Kapitel 16: None but the Lonely Heart
Phew, was für ein Tag! Heute war hardcore-Unterricht angesagt gewesen und ihre Fingerkuppen schmerzten seit langem mal wieder. Ein unangenehmes Pochen. Aber gerade das beglückte sie so sehr, denn es hieß ja, dass sie alles gegeben und pausenlos gespielt hatte! Herr Mori war noch strenger mit ihr als sonst gewesen. Wahrscheinlich, weil er Angst hatte, dass Katja nachlassen würde. Schließlich waren die Abschlussprüfungen nun vorbei und jeder normale Teenager ihres Alters würde auf der faulen Haut liegen und das herrliche Wetter genießen! Aber nicht Katja - sie übte unerbittlich weiter und wollte ihrem Traum noch ein Stück näher sein. Nun ja... Eigentlich nahm sie jede Musikakademie mit Handkuss, aber sie war eine Perfektionistin und arbeitete hart an sich und ihrer Technik. Tatsächlich trug sie bei der unglaublichen Hitze diesmal sogar ihre verhassten Handschuhe, um ihren kostbaren Fingern ein wenig Ruhe zu gönnen.
Pfeifend tänzelte sie mit der Geige auf den Rücken geschnallt durch die Gassen, die ein wenig Schutz vor der Sonne boten. Überall roch es nach frischer Wäsche und gekochtem Abendessen. Allmählich wurde auch der brünette Wildfang hungrig! Ob Nia wohl schon gegessen hatte?
Nia... Ihre beste Freundin und bessere Hälfte, die sie schon so oft unwissentlich unterstützt und ihr geholfen hatte... Schon bald war dieser letzte gemeinsame Sommer vorbei und ihre Wege würden sich trennen. Natürlich war es kein Abschied für immer, dessen war sich Katja mehr als bewusst, aber... Wenn man so viele Jahre ein Zimmer geteilt hatte, war es ein sehr seltsamer Gedanke, auf einmal getrennt voneinander zu sein. Nia wusste immer noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Für sie selbst war der Weg immer glasklar gewesen, deshalb hat sie sich fast aufgeopfert dafür. Was Nia wohl machen würde? Eine Ausbildung? Es war schwierig, sich das schüchterne Mädchen in einem Beruf vorzustellen. Nicht auszudenken, wenn ihre Kollegen sie mobben und sie weinen würde! Und Katja war nicht an ihrer Seite, um sie zu beschützen und die anderen in die ewigen Jagdgründe zu schicken! Andererseits... Wenn nicht jetzt, wann dann würde Nia lernen, auf eigenen Beinen zu stehen? Es konnte nicht ewig jemand bei ihr sein und sie behüten, so sehr sich Katja das auch wünschte.
"Schluss jetzt!", sagte Katja laut und wedelte mit ihren Händen, um imaginär ihre trübseligen Gedanken zur Seite zu schieben. Einige Leute drehten sich überrascht um, doch sie grinste nur spitzbübisch. Sie war viel zu jung, um sich über solche Dinge Gedanken zu machen! Wie alt war sie denn? 80? Nix da! Jetzt wurde gelebt und die restliche, kostbare Zeit bis auf die letzte Nanosekunde ausgenutzt und in vollen Zügen genossen! Und dieser zufällig vor ihr stehende Dunkin Donuts war genau der richtige Anfang, um ihrer kleinen süßen Nia ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern! Allein bei diesem Gedanken wurde Katja warm ums Herz. Nia glücklich zu machen war ihr persönliches, höchstes Glück! Immerhin wollte die Brünette auch von all den schönen Momenten etwas zurückgeben. Nia war ihre Kraftquelle, die auch mal gefüttert und umsorgt werden wollte!
Schnellen Schrittes lief sie durch die altbekannte Tur im Mädchenwohnheim. In der Hitze wären ja sonst die kostbaren Donuts geschmolzen und das musste unter allen Umständen verhindert werden! Mit glitzernden, lustigen Augen und purer Vorfreude auf den lächelnden Lippen striff sie sich die Schuhe ab und mit einem "Ich bin wieder dahaaa~~~!" riss die Tür zu ihrem Zimmer auf, um Nia zu erschrecken.
Doch der Raum war leer.
Genauso leer wie alle anderen Räume.
Verlassen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
~*~
Nia sprang wie vom Blitz getroffen auf. "Was hat er?!", keuchte sie und hechtete zu Cedric rüber, um ihn auf den Rücken zu drehen. Es gelang ihr nicht. Er war einfach viel zu schwer! Oder Nia zu schwach. Salvatore schüttelte verwirrt den Kopf und rückte den Blonden in die stabile Seitenlage. Er atmete noch, war aber nicht ansprechbar. Seine Pupille zeigte keine Reaktion.
"Er ist ohnmächtig.", atmete der Frauenschwarm aus. Warum um alles in der Welt...? Hatte er im Kampf etwa doch mehr abbekommen als erwartet? Aber dann fällt man doch nicht erst Minuten später um wie ein Stein!
"Ohnmächtig?!", echote Nia und wurde kreidebleich. Cedric war sonst immer so stabil und es sah aus, als würde nichts und niemand ihn umhauen können! "Warum...?", fragte sie in den luftleeren Raum hinein. Lag es an ihr? Hatte sie die Last nicht genug getragen?
"Hat... Cedric irgendetwas... benutzt?", bohrte Salvatore vorsichtig und schaute Nia fest in die Augen. "Versuch dich zu erinnern. Egal, wie trivial es erscheint!"
Die Gedanken des Mädchens überschlugen sich. Etwas benutzt? Deo? Hat er vielleicht länger nichts gegessen? Nein, das konnte es nicht sein! Im Kampf war nichts auffälliges gewesen, Cedric hatte gut gekämpft. Er hatte sich das erste Mal verwandelt, aber das konnte ja nicht der Grund sein... oder? Schließlich war Salvatore auch nicht einfach nach ihrem ersten gemeinsamen Kampf zusammengebrochen!
Verzweiflung stieg in ihr auf. Was, wenn sie daran Schuld war? Nein, das konnte nicht sein, das wollte sie selbst nicht glauben! Sie schüttelte den bewusstlosen Mitschüler unsanft. "Wach auf, du Speckkopf!", rief sie wütend. Sie bekam keine Antwort. Nun machte Wut der Sorge Platz. Wut, die Nia selber nicht wirklich verstand. Es gab keinen Grund dafür! Erst schaute er sie so sanft an, als er den Herzschlüssel freigesetzt hatte... Und nun bereitete er ihr nichts als Kummer?!
Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
"Er... er hat einen Schlüssel benutzt, als er meinen Herzschlüssel freigesetzt hat.", antwortete Nia wie in Trance. "Ich habe mich gewundert, warum man einen Schlüssel braucht, um einen Schlüssel freizusetzen...!"
Diese Worte drangen nur sehr langsam in Salvatores Bewusstsein. Er hatte einen Schlüssel benutzt, um Nias Herzschlüssel...?
Plötzlich musst er laut und gegen seinen Willen lachen. Nia schaute verwirrt und ein wenig skeptisch. Sie mochte Cedric ja auch nicht, aber musste man deswegen gleich lachen...?
Mit einem Schlag war das Gelächter versiegt und ein diebisches Lächeln machte ihm Platz.
Cedric, du schlauer Fuchs...! Dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war!
Nia hingegen war die Verwirrung ins Gesicht geschrieben.
~*~
Tse, was für eine Pleite! Sie hatte sich die schönsten Donuts ausgesucht, aber von ihrer besten Freundin war keine Spur zu sehen. Vielleicht war sie joggen gegangen. Nia liebte es, stundenlang irgendwelche Straßen, Wege, Felder und Pfade entlangzulaufen. Ein Hobby, dass Katja so gar nicht nachvollziehen konnte. Vielleicht wollte sie ihren Körper wieder fit machen, nachdem sie so lange nur gelernt hatten? Immerhin war da nicht viel Zeit für Hobbies oder dergleichen geblieben!
Dennoch war es mehr als ungewöhnlich, dass Nia keinen Zettel hinterlassen hatte. Beide hatten einen festen Platz für ihre Nachrichten – auf dem Schuhschrank am Eingang. Alte, niedliche Zettelchen hatten sie an einer Magnettafel gehängt. Dort standen Nachrichten wie "Katja, du bist die Beste! Ich weiß, dass du das Konzert heute meisterhaft schaffen wirst! Verzauber sie alle! :D" oder "Hab keine Angst vor der Prüfung, es ist nur Mathe! ;P". Einige Notizzettel waren bereits über die Jahre hinweg vergilbt und abgegriffen. Jeder von ihnen war eine kostbare Erinnerung. Ein kleines Juwel, welches Katja nicht missen wollen würde.
Aber diesmal war kein Zettel dabei! Auch im Zimmer befand sich nichts außer den Dezillionen an Notenblättern, Musikbüchern, CD's und dem Kolophonium, das sie schon die ganze Zeit gesucht hatte... nichts Außergewöhnliches. Abgesehen von dem normalen Chaos, das Katja angerichtet hatte und demnächst beseitigen musste.
Im Bad. Nichts.
Und ebenso im Rest der Stube: Nichts.
Ihr Blick wanderte zur Uhr. 21:03 zeigte sie ohne Fehl und Tadel an. Die Sonne war gerade am untergehen. Tiefe Falten durchzogen die Stirn der sonst so unbeschwerten, lebenslustigen Schülerin. Nia war noch nie so spät draußen gewesen, ohne Bescheid zu sagen. Das passte einfach nicht zu ihr. Normalerweise wartete sie auf Katja, nachdem sie Geigenunterricht hatte und sie begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln, welches das Herz der Brünetten zum Hüpfen brachte. Für gewöhnlich wuschelte Katja dann Nias lange, seidige Haare durch und sie plauderten gemeinsam über den vergangenen Tag. Oder über Gott und die Welt. Oder über ihre Zukunftspläne, die nun in greifbare Nähe gerückt waren.
Ohne Nia wirkte es so leer und einsam. Woher kam dieses Gefühl, dass sie Nia nicht mehr wiedersehen würde? Das war doch absurd... oder?
~*~
Er hatte gewusst, dass es so kommen würde. Dennoch hatte er insgeheim gehofft, dass er sich täuschen würde. Als er den Schlüssel eingesetzt hatte, kam wieder die altbekannte, körperlose Stimme, die einem durch Mark und Bein fuhr. Es fühlte sich so kalt an, als würde eine unsichtbare Hand ihre gierigen Finger nach seinem Herz ausstrecken und es zerquetschen wollen.
"Ohnmacht ist ja wohl nur ein kleiner Preis für das, was du ihr verheimlichst, nicht wahr?"
Halt den Mund! Seine Nackenhaare sträubten sich.
"Wenn Nia wüsste, was du für sie empfindest... Was würde sie wohl dazu sagen? Würde sie das überhaupt glauben, da du doch der Speckkopf bist...?"
Sei still! Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Eine kurze Pause trat ein. Fast wollte er aufatmen. Es war ein beklemmendes, erschreckendes Gefühl, die Stimme zu hören. Eine Stimme, die die tiefsten Abgründe des eigenen Herzens kannte und nach gutdünken die Schwachpunkte ausnutzen würde. Oder sich vielmehr daran laben, wie man an den Folgen eines solchen verdammten Pakts zugrunde ging. Es gab kein Entkommen. Je mächtiger der Schlüssel, desto höher der Preis, den man zu bezahlen hatte.
"Du brauchst meine Hilfe...", dröhnte die Stimme erneut gerade in dem Moment, als man sie nicht mehr zu erwarten schien. Das Amüsement aus der Tonlage war nicht zu überhören. "Selbstverständlich werde ich mir holen, was mir gefällt...", meinte sie ganz nonchalant. "Es ist jedes Mal ein Hochgenuss, dich leiden zu sehen, kleiner Cedric..." Der Betroffene knirschte hörbar mit den Zähnen. Diese Stimme jagte ihm einerseits Furcht vor den Konsequenzen ein und andererseits wurde er unglaublich wütend. "Auch wenn ich bezweifle, dass ich jemals je wieder in den Genuss eines solch fabulösen Preises wie damals komme..."
Ein lautes, dröhnendes Kichern erfüllte den Raum, in dem auch die beiden Herzschläge des Rulers und ihres Huan zu hören gewesen waren. Cedric hatte schon schlimmeres erlebt, als ohnmächtig zu werden. Hauptsache, Nia würde niemals erfahren, was er für sie empfand. Sie bedeutete ihm mehr, als ihm selbst lieb war.
Aber dies sollte nie ans Tageslicht kommen.
~*~
Katjas Intuition war ultimativ. Nur in sehr seltenen, eigentlich gar nicht existenten Ausnahmefällen hatte sie sich getäuscht, wenn etwas nicht stimmte. Beispielsweise lag sie einmal beim Erraten einer Eissorte daneben. Zu ihrer Verteidigung musste allerdings gesagt werden, dass sie damals einen bösen Schnupfen hatte. Dadurch war natürlich der Geruchs- und Geschmackssinn eingeschränkt gewesen.
Aber bei großen, wichtigen Dingen täuschte sie sich nicht. Niemals.
Nia war weg.
Und sie wusste nicht, wohin.
Es war bereits 22 Uhr und es war noch keine Spur von ihr zu sehen. Die Sonne war untergegangen und Nia joggte nie so lang und so spät. Außerdem war sie auch niemand, der sich einfach verlaufen würde, schließlich war sie hier aufgewachsen. Seit Jahren hatte sie den Campus kein einziges Mal verlassen. Das klang zwar schon fast wie ein Märchen, aber es war Tatsache. Auch in den Ferien verließ Nia den Campus nicht. Angeblich hatte der Vater immer so viel zu tun oder wohnte zu weit weg.
Unsinn, hatte sich Katja immer gedacht, war aber nie näher drauf eingegangen.
Aber nun war Nia spurlos verschwunden. Es war ausgeschlossen, dass sie nach Hause gefahren war. Erstens war sie dort ja seit einer halben Ewigkeit nicht mehr und zweitens waren all ihre Habseligkeiten noch in der Wohnung. In der Wohnung, in der Katja gerade wütend und vollkommen in Gedanken versunken einen Blue Sky Donut in sich hineinstopfte.
Bei näherem Betrachten wirkte es fast so, als wäre Nia nur einmal kurz fortgegangen. Ein aufgerissener Briefumschlag ohne Absender lag auf der Fensterbank. Ein Streich? Eine Erpressung? Nein, Nia hatte kein Geld, das man erpressen könnte. Aber ein Mobbingfall? Möglich wäre es, schließlich wurde sie oft gehänselt.
Andererseits würde das keinen Sinn ergeben, da die Schule abgeschlossen war und man sich wunderbar gegenseitig aus dem Weg gehen konnte. Warum sollten die Mobber ihre kostbar erlangte Freizeit mit Nia verbringen? Dazu war das Wetter viel zu schön und die vergangenen Wochen viel zu anstrengend und nervenaufreibend gewesen!
Was konnte es dann sein? Nia war zwar naiv und gutgläubig, aber sie würde doch niemals irgendeinem anonymen Brief hinterherlaufen... oder? Die Adresse mit Nias Namen war mit dem Computer geschrieben, sodass Katja daraus keine sonderlich großen Informationen ziehen konnte. War es ein offizielles Schreiben gewesen?
Moment mal... Computer? Katja schnappte sich erneut den Umschlag und starrte die Schrift an. Ihr Atem stockte. Kontte es sein, dass dies diesselbe Schrift war, die Cedric Urs auf seinen Karteikarten verwendet hatte? Jene Karten, die er doch angeblich schreiben musste, damit Nia nicht duchfallen würde? War er so ein Freak? Soziale Inkompetenz wie er sie hatte war ja die eine Sache, aber Nia aus der Wohnung zu locken eine ganz andere! Sollte dieser behinderte Idiot es tatsächlich gewagt haben, Nia zu entführen?! Falls ja, würde er das Licht der nächsten aufgehenden Sonne nicht mehr erblicken, weil ihn Katja vorher höchstpersönlich in seine Einzelteile zerlegt hatte! Hätte sie auch nur annähernd geahnt, was in seinem kranken Kopf vorging, hätte sie ihm bereits am Spind den Garaus gemacht! Da empfand sie es ja noch als süße Geste, dass er ihr Zettelchen zusteckte. Cedric sah auch gar nicht übel aus, wenn er nicht so ein eiskalter Klotz wäre. Zumindest würde er Nia mal auf andere Gedanken bringen als immer nur Salvatore. An dem war irgendwas auch überhaupt nicht koscher. So ein aalglatter, perfekter und vorbildlicher Charakter... Für gewöhnlich gab es so etwas nur in Filmen! Und zwar in sehr schmierigen.
"Ich werde dich finden!", rief sie laut und klatschte wutentbrannt in ihre behandschuhten Hände. Katja stand in Flammen. Ihr kleines Küken war weg – aber sie würde es wiederfinden! Und wenn sie jeden Stein auf dem gesamten Campus persönlich umdrehen musste! Sie! Würde! Nia! Finden!
Katja grübelte. Es hatte keinen Zweck, zur Polizei zu gehen... Die schalteten sich erst ein, wenn die Person länger als 24 Stunden nicht auffindbar war. Und da Katja Nia heute morgen noch gesehen hatte, konnte sie es sich sparen, auf der Polizeiwache ihre kostbare Zeit zu vertrödeln!
Frau Wood war eigentlich eine gute Anlaufstation, da sie die Aufsichtsperson des Mädchenwohnheims war. Neben ihrem Büro befand sich gleich ihre eigene, kleine Wohnung, sodass sie zu jeder Tages- und Nachtzeit für ihre Schülerinnen erreichbar war.
Ungehemmt warf Katja die Wohnungstür auf und flog die Treppen hinunter. Da sie sich ungern die Hände verletzen wollte, donnerte sie mehrmals mit dem Fuß gegen die Tür der Lehrerin. Die Schläge verhallten langsam im menschenleeren Eingangsbereich.
Wo war die Lehrerin bitteschön, wenn man sie tatsächlich einmal brauchte?! Das war doch zum Mäusemelken!
Erneut schlug Katja gegen die Tür. Keine Reaktion.
Vorsichtig drehte sie am Knauf, aber es war verriegelt.
Sie legte ein Ohr an die Tür. Kein Laut drang an ihr Trommelfell.
Auch das Krankenzimmer nebenan war verriegelt und verlassen.
Was ging hier vor? Frau Wood war immer da. Immer. Einzige Ausnahme war die Unterrichtszeit, doch die war bereits lange vorbei.
Wütend stampfte Katja zur großen Blumenvase am Eingang. Mit einem geübten Handgriff zog sie einen mit Tesafilm befestigten Schlüssel an der Unerseite hervor. Endlich lohnte es sich, dass sie vor Jahren einmal die Schlüssel hatte nachmachen lassen, als Frau Wood sie verloren hatte. Man konnte ja nie wissen, wann man so etwas brauchte! Jetzt war genau der richtige Moment dafür gekommen.
Ohne zu zögern und ohne mit der Wimper zu zucken schloss sie die Wohnung von Frau Wood auf.
Doch der Raum war komplett leer.
~*~
Es war ihr immer noch unbegreiflich, dass niemand nach ihnen suchte. Immerhin waren sie von einem auf den anderen Tag spurlos verschwunden und dennoch drang keine Nachricht zu ihr.
Wie lange waren sie bereits in dieser verdammten Schule eingesperrt? Eine Woche? Oder waren es sogar schon zwei? Wie ging es Tanja, die als einzige noch draußen war? Wie musste sie sich gefühlt haben, als ihre zwei engsten Freunde plötzlich verschollen waren? Tanja wusste keine Antwort darauf. Sie fühlte sich einfach nur leer, traurig und verlassen. Einsam.
Sie wollte nicht hier sein. Es musste einen Ausweg geben!
Und den würde sie auch finden.
~*~
Es befanden sich nicht einmal mehr Möbel darin. Der Raum gab nur seine nackten Wände preis und starrte Katja mit hohlen Augen an. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Frau Wood konnte nicht einfach so verschwinden.
Erst Nia, jetzt Frau Wood. Stand das im Zusammenhang?
Es dauerte einige Momente, bis Katja ihr rasendes Herz wieder unter Kontrolle gebracht hatte und sich ihr stockender Atem beruhigt hatte. Zwar war sie nicht so ängstlich wie Nia, aber spurlos verschwindende Menschen waren auch ihr nicht geheuer! Aber sie war noch lange nicht mit ihrem Latein am Ende. Es gab zu viele offene Baustellen!
Als nächstes würde sie sich Cedric Urs vorknöpfen. Gnade ihm Gott, wenn er ihr in die Finger fiel!
Katja war es absolut egal, dass sie zur Sperrstunde das Mädchenwohnheim verließ und energisch in das Jungenwohnheim stapfte, als wäre es das normalste von der Welt. Im Gegensatz zur leeren Eingangshalle war diese hier gut besucht. Überall standen schwatzende Jungs. Man sollte gar nicht meinen, dass sie solche Klatschweiber waren! Sie verstummten allerdings augenblicklich, als ihr Blick auf Katja fiel. Einer zuckte zusammen und taumelte einige Schritte rückwärts.
Die Brünette schnappte ihn sich am Kragen.
"D-D-Das ist das Jungenwohnheim!", stotterte er höchst verwirrt mit deutlicher Empörung.
"Tu nicht so als hätte ich dich beim Scheißen auf der Toilette erwischt.", entgegnete Katja barsch. "Sag mir lieber-"
"Wen haben wir denn da?", ertönte eine hochnäsige Stimme von hinten, die eindeutig Katja galt. Gelangweilt drehte Katja ihren Kopf.
Ein dürrer, hakennasiger junger Mann mit fettigen Haaren stand vor ihr. "Wer bist du denn?", fragte er belustigt.
"Sagen wir es so...", strahlte Katja von einem Ohr zum anderen, nur um im nächsten Moment einen mordlustigen Ausdruck auf ihr Gesicht zu zaubern. "Ich könnte mich zu deinem Alptraum entwickeln."
Ein aufgeregtes Gemurmel ging durch die männlichen Reihen, die sich um die zwei geschart hatten. Noch bevor der Langweiler vor ihr etwas darauf erwidern konnte, setzte sie fort:
"Sag mir sofort, wo sich Cedric Urs befindet, sonst werde ich ungemütlich."
Die Menge hielt den Atem an. Was bildete sie sich überhaupt ein? Sie konnte doch nicht einfach in das Jungenwohnheim spazieren und Auskunft haben wollen! Das konnte ja wohl bis zum nächsten Tag warten! Was wollte die adrette Brünette überhaupt von diesem ungehobelten Klotz?
"Cedric Urs?", echote der Mitschüler. "Tut mir leid, dein Weg war vergebens. Er befindet sich seit gestern nicht mehr hier."
"Wie meinst du das?", bohrte Katja mit gerunzelter Stirn nach und ließ den Kragen des anderen Schülers endlich los.
