Kapitel 24: Not tomorrow.
Alles war ruhig.
Nur der eigene, stoßweise gehende Atem dröhnte in den Ohren.
Was war geschehen?
Kopfschmerzen und Übelkeit lähmten die Gedanken. Ein verbrannter, giftiger Geruch lag in der Luft und verschlang alles um sich herum.
Von weit her drangen Stimmen an sein Ohr. Wurde da sein Name gerufen? Wer rief ihn überhaupt? Seine Mutter...? Wohl kaum. Eher sein Vater, aber dafür klangen die Stimmen viel zu aufgeregt und besorgt. "Besorgt"... Gab es dieses Wort im Zusammenhang mit seinem Namen überhaupt? Lachhaft. Als würde sich überhaupt irgendjemand um ihn scheren. Es war nutzen oder benutzt werden in der Welt, in der er lebte. Überhaupt grenzte es an ein Wunder, dass er als bloßes Werkzeug so weit gekommen war...
Er konnte sich nicht bewegen. Mühselig öffnete er seine verklebten, rußigen Augen. Das Adrenalin in seinem Körper tat seinen Job sehr gut. Er spürte keinerlei Schmerzen. Fragte sich bloß, wie lange dieser Zustand noch anhalten würde...
Ah... Er erinnerte sich wieder. Nia Toshiki und die Gerüchteküchechefin hatten ihn gebeten, die Briefe abzuliefern. Was für eine Schnapsidee! Als hätte er nicht von vornherein gewusst, was auf ihn zukommen würde! Schließlich war er mit diesen Regeln aufgewachsen... Wer nicht Folge leistete, wurde umgehend und hart bestraft. Warum hatte er so schnell den Bitten und dem Betteln der beiden Mädchen nachgegeben? Hatte er etwa ernsthaft vergessen, welche Schmerzen das verursachen konnte? Er brauchte seinen Stoff... Und das möglichst schnell!
Nein. Sein Körper erinnerte sich noch sehr genau an all die Peinigungen, die er bereits erlitten hatte. Aber... Nia sollte sich schneller und noch viel viel mehr in ihn verlieben. Warum sollte er nicht die Gelegenheit beim Schopfe packen und ihr diesen Herzenswunsch erfüllen? Er hatte sich für sie in Gefahr begeben und sich verletzt. Bestimmt machte sie sich jetzt Vorwürfe und würde noch mehr emotional an ihm hängen. Das kam ihm gerade recht. Cedric Urs war erstaunlich gefühlsduselig Nia gegenüber... Und auf kurz oder lang würde er bestimmt den Kürzeren ziehen. Er, Salvatore Zefalus! Nicht nach allem, was er auf sich genommen hatte! Sein Ziel war viel zu wichtig, als dass er sich von irgendetwas oder irgendjemanden geschlagen geben würde!
Der Boden vibrierte leicht. Jemand kam auf ihn zugelaufen. Jemand, der nicht Nia war. Bestimmt waren das Wachen oder irgendwelche dummen Lehrer, die ihn aufklauben und weiter bestrafen wollten. Eine Hand packte ihn grob an. Ohne zu zögern bohrte Salvatore Zefalus seinen Schnabel tief in ihre Hand. Blut spritzte. Ein spitzer Schrei gellte durch die Nacht.
So leicht würden sie ihn nicht kriegen!
~*~
"Einen noch mächtigeren Schlüssel?", echote Nia Lais' Worte. Diese nickte emotionslos.
"Dann bauen wir das Ding einfach!", stieß Tanja aus und Cedric und Isaac seufzten. Sie verdrehte die Augen ob dieser lahmen Reaktion. Kaum unterbreitete sie mal machbare, gute Vorschläge, schon wurden sie wortlos abgeschmettert. Banausen!
"Wenn es dieser Schlüssel schafft, eine ganze Schule zu umschließen und dabei noch als Abwehrsystem zu dienen... Meinst du wirklich, man könnte das mit irgendeinem Schlüssel einfach brechen?", versuchte Isaac seinen Zuhörern vor Augen zu führen und ihnen die Situation klar zu machen. Er raufte sich die Haare. "Man braucht erst einmal die Teile, um überhaupt so einen mächtigen Schlüssel bauen zu können!"
"Dann... kaufen wir sie einfach?", fragte Akuma und blickte erwartungsvoll in die Runde. Seine Brust war stolzgeschwellt, doch auch sein Gesicht verfinsterte sich, als
er den Eisbärenhuan betrachtete. Verursachte so eine Aussage wirklich Kopfschmerzen? Wütend verschränkte er die Arme. "Wenn alles so grober Unfug ist, dann schlag du was Besseres vor!"
Die Herausforderung nahm Cedric gerne an. "Man kann Schlüsselteile zwar tatsächlich kaufen, aber sie haben kein Etikett wie "super geeignet um Schutzschilde zu zerstören"! Die Kombination aller drei Bestandteile bestimmt erst, welche Wirkung der Schlüssel haben wird." Eine lange, gedehnte Pause trat ein. Man hörte, wie in den
Köpfen die Räder ratterten.
"Aber das würde ja bedeuten...", entfuhr es Tonia und Nia ergänzte den Satz, als hätten es die Beiden jahrelang eintrainiert: "Dass man ewig brauchