und helf mit!", tönte es von weiter weg. Akuma winkte entnervt und deutete auf die vielen verkohlten und umgeknickten Bäume sowie die abertausenden Glassplitter. Doch Tonia ignorierte ihn. Gerade gab es wichtigeres für sie als ihren kleinen Skorpion-Huan.
Deutlich wichtigeres.
Ihre beste Freundin musste endlich wieder auf die Beine kommen. Und das konnte sie nur durch ihre Hilfe, dessen war sie sich sicher.
"Ich kann auch kämpfen.", sagte Anita erneut.
"Süße, die Platte hängt. Bild dir ja nicht ein, in deiner Verfassung für irgendetwas nütze zu sein... außer nette Deko vielleicht."
"Ich kann kämpfen.", beharrte sie.
Ruckartig zog Tonia ihre Freundin heran und verpasste ihr eine Kopfnuss. Franz quietschte erschrocken auf. Benommen torkelte das Mädchen rückwärts und fiel zu Boden.
"Einen Scheiß kannst du! Du kannst ja nicht mal richtig stehen! Sieh zu, dass du das Weite suchst!", knirschte die Brünette.
"Hey sag mal, du kannst doch nicht einfach als Mädchen-", setzte Franz ein, doch die Angesprochene schnitt ihm kalt das Wort ab.
"Deine Meinung über das, was Mädchen können oder nicht, ist mir egal. Bring Anita vom Schlachtfeld, bevor ich ungemütlich werde. Das ist kein Ort für Leute mit angegriffenen Nerven, die gerade mal aufrecht stehen können! Trag Verantwortung für deinen Ruler und päppel sie soweit auf, dass sie auch wirklich wieder kämpfen kann! Davor braucht sie mir nicht unter die Augen zu treten."
Tonia warf einen wütenden Blick auf Anita und schnaubte. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und machte sich wieder an die Arbeit, die restlichen schwehlenden Flammen zu ersticken sowie Bäume und Scherben zu beseitigen.
Franz war sprachlos. Waren die Beiden nicht beste Freundinnen?! Wie kalt und abweisend war Tonia bitteschön? Entsetzt und nach Luft ringend starrte er erst Tonia hinterher und blickte dann zu Anita. Der Huan schluckte schwer, als er seinen Ruler ansah.
Anitas Augen funkelten vor Wut. Ein wutverzerrter Gesichtsausdruck hatte der maskenhaften Fassade Platz gemacht und beide Hände hatten sich in den Boden gegraben.
Na warte, Tonia Dierl...
So leicht legte man sich nicht mit ihr an! Nicht mit Anita Grätz!
~*~
Jeder Knochen in ihrem Körper schmerzte und aufgeschürfte, blutige Stellen brannten wie Feuer. Vollkommen benebelt öffnete Katja die Augen. Halb entsetzt und halb überrascht stellte sie fest, dass sie und Tanja am Fuße des Hügels lagen. Ein heftiger Stich durchzuckte ihren Kopf.
Nur allmählich konnte sie ihre Gedanken wieder ordnen.
Stimmte ja, sie waren auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude auf dem Hügel. Dort hatten sie Nia, Anita und Tonia vermutet, die plötzlich und ohne Vorwarnung verschwunden waren...
Sie waren schon relativ nahe, als plötzlich ein Hubschrauber angeflogen kam. Im nächsten Moment war alles um sie herum explodiert und nun lagen sie hier.
Tanja stöhnte, als sie die Augen öffnete. Ähnlich verwirrt guckte sich die Mitschülerin um. "War... War das etwa eine Explosion?", murmelte sie benommen und untersuchte leicht panisch ihren Körper. Hoffentlich hinterließen die Schürfwunden keine Narben!
"Deine Hände!", stieß das Mädchen mit den Modelmaßen aus und griff nach Katjas Fingern. Akribisch untersuchte sie diese. Die Geigenspielerin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wer hätte Gedacht, dass eine der drei Gerüchteküchezicken so fürsorglich sein konnte?
"Alles in Butter.", sagte Katja und nickte ernst. Der Gedanke, dass ihren Händen etwas passiert sein könnte, ließ sie erschaudern. Da war sie nochmal mit einem blauen Auge davongekommen! Von ihr aus konnte man ihr sämtliche Knochen im Körper brechen, solange ihre Finger davon verschont blieben.
Doch viel wichtiger war der Vorfall, weswegen sie jetzt am Fuße des Hügels lagen. Der laute Knall und die Druckwelle, welche die Beiden meterweit davongeschleudert hatte, ließen auf nichts anderes als eine Explosion schließen.
Aber warum hatte es eine Explosion gegeben?
Wer griff ein Verwaltungsgebäude an?
War das Ziel die Zerstörung des Gebäudes oder vielleicht etwas anderes...?
Katjas herumschwirrende Gedanken kamen zu einem jähen Ende.
Fast unsichtbar stand zwischen den Bäumen eine hochgewachsene, schlanke Figur. Ihre mittelblonden Haare waren zu einem zotteligen Pferdeschwanz zusammengebunden. Nur die Reflexion der Sonne auf der Brille hatte Katjas Aufmerksamkeit erregt.
Scharf sog Katja die Luft ein. Tanja folgte langsam ihrem Blick und verharrte ebenfalls in ihrer Bewegung. Frau Wood! Gehörte sie nicht auch zu einer der vermissten Personen, die plötzlich und ohne Vorwarnung wie vom Erdboden verschwunden waren? Angeblich hatte keiner eine Nachricht hinterlassen. "Mutter...?", flüsterte Katja kaum hörbar, als Frau Wood nähertrat.
Tanja traute ihren Ohren nicht. Entsetzt schnappte sie nach Luft, als ihre ehemalige Lehrerin diese Aussage nicht dementierte.
Die Pädagogin hielt in ihrer Hand einen goldenen Schlüssel so fest umklammert, dass ihre Handknöchel weiß hervortraten. Ihre Augen hinter der Brille waren kalt und ausdruckslos.
Das Albinomädchen reagierte nicht, sondern spielte geistesabwesend mit einer der vielen Ketten, die sich über sein kurzes Tüllkleid in rot und weiß ergossen. Seit Wochen hielt dieser Zustand schon an. Seitdem Anita Grätz von ihrem Schicksal als Ruler erfahren hatte, schottete sie sich nahezu vollständig ab. Sie ging kaum in den Unterricht, schien nicht zu schlafen, nahm kaum Essen zu sich und magerte zusehens ab. Nicht, dass besonders viel an ihr dran gewesen wäre, da sie von Natur aus eher zerbrechlich gebaut war. Als einzige Aktivität konnte Franz den Kampf gegen Nia verbuchen, denn damals hatte sie das Heft selbst in die Hand gehabt. Hatte ihr die Niederlage vielleicht jeglichen Kampfgeist genommen? Soweit er Anita vor der Erselik-Schule kennengelernt hatte, war sie eine selbstbewusste, unabhängige Frau mit starker Tendenz, andere zu erniedrigen. Das hatte sie gar nicht nötig, aber die Macht als Gerüchteküchemitglied, die Angst und Schrecken verbreitete, hatte sie arrogant gemacht. Normalerweise würde Franz ihr den Kopf dafür noch nachträglich waschen, aber aktuell war der geistige Zustand seines Rulers wichtiger als alles Andere.
Mit einem leichten Seufzer schmiss er sich auf ihr Bett. Für gewöhnlich würde Anita laut aufschreien, was er sich erlaubte, doch sie blieb stumm wie ein Fisch. Okay, zugegeben: Er stellte sich zumindest vor, dass sie ihm die Hölle heiß machen würde, wenn sie in ihrer normalen Verfassung wäre. Schließlich hatte er nie zuvor wirklich Kontakt zu ihr, bevor er ihr Huan wurde. Aus Skandalen und vor allem von Salvatore Zefalus hatte er sich immer geflissentlich ferngehalten. Franz mochte zwar so manchen Schabernack treiben, aber er machte niemandem ernsthafte Probleme und war ein Freigeist, der anderen den nötigen Platz zum Atmen ließ. Müßig krabbelte er zu Anita, die am Kopfende des Bettes angelehnt war und schnitt eine lustige Grimasse. Zumindest hoffte er, dass sie lustig war, wenn er sich schon die Mühe machte!
Anita verzog keine Miene. Es war nicht mal sicher, ob sie ihn überhaupt wahr nahm oder direkt durch ihn hindurchschauen konnte.
Just in dem Moment hörte Franz, wie die Zimmertür schnell zugezogen wurde.
Der Huan seufzte.
"Ich hab sie nicht geküsst, Hans! Komm rein, du störst nicht.", beschwichtigte er seinen Mitstreiter und rückte sein Bandana zurecht. Langsam, fast unmerklich öffnete sich die Tür wieder und der kurz geschorene Kopf von Hans Brinkmann lugte durch den Spalt. In seiner Hand befand sich ein Teller Kekse. Seine braunen Augen wanderten verschüchtert vom Boden zu Franz und Anita und wieder zurück. Vor lauter Gucken bemerkte er zu spät, wie ein Keks herunterkullerte. Ungeschickt versuchte er das rollende Gebäck einzufangen und verteilte dabei beinahe noch mehr Kekse.
Franz konnte sein kehliges Lachen nicht zurückhalten. "Du bist echt so goldig, Hans! Ich könnte dir den ganzen Tag zuschauen, es würde nie langweilig werden."
"I-ich bin nicht goldig!", fiepste Hans so wütend zurück, wie es ihm mit seinem schüchternen, weichen Gesicht möglich war. Franz winkte ab. "No homo!"
Währenddessen hatte sich Anita kein Stück bewegt oder machte auch nur den Anschein, die bloße Existenz ihrer beiden Huans wahrgenommen zu haben. "Danke für deine Mühen, aber ich glaube, unsere Prinzessin wird auch diese königliche Mahlzeit verschmähen. Sie fristet lieber ein unglückliches Dasein und bläst Trübsal." Franz zog eine Schnute und spielte halb interessiert, halb gelangweilt mit einer von Anitas weißen Locken herum. "Sie bevorzugt es scheinbar, sich in die Vergangenheit zu flüchten und komplett abzuschotten..."
Hans warf seinem Mitstreiter einen für ihn vergleichsweisen vorwurfsvollen Blick zu. "Wir wissen nicht, was Anita bedrückt." Behutsam stellte er das Tablett neben ihr ab und hielt ihr einen Keks hin. Aber wie zu erwarten kam keine Reaktion.
"Na das mit den Huans wird sie bedrücken! Weg von ihrem normalen Leben, weg von der Realschule, in der sie und die anderen zwei Zicken etwas galten, weg von einer möglichen Ausbildung, die sie sich vorgenommen hatte, weg von einer einigermaßen geplanten Zukunft, weg von einer ihrer dicksten Freunde hin zu einer seltsam-grotesken, abgeschotteten Schule voller irrer Mutanten!" Bei diesen Worten schnappte sich Franz den Keks, den Hans in der Hand hielt und leckte daran, während er sich auf das Kissen zurückfallen ließ. "Wenn man so darüber nachdenkt, werde sogar ich fast depressiv..."
Für einige lange Sekunden hörte man die Uhr an der Wand laut ticken. Niemand sagte ein Wort und alle hingen ihren Gedanken nach.
Irre Mutanten...
Für normale Menschen mussten die Huans wirklich etwas Abstoßendes, Abscheuliches und Abartiges sein. Menschen, die sich in Tiere verwandeln konnten... Wo gab es denn so etwas? Normal waren sie wirklich nicht! Hans hatte insgeheim gehofft, dass er als Huan in gute Hände gelangen würde. Zu jemandem, der sich seiner annahm.
Tränen stiegen ihm in die Augen. Als Franz das sah, stülpte er ihm sein Bandana über und zog es ihm über das Gesicht.
"Wir wollen unserer Prinzessin doch wohl keine Tränen zeigen, oder? Sie selbst hat bereits so viel geweint, dass sie ganz leer und ausgetrocknet ist. Seitdem sie gegen Nia verloren hat, kann sie kein Wort mehr erreichen..."
Beide betrachteten die leere Hülle, die am Bett gelehnt saß. Ihre Wangen waren eingefallen, ihr Blick war leer, die Augen blutunterlaufen und ihr gesamtes Äußeres ungepflegt. Von der ursprünglich starken, unabhängigen Anita, die mit vorliebe auf Nia herumgehackt hatte, war nichts mehr zu sehen. Die zierliche Schülerin war im Verlauf der letzten Wochen noch dünner geworden.
Besorgniserregend dünn.
Aber das Schlimmste war für ihre Huans nicht ihr Äußeres. Es bekümmerte sie viel mehr, dass sie ihren augenscheinlichen Kummer nicht teilen wollte oder gar konnte. Natürlich waren sie erst seit kurzem ein Team und mussten sich erst näher kennenlernen... Aber selbst als einmal Tonia zu Besuch war, hatte sie keinerlei Reaktion gezeigt. Nur war sie danach in Tränen ausgebrochen – die einzige wirklich nennenswerte Gefühlsregung, zu der sie scheinbar noch fähig war. Ja nicht einmal Nia Toshiki, die für Anita ein rotes Tuch war, konnte sie aus ihrer Letargie reißen!
"Wir müssen etwas unternehmen..."
In dem Moment war von draußen ein ohrenbetäubender Knall zu hören.
Hans und Franz zuckten zusammen. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich wieder gefasst hatten. Mit großen Kulleraugen schauten sie erst sich an und starrten dann aus dem Fenster.
Von Draußen drangen Schreie herein und dicke, schwarze Rauschschwaden stiegen in Richtung Haupteingang auf.
Was war passiert?
Doch noch bevor Franz sich diesem Gedanken widmen konnte, glitt er vom Bett herunter und kniete vor Anita. Er holte tief Luft.
Dann schulterte er die leblos wirkende Anita und stürmte mit ihr zur Tür hinaus.
Hans fielen fast die Augen aus dem Kopf. "W-wo willst du hin?! Um Gottes Willen, bleib hier!"
"Es tut mir leid, aber ich entführe mal unsere Prinzessin! Sie braucht ganz dringend einen Tapetenwechsel!"
~*~
Ein unmenschlicher Schrei hallte über das Schulgelände.
"Nia! Er hat Nia entführt!", rief Cedric vollkommen außer sich und ballte seine Hände zu Fäusten, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Aus einer Wunde tropfte dickes, rotes Blut auf den schwarzen, verkohlten Boden. "Nia!" Ununterbrochen keuchte er ihren Namen.
"Sal-Salvatore! Du musst dich verwandeln und Nia holen! Du musst ihr hinterherfliegen!", schrie er seinen Mit-Huan an und packte ihn unsanft am Kragen. "Hilf Nia! Sie wurde von Pugal Kar entführt!"
Er stand unter Schock. Beide standen unter Schock.
Der Angesprochene schüttelte ganz langsam und fast unmerklich den Kopf. "Verdammte Scheiße, Salvatore! Nia wurde entführt und du willst ihr nicht helfen?", keifte der blonde Hüne Nias Schwarm an, doch dieser erwiderte tonlos: "Ich kann ihr nicht helfen, Cedric. Selbst wenn ich wollte... Ich..." Seine Stimme verstarb. Niemals in seinem gesamten Leben hatte er damit gerechnet, noch einmal Pugal Kar gegenüber zu stehen. Dieser Mann... Er...
Instinktiv umklammerte Salvatore sich. Schweiß trat auf seine Stirn und sein Blick war vollkommen leer. "Verflucht! Muss man alles selber machen? Nia wurde entführt! Nia... Sie wurde... entführt...", sprach Cedric mit fast brechender Stimme. Das Gewicht seiner Worte sank nur langsam in sein Unterbewusstsein.
Mit zittrigen Fingern versuchte er vergebens, einen geeigneten Schlüssel zusammenzubauen. Aber er wusste nicht einmal, WAS er genau erreichen wollte. Jede Faser seines Seins kannte nur einen Gedanken: Nia! Nia wurde entführt! Zum Wiederholten male entglitten ihm die Schlüsselteile.
Nia! Nia... Nia war nicht mehr da! Nia war weg... Nia war entführt worden! Nia war nicht an seiner Seite... Er konnte Nia nicht helfen...
Er war nutzlos.
"Pugal Kar hat Nia entführt!", schrie er, während er die Flammen um sich herum vollkommen ignorierte. Ein wütender, entschlossener Schlag auf die Brust schaffte es schließlich, ihn in die Realität zurückzuholen. Zumindest soweit, dass er wieder wahrnahm, was um ihn herum passierte.
"Wir haben alle gesehen, was mit Nia geschehen ist!", fauchte Lais "Aber das hilft uns lieber, den Brand zu bekämpfen!"
"Ich... ich muss Nia retten!", stammelte er benommen und erneut schlug die kleine Schülerin auf seine Brust. "Du kannst ihr nicht helfen! Selbst wenn du hier heraus kommen würdest, was für eine Hilfe bist du in deinem jetzigen Zustand?! Reiß dich gefälligst zusammen!" Jedes ihrer Worte sagte sie mit mehr und mehr Nachdruck. Cedric sah aus, als würde er gleich weinen. Naserümpfend wirbelte sie zu Salvatore. "Und du!" Sie stapfte auf ihn zu und deutete mit einem verkohlen, schwarzen Finger auf ihn. "Für dich gilt dasselbe. Schwing deinen adretten Arsch und hilf!"
"Fuad, disconnect!", rief sie ihrem Löwen-Huan zu, während sie einen Schlüssel aus ihrer Rocktasche holte. Altbekannte Töne des Knochenbrechens und -rearrangierens drangen durch die lauernden, leckenden, lauten Flammen ans Ohr. Tonlos hielt sich der Schüler das Auge, rappelte sich aber dennoch auf und aktivierte einen Schlüssel. Unentwegt tropfte Blut auf den Boden. Lais stellte sich zu ihm und ließ Schlüsselbestandteile unentwegt miteinander verschmelzen. Eine kleine Wasserfontäne schoss unweit der Flammen empor und stellte sich David gegen Goliath gleich der Katastrophe entgegen. Ein großer Schüler mit Wuschelkopf kam atemlos um die Ecke geschossen. In seinen Armen hatte er eine Trinkflasche. Fast wäre er über einen abgebrochenen, glühenden Ast gestolpert, manövrierte aber noch erfolgreich außen herum und kam schließlich vor Fuad und Lais zum Halt. Tiefe, besorgte Furchen durchzogen Lorcans Gesicht, als er seinem Mit-Huan die Flasche überreichte. Dieser schenkte ihm ein strahlendes, aufrichtiges Lächeln. Lorcan kam nicht drumherum, seinen Kameraden zu umarmen, sodass klebriges Blut auf seinem Hemd zurückblieb. Fuad wedelte wild mit den Armen, ließ es aber tonlos über sich ergehen. Lächelnd und unter Schmerzen strich er seinem Kumpel über die Schulter.
Trotz der Lautstärke des Feuers hörte man entfernt, wie sich Tonia und Akuma stritten. Isaac trat wie so oft als Streitschlichter ein, sodass das ungleiche Trio entschlossen den tosenden Flammen entgegentrat, um so gut wie es ging beim Löschen zu helfen. Aus dem Schulgebäude kam Frau Wood herbeigestürzt, Miguel im Schlepptau.
"Miguel, du leitest sofort die Löscharbeiten, bis ein anderer Lehrer kommt. Verwandel mich, damit ich durch die Kuppel fliegen kann!", ordnete sie an und hatte dabei dutzende Schlüssel in der Hand.
"Alles klar. Eunice - connect!" Binnen Sekunden hatte sich die strenge Lehrerin in eine Waldohreule verwandelt und schoss gen Himmel.
Cedric schrie wie am Spieß. "Sie müssen Nia retten! Bitte... retten Sie Nia! Nia wurde entführt!" Doch seine Worte wurden von den Flammen verschlungen wie trockenes, dürres Geäst. Frau Wood aktivierte die Schlüssel am höchsten Punkt der zerstörten Kuppel. Andauernder, dichter Platzregen viel auf den entflammten Grund. Gleichmäßiges Prasseln kämpfte gegen die vernichtende Lautstärke des Feuers an. Binnen Minuten gehörte die Flammenhölle der Vergangenheit an. Währenddessen schlüpfte Frau Wood durch die zersplitterte, außer Kraft gesetzte Kuppel und flog auf leisen Schwingen davon.
Mit langsamen, fast schlurfenden Schritten ging der lädierte Salvatore auf Cedric zu. Völlig entgeistert umklammerte er dessen Handgelenk und hob es hoch, bis es sich auf Augenhöhe befand. Wütend versuchte sich Cedric, seinem Griff zu entwenden. Erfolglos. Ein ungläubiger Blick huschte erst über Salvatores, dann über sein eigenes Gesicht, als er sich sein Huans-Armband genauer ansah...