"Nunja... Ich meine damit, dass er spurlos verschwunden ist. Sein Zimmer ist komplett leergeräumt. Es befinden sich keine persönlichen Sachen mehr dort. Wir gehen schwer davon aus, dass er den Campus bereits verlassen hat."
Katjas Herzschlag setzte aus. Cedric Urs, Nia und Frau Wood waren weg? Einfach so? Spurlos verschwunden und nicht mehr gesehen, ohne Jemandem Bescheid zu geben? Was hatte das zu bedeuten?
"Um dich noch mehr zu verwirren: Salvatore Zefalus ist ebenfalls verschollen."
Pfeifend tänzelte sie mit der Geige auf den Rücken geschnallt durch die Gassen, die ein wenig Schutz vor der Sonne boten. Überall roch es nach frischer Wäsche und gekochtem Abendessen. Allmählich wurde auch der brünette Wildfang hungrig! Ob Nia wohl schon gegessen hatte?
Nia... Ihre beste Freundin und bessere Hälfte, die sie schon so oft unwissentlich unterstützt und ihr geholfen hatte... Schon bald war dieser letzte gemeinsame Sommer vorbei und ihre Wege würden sich trennen. Natürlich war es kein Abschied für immer, dessen war sich Katja mehr als bewusst, aber... Wenn man so viele Jahre ein Zimmer geteilt hatte, war es ein sehr seltsamer Gedanke, auf einmal getrennt voneinander zu sein. Nia wusste immer noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Für sie selbst war der Weg immer glasklar gewesen, deshalb hat sie sich fast aufgeopfert dafür. Was Nia wohl machen würde? Eine Ausbildung? Es war schwierig, sich das schüchterne Mädchen in einem Beruf vorzustellen. Nicht auszudenken, wenn ihre Kollegen sie mobben und sie weinen würde! Und Katja war nicht an ihrer Seite, um sie zu beschützen und die anderen in die ewigen Jagdgründe zu schicken! Andererseits... Wenn nicht jetzt, wann dann würde Nia lernen, auf eigenen Beinen zu stehen? Es konnte nicht ewig jemand bei ihr sein und sie behüten, so sehr sich Katja das auch wünschte.
"Schluss jetzt!", sagte Katja laut und wedelte mit ihren Händen, um imaginär ihre trübseligen Gedanken zur Seite zu schieben. Einige Leute drehten sich überrascht um, doch sie grinste nur spitzbübisch. Sie war viel zu jung, um sich über solche Dinge Gedanken zu machen! Wie alt war sie denn? 80? Nix da! Jetzt wurde gelebt und die restliche, kostbare Zeit bis auf die letzte Nanosekunde ausgenutzt und in vollen Zügen genossen! Und dieser zufällig vor ihr stehende Dunkin Donuts war genau der richtige Anfang, um ihrer kleinen süßen Nia ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern! Allein bei diesem Gedanken wurde Katja warm ums Herz. Nia glücklich zu machen war ihr persönliches, höchstes Glück! Immerhin wollte die Brünette auch von all den schönen Momenten etwas zurückgeben. Nia war ihre Kraftquelle, die auch mal gefüttert und umsorgt werden wollte!
Schnellen Schrittes lief sie durch die altbekannte Tur im Mädchenwohnheim. In der Hitze wären ja sonst die kostbaren Donuts geschmolzen und das musste unter allen Umständen verhindert werden! Mit glitzernden, lustigen Augen und purer Vorfreude auf den lächelnden Lippen striff sie sich die Schuhe ab und mit einem "Ich bin wieder dahaaa~~~!" riss die Tür zu ihrem Zimmer auf, um Nia zu erschrecken.
Doch der Raum war leer.
Genauso leer wie alle anderen Räume.
Verlassen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
~*~
Nia sprang wie vom Blitz getroffen auf. "Was hat er?!", keuchte sie und hechtete zu Cedric rüber, um ihn auf den Rücken zu drehen. Es gelang ihr nicht. Er war einfach viel zu schwer! Oder Nia zu schwach. Salvatore schüttelte verwirrt den Kopf und rückte den Blonden in die stabile Seitenlage. Er atmete noch, war aber nicht ansprechbar. Seine Pupille zeigte keine Reaktion.
"Er ist ohnmächtig.", atmete der Frauenschwarm aus. Warum um alles in der Welt...? Hatte er im Kampf etwa doch mehr abbekommen als erwartet? Aber dann fällt man doch nicht erst Minuten später um wie ein Stein!
"Ohnmächtig?!", echote Nia und wurde kreidebleich. Cedric war sonst immer so stabil und es sah aus, als würde nichts und niemand ihn umhauen können! "Warum...?", fragte sie in den luftleeren Raum hinein. Lag es an ihr? Hatte sie die Last nicht genug getragen?
"Hat... Cedric irgendetwas... benutzt?", bohrte Salvatore vorsichtig und schaute Nia fest in die Augen. "Versuch dich zu erinnern. Egal, wie trivial es erscheint!"
Die Gedanken des Mädchens überschlugen sich. Etwas benutzt? Deo? Hat er vielleicht länger nichts gegessen? Nein, das konnte es nicht sein! Im Kampf war nichts auffälliges gewesen, Cedric hatte gut gekämpft. Er hatte sich das erste Mal verwandelt, aber das konnte ja nicht der Grund sein... oder? Schließlich war Salvatore auch nicht einfach nach ihrem ersten gemeinsamen Kampf zusammengebrochen!
Verzweiflung stieg in ihr auf. Was, wenn sie daran Schuld war? Nein, das konnte nicht sein, das wollte sie selbst nicht glauben! Sie schüttelte den bewusstlosen Mitschüler unsanft. "Wach auf, du Speckkopf!", rief sie wütend. Sie bekam keine Antwort. Nun machte Wut der Sorge Platz. Wut, die Nia selber nicht wirklich verstand. Es gab keinen Grund dafür! Erst schaute er sie so sanft an, als er den Herzschlüssel freigesetzt hatte... Und nun bereitete er ihr nichts als Kummer?!
Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
"Er... er hat einen Schlüssel benutzt, als er meinen Herzschlüssel freigesetzt hat.", antwortete Nia wie in Trance. "Ich habe mich gewundert, warum man einen Schlüssel braucht, um einen Schlüssel freizusetzen...!"
Diese Worte drangen nur sehr langsam in Salvatores Bewusstsein. Er hatte einen Schlüssel benutzt, um Nias Herzschlüssel...?
Plötzlich musst er laut und gegen seinen Willen lachen. Nia schaute verwirrt und ein wenig skeptisch. Sie mochte Cedric ja auch nicht, aber musste man deswegen gleich lachen...?
Mit einem Schlag war das Gelächter versiegt und ein diebisches Lächeln machte ihm Platz.
Cedric, du schlauer Fuchs...! Dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war!
Nia hingegen war die Verwirrung ins Gesicht geschrieben.
~*~
Tse, was für eine Pleite! Sie hatte sich die schönsten Donuts ausgesucht, aber von ihrer besten Freundin war keine Spur zu sehen. Vielleicht war sie joggen gegangen. Nia liebte es, stundenlang irgendwelche Straßen, Wege, Felder und Pfade entlangzulaufen. Ein Hobby, dass Katja so gar nicht nachvollziehen konnte. Vielleicht wollte sie ihren Körper wieder fit machen, nachdem sie so lange nur gelernt hatten? Immerhin war da nicht viel Zeit für Hobbies oder dergleichen geblieben!
Dennoch war es mehr als ungewöhnlich, dass Nia keinen Zettel hinterlassen hatte. Beide hatten einen festen Platz für ihre Nachrichten – auf dem Schuhschrank am Eingang. Alte, niedliche Zettelchen hatten sie an einer Magnettafel gehängt. Dort standen Nachrichten wie "Katja, du bist die Beste! Ich weiß, dass du das Konzert heute meisterhaft schaffen wirst! Verzauber sie alle! :D" oder "Hab keine Angst vor der Prüfung, es ist nur Mathe! ;P". Einige Notizzettel waren bereits über die Jahre hinweg vergilbt und abgegriffen. Jeder von ihnen war eine kostbare Erinnerung. Ein kleines Juwel, welches Katja nicht missen wollen würde.
Aber diesmal war kein Zettel dabei! Auch im Zimmer befand sich nichts außer den Dezillionen an Notenblättern, Musikbüchern, CD's und dem Kolophonium, das sie schon die ganze Zeit gesucht hatte... nichts Außergewöhnliches. Abgesehen von dem normalen Chaos, das Katja angerichtet hatte und demnächst beseitigen musste.
Im Bad. Nichts.
Und ebenso im Rest der Stube: Nichts.
Ihr Blick wanderte zur Uhr. 21:03 zeigte sie ohne Fehl und Tadel an. Die Sonne war gerade am untergehen. Tiefe Falten durchzogen die Stirn der sonst so unbeschwerten, lebenslustigen Schülerin. Nia war noch nie so spät draußen gewesen, ohne Bescheid zu sagen. Das passte einfach nicht zu ihr. Normalerweise wartete sie auf Katja, nachdem sie Geigenunterricht hatte und sie begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln, welches das Herz der Brünetten zum Hüpfen brachte. Für gewöhnlich wuschelte Katja dann Nias lange, seidige Haare durch und sie plauderten gemeinsam über den vergangenen Tag. Oder über Gott und die Welt. Oder über ihre Zukunftspläne, die nun in greifbare Nähe gerückt waren.
Ohne Nia wirkte es so leer und einsam. Woher kam dieses Gefühl, dass sie Nia nicht mehr wiedersehen würde? Das war doch absurd... oder?
~*~
Er hatte gewusst, dass es so kommen würde. Dennoch hatte er insgeheim gehofft, dass er sich täuschen würde. Als er den Schlüssel eingesetzt hatte, kam wieder die altbekannte, körperlose Stimme, die einem durch Mark und Bein fuhr. Es fühlte sich so kalt an, als würde eine unsichtbare Hand ihre gierigen Finger nach seinem Herz ausstrecken und es zerquetschen wollen.
"Ohnmacht ist ja wohl nur ein kleiner Preis für das, was du ihr verheimlichst, nicht wahr?"
Halt den Mund! Seine Nackenhaare sträubten sich.
"Wenn Nia wüsste, was du für sie empfindest... Was würde sie wohl dazu sagen? Würde sie das überhaupt glauben, da du doch der Speckkopf bist...?"
Sei still! Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Eine kurze Pause trat ein. Fast wollte er aufatmen. Es war ein beklemmendes, erschreckendes Gefühl, die Stimme zu hören. Eine Stimme, die die tiefsten Abgründe des eigenen Herzens kannte und nach gutdünken die Schwachpunkte ausnutzen würde. Oder sich vielmehr daran laben, wie man an den Folgen eines solchen verdammten Pakts zugrunde ging. Es gab kein Entkommen. Je mächtiger der Schlüssel, desto höher der Preis, den man zu bezahlen hatte.
"Du brauchst meine Hilfe...", dröhnte die Stimme erneut gerade in dem Moment, als man sie nicht mehr zu erwarten schien. Das Amüsement aus der Tonlage war nicht zu überhören. "Selbstverständlich werde ich mir holen, was mir gefällt...", meinte sie ganz nonchalant. "Es ist jedes Mal ein Hochgenuss, dich leiden zu sehen, kleiner Cedric..." Der Betroffene knirschte hörbar mit den Zähnen. Diese Stimme jagte ihm einerseits Furcht vor den Konsequenzen ein und andererseits wurde er unglaublich wütend. "Auch wenn ich bezweifle, dass ich jemals je wieder in den Genuss eines solch fabulösen Preises wie damals komme..."