~*~
Im Eingangsbereich stieß er unsanft mit jemandem zusammen. Obwohl er die Beine in die Hand genommen hatte, benötigte er doch einige Zeit, um sich einen Weg über Scherben und halb zerstörte Gänge zu bahnen um schließlich ins Freie zu gelangen.
Alles brannte.
"Was zur Hölle machst du da?!", fauchte Tonia Dierl, die sich bedrohlich vor Franz aufbaute. Mit Händen in den Hüften gestemmt sah sie nicht so aus, als würde sie ihn vorbei lassen, ehe sie nicht eine gute Erklärung bekam. "Warum trägst du eine meiner besten Freundinnen wie einen nassen Sack durch die Gegend?!"
"Ein nasser, lebloser Sack.", verbesserte Franz schief grinsend. "Ich wollte, dass unsere Prinzessin ein klein wenig Abwechlsung erhält... Damit vielleicht eventuell und ganz rein hypothetisch ihre Lebensgeister zurückkehren!"
"Einen Scheiß wirst du mit ihr machen! Sieh zu, dass du sie aus der Gefahrenzone in Sicherheit bringst! Wir haben hier genug zu tun auch ohne eine lebende Tote! Nia Toshiki wurde entführt, wir wurden bombardiert und alles steht in Flammen! Wenn du Anita an einen sicheren Ort gebracht hast, kannst du gerne mithel-"
Weiter kam Tonia nicht, den plötzlich ging ein Ruck durch das kleine Albinomädchen.
"Nia Toshiki wurde entführt?", echote sie fragend mit einer Stimme, die so klang, als wäre sie sehr lange nicht mehr in Gebrauch gewesen. Blitzartig setzte Franz seinen Ruler ab. Eine Mischung aus Verwirrung und Fröhlichkeit huschte über sein Gesicht.
"Ich kann auch kämpfen.", wisperte Anita.
"Mach dich nicht lächerlich, Süße.", konterte Tonia gnadenlos. "Wir können froh sein, dass du noch am Leben bist, so tot wie du in letzter Zeit ausgesehen hast!"
"Ich kann auch kämpfen.", wiederholte Anita.
"Kämpf du erst einmal gegen das, was dich beschäftigt. So bist du eher ein Hindernis als eine Hilfe!", entgegnete ihre beste Freundin und strich sich dabei eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht.
"Hey Matschfresse, komm her und helf mit!", tönte es von weiter weg. Akuma winkte entnervt und deutete auf die vielen verkohlten und umgeknickten Bäume sowie die abertausenden Glassplitter. Doch Tonia ignorierte ihn. Gerade gab es wichtigeres für sie als ihren kleinen Skorpion-Huan.
Deutlich wichtigeres.
Ihre beste Freundin musste endlich wieder auf die Beine kommen. Und das konnte sie nur durch ihre Hilfe, dessen war sie sich sicher.
"Ich kann auch kämpfen.", sagte Anita erneut.
"Süße, die Platte hängt. Bild dir ja nicht ein, in deiner Verfassung für irgendetwas nütze zu sein... außer nette Deko vielleicht."
"Ich kann kämpfen.", beharrte sie.
Ruckartig zog Tonia ihre Freundin heran und verpasste ihr eine Kopfnuss. Franz quietschte erschrocken auf. Benommen torkelte das Mädchen rückwärts und fiel zu Boden.
"Einen Scheiß kannst du! Du kannst ja nicht mal richtig stehen! Sieh zu, dass du das Weite suchst!", knirschte die Brünette.
"Hey sag mal, du kannst doch nicht einfach als Mädchen-", setzte Franz ein, doch die Angesprochene schnitt ihm kalt das Wort ab.
"Deine Meinung über das, was Mädchen können oder nicht, ist mir egal. Bring Anita vom Schlachtfeld, bevor ich ungemütlich werde. Das ist kein Ort für Leute mit angegriffenen Nerven, die gerade mal aufrecht stehen können! Trag Verantwortung für deinen Ruler und päppel sie soweit auf, dass sie auch wirklich wieder kämpfen kann! Davor braucht sie mir nicht unter die Augen zu treten."
Tonia warf einen wütenden Blick auf Anita und schnaubte. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und machte sich wieder an die Arbeit, die restlichen schwehlenden Flammen zu ersticken sowie Bäume und Scherben zu beseitigen.
Franz war sprachlos. Waren die Beiden nicht beste Freundinnen?! Wie kalt und abweisend war Tonia bitteschön? Entsetzt und nach Luft ringend starrte er erst Tonia hinterher und blickte dann zu Anita. Der Huan schluckte schwer, als er seinen Ruler ansah.
Anitas Augen funkelten vor Wut. Ein wutverzerrter Gesichtsausdruck hatte der maskenhaften Fassade Platz gemacht und beide Hände hatten sich in den Boden gegraben.
Na warte, Tonia Dierl...
So leicht legte man sich nicht mit ihr an! Nicht mit Anita Grätz!
~*~
Jeder Knochen in ihrem Körper schmerzte und aufgeschürfte, blutige Stellen brannten wie Feuer. Vollkommen benebelt öffnete Katja die Augen. Halb entsetzt und halb überrascht stellte sie fest, dass sie und Tanja am Fuße des Hügels lagen. Ein heftiger Stich durchzuckte ihren Kopf.
Nur allmählich konnte sie ihre Gedanken wieder ordnen.
Stimmte ja, sie waren auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude auf dem Hügel. Dort hatten sie Nia, Anita und Tonia vermutet, die plötzlich und ohne Vorwarnung verschwunden waren...
Sie waren schon relativ nahe, als plötzlich ein Hubschrauber angeflogen kam. Im nächsten Moment war alles um sie herum explodiert und nun lagen sie hier.
Tanja stöhnte, als sie die Augen öffnete. Ähnlich verwirrt guckte sich die Mitschülerin um. "War... War das etwa eine Explosion?", murmelte sie benommen und untersuchte leicht panisch ihren Körper. Hoffentlich hinterließen die Schürfwunden keine Narben!
"Deine Hände!", stieß das Mädchen mit den Modelmaßen aus und griff nach Katjas Fingern. Akribisch untersuchte sie diese. Die Geigenspielerin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wer hätte Gedacht, dass eine der drei Gerüchteküchezicken so fürsorglich sein konnte?
"Alles in Butter.", sagte Katja und nickte ernst. Der Gedanke, dass ihren Händen etwas passiert sein könnte, ließ sie erschaudern. Da war sie nochmal mit einem blauen Auge davongekommen! Von ihr aus konnte man ihr sämtliche Knochen im Körper brechen, solange ihre Finger davon verschont blieben.
Doch viel wichtiger war der Vorfall, weswegen sie jetzt am Fuße des Hügels lagen. Der laute Knall und die Druckwelle, welche die Beiden meterweit davongeschleudert hatte, ließen auf nichts anderes als eine Explosion schließen.
Aber warum hatte es eine Explosion gegeben?
Wer griff ein Verwaltungsgebäude an?
War das Ziel die Zerstörung des Gebäudes oder vielleicht etwas anderes...?
Katjas herumschwirrende Gedanken kamen zu einem jähen Ende.
Fast unsichtbar stand zwischen den Bäumen eine hochgewachsene, schlanke Figur. Ihre mittelblonden Haare waren zu einem zotteligen Pferdeschwanz zusammengebunden. Nur die Reflexion der Sonne auf der Brille hatte Katjas Aufmerksamkeit erregt.
Scharf sog Katja die Luft ein. Tanja folgte langsam ihrem Blick und verharrte ebenfalls in ihrer Bewegung. Frau Wood! Gehörte sie nicht auch zu einer der vermissten Personen, die plötzlich und ohne Vorwarnung wie vom Erdboden verschwunden waren? Angeblich hatte keiner eine Nachricht hinterlassen. "Mutter...?", flüsterte Katja kaum hörbar, als Frau Wood nähertrat.
Tanja traute ihren Ohren nicht. Entsetzt schnappte sie nach Luft, als ihre ehemalige Lehrerin diese Aussage nicht dementierte.
Die Pädagogin hielt in ihrer Hand einen goldenen Schlüssel so fest umklammert, dass ihre Handknöchel weiß hervortraten. Ihre Augen hinter der Brille waren kalt und ausdruckslos.