Ein lautes, dröhnendes Kichern erfüllte den Raum, in dem auch die beiden Herzschläge des Rulers und ihres Huan zu hören gewesen waren. Cedric hatte schon schlimmeres erlebt, als ohnmächtig zu werden. Hauptsache, Nia würde niemals erfahren, was er für sie empfand. Sie bedeutete ihm mehr, als ihm selbst lieb war.
Aber dies sollte nie ans Tageslicht kommen.
~*~
Katjas Intuition war ultimativ. Nur in sehr seltenen, eigentlich gar nicht existenten Ausnahmefällen hatte sie sich getäuscht, wenn etwas nicht stimmte. Beispielsweise lag sie einmal beim Erraten einer Eissorte daneben. Zu ihrer Verteidigung musste allerdings gesagt werden, dass sie damals einen bösen Schnupfen hatte. Dadurch war natürlich der Geruchs- und Geschmackssinn eingeschränkt gewesen.
Aber bei großen, wichtigen Dingen täuschte sie sich nicht. Niemals.
Nia war weg.
Und sie wusste nicht, wohin.
Es war bereits 22 Uhr und es war noch keine Spur von ihr zu sehen. Die Sonne war untergegangen und Nia joggte nie so lang und so spät. Außerdem war sie auch niemand, der sich einfach verlaufen würde, schließlich war sie hier aufgewachsen. Seit Jahren hatte sie den Campus kein einziges Mal verlassen. Das klang zwar schon fast wie ein Märchen, aber es war Tatsache. Auch in den Ferien verließ Nia den Campus nicht. Angeblich hatte der Vater immer so viel zu tun oder wohnte zu weit weg.
Unsinn, hatte sich Katja immer gedacht, war aber nie näher drauf eingegangen.
Aber nun war Nia spurlos verschwunden. Es war ausgeschlossen, dass sie nach Hause gefahren war. Erstens war sie dort ja seit einer halben Ewigkeit nicht mehr und zweitens waren all ihre Habseligkeiten noch in der Wohnung. In der Wohnung, in der Katja gerade wütend und vollkommen in Gedanken versunken einen Blue Sky Donut in sich hineinstopfte.
Bei näherem Betrachten wirkte es fast so, als wäre Nia nur einmal kurz fortgegangen. Ein aufgerissener Briefumschlag ohne Absender lag auf der Fensterbank. Ein Streich? Eine Erpressung? Nein, Nia hatte kein Geld, das man erpressen könnte. Aber ein Mobbingfall? Möglich wäre es, schließlich wurde sie oft gehänselt.
Andererseits würde das keinen Sinn ergeben, da die Schule abgeschlossen war und man sich wunderbar gegenseitig aus dem Weg gehen konnte. Warum sollten die Mobber ihre kostbar erlangte Freizeit mit Nia verbringen? Dazu war das Wetter viel zu schön und die vergangenen Wochen viel zu anstrengend und nervenaufreibend gewesen!
Was konnte es dann sein? Nia war zwar naiv und gutgläubig, aber sie würde doch niemals irgendeinem anonymen Brief hinterherlaufen... oder? Die Adresse mit Nias Namen war mit dem Computer geschrieben, sodass Katja daraus keine sonderlich großen Informationen ziehen konnte. War es ein offizielles Schreiben gewesen?
Moment mal... Computer? Katja schnappte sich erneut den Umschlag und starrte die Schrift an. Ihr Atem stockte. Kontte es sein, dass dies diesselbe Schrift war, die Cedric Urs auf seinen Karteikarten verwendet hatte? Jene Karten, die er doch angeblich schreiben musste, damit Nia nicht duchfallen würde? War er so ein Freak? Soziale Inkompetenz wie er sie hatte war ja die eine Sache, aber Nia aus der Wohnung zu locken eine ganz andere! Sollte dieser behinderte Idiot es tatsächlich gewagt haben, Nia zu entführen?! Falls ja, würde er das Licht der nächsten aufgehenden Sonne nicht mehr erblicken, weil ihn Katja vorher höchstpersönlich in seine Einzelteile zerlegt hatte! Hätte sie auch nur annähernd geahnt, was in seinem kranken Kopf vorging, hätte sie ihm bereits am Spind den Garaus gemacht! Da empfand sie es ja noch als süße Geste, dass er ihr Zettelchen zusteckte. Cedric sah auch gar nicht übel aus, wenn er nicht so ein eiskalter Klotz wäre. Zumindest würde er Nia mal auf andere Gedanken bringen als immer nur Salvatore. An dem war irgendwas auch überhaupt nicht koscher. So ein aalglatter, perfekter und vorbildlicher Charakter... Für gewöhnlich gab es so etwas nur in Filmen! Und zwar in sehr schmierigen.
"Ich werde dich finden!", rief sie laut und klatschte wutentbrannt in ihre behandschuhten Hände. Katja stand in Flammen. Ihr kleines Küken war weg – aber sie würde es wiederfinden! Und wenn sie jeden Stein auf dem gesamten Campus persönlich umdrehen musste! Sie! Würde! Nia! Finden!
Katja grübelte. Es hatte keinen Zweck, zur Polizei zu gehen... Die schalteten sich erst ein, wenn die Person länger als 24 Stunden nicht auffindbar war. Und da Katja Nia heute morgen noch gesehen hatte, konnte sie es sich sparen, auf der Polizeiwache ihre kostbare Zeit zu vertrödeln!
Frau Wood war eigentlich eine gute Anlaufstation, da sie die Aufsichtsperson des Mädchenwohnheims war. Neben ihrem Büro befand sich gleich ihre eigene, kleine Wohnung, sodass sie zu jeder Tages- und Nachtzeit für ihre Schülerinnen erreichbar war.
Ungehemmt warf Katja die Wohnungstür auf und flog die Treppen hinunter. Da sie sich ungern die Hände verletzen wollte, donnerte sie mehrmals mit dem Fuß gegen die Tür der Lehrerin. Die Schläge verhallten langsam im menschenleeren Eingangsbereich.
Wo war die Lehrerin bitteschön, wenn man sie tatsächlich einmal brauchte?! Das war doch zum Mäusemelken!
Erneut schlug Katja gegen die Tür. Keine Reaktion.
Vorsichtig drehte sie am Knauf, aber es war verriegelt.
Sie legte ein Ohr an die Tür. Kein Laut drang an ihr Trommelfell.
Auch das Krankenzimmer nebenan war verriegelt und verlassen.
Was ging hier vor? Frau Wood war immer da. Immer. Einzige Ausnahme war die Unterrichtszeit, doch die war bereits lange vorbei.
Wütend stampfte Katja zur großen Blumenvase am Eingang. Mit einem geübten Handgriff zog sie einen mit Tesafilm befestigten Schlüssel an der Unerseite hervor. Endlich lohnte es sich, dass sie vor Jahren einmal die Schlüssel hatte nachmachen lassen, als Frau Wood sie verloren hatte. Man konnte ja nie wissen, wann man so etwas brauchte! Jetzt war genau der richtige Moment dafür gekommen.
Ohne zu zögern und ohne mit der Wimper zu zucken schloss sie die Wohnung von Frau Wood auf.
Doch der Raum war komplett leer.
~*~
Es war ihr immer noch unbegreiflich, dass niemand nach ihnen suchte. Immerhin waren sie von einem auf den anderen Tag spurlos verschwunden und dennoch drang keine Nachricht zu ihr.
Wie lange waren sie bereits in dieser verdammten Schule eingesperrt? Eine Woche? Oder waren es sogar schon zwei? Wie ging es Tanja, die als einzige noch draußen war? Wie musste sie sich gefühlt haben, als ihre zwei engsten Freunde plötzlich verschollen waren? Tanja wusste keine Antwort darauf. Sie fühlte sich einfach nur leer, traurig und verlassen. Einsam.
Sie wollte nicht hier sein. Es musste einen Ausweg geben!
Und den würde sie auch finden.
~*~
Es befanden sich nicht einmal mehr Möbel darin. Der Raum gab nur seine nackten Wände preis und starrte Katja mit hohlen Augen an. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Frau Wood konnte nicht einfach so verschwinden.
Erst Nia, jetzt Frau Wood. Stand das im Zusammenhang?
Es dauerte einige Momente, bis Katja ihr rasendes Herz wieder unter Kontrolle gebracht hatte und sich ihr stockender Atem beruhigt hatte. Zwar war sie nicht so ängstlich wie Nia, aber spurlos verschwindende Menschen waren auch ihr nicht geheuer! Aber sie war noch lange nicht mit ihrem Latein am Ende. Es gab zu viele offene Baustellen!
Als nächstes würde sie sich Cedric Urs vorknöpfen. Gnade ihm Gott, wenn er ihr in die Finger fiel!
Katja war es absolut egal, dass sie zur Sperrstunde das Mädchenwohnheim verließ und energisch in das Jungenwohnheim stapfte, als wäre es das normalste von der Welt. Im Gegensatz zur leeren Eingangshalle war diese hier gut besucht. Überall standen schwatzende Jungs. Man sollte gar nicht meinen, dass sie solche Klatschweiber waren! Sie verstummten allerdings augenblicklich, als ihr Blick auf Katja fiel. Einer zuckte zusammen und taumelte einige Schritte rückwärts.
Die Brünette schnappte ihn sich am Kragen.
"D-D-Das ist das Jungenwohnheim!", stotterte er höchst verwirrt mit deutlicher Empörung.
"Tu nicht so als hätte ich dich beim Scheißen auf der Toilette erwischt.", entgegnete Katja barsch. "Sag mir lieber-"
"Wen haben wir denn da?", ertönte eine hochnäsige Stimme von hinten, die eindeutig Katja galt. Gelangweilt drehte Katja ihren Kopf.
Ein dürrer, hakennasiger junger Mann mit fettigen Haaren stand vor ihr. "Wer bist du denn?", fragte er belustigt.
"Sagen wir es so...", strahlte Katja von einem Ohr zum anderen, nur um im nächsten Moment einen mordlustigen Ausdruck auf ihr Gesicht zu zaubern. "Ich könnte mich zu deinem Alptraum entwickeln."
Ein aufgeregtes Gemurmel ging durch die männlichen Reihen, die sich um die zwei geschart hatten. Noch bevor der Langweiler vor ihr etwas darauf erwidern konnte, setzte sie fort:
"Sag mir sofort, wo sich Cedric Urs befindet, sonst werde ich ungemütlich."
Die Menge hielt den Atem an. Was bildete sie sich überhaupt ein? Sie konnte doch nicht einfach in das Jungenwohnheim spazieren und Auskunft haben wollen! Das konnte ja wohl bis zum nächsten Tag warten! Was wollte die adrette Brünette überhaupt von diesem ungehobelten Klotz?
"Cedric Urs?", echote der Mitschüler. "Tut mir leid, dein Weg war vergebens. Er befindet sich seit gestern nicht mehr hier."
"Wie meinst du das?", bohrte Katja mit gerunzelter Stirn nach und ließ den Kragen des anderen Schülers endlich los.
"Nunja... Ich meine damit, dass er spurlos verschwunden ist. Sein Zimmer ist komplett leergeräumt. Es befinden sich keine persönlichen Sachen mehr dort. Wir gehen schwer davon aus, dass er den Campus bereits verlassen hat."
Katjas Herzschlag setzte aus. Cedric Urs, Nia und Frau Wood waren weg? Einfach so? Spurlos verschwunden und nicht mehr gesehen, ohne Jemandem Bescheid zu geben? Was hatte das zu bedeuten?
"Um dich noch mehr zu verwirren: Salvatore Zefalus ist ebenfalls verschollen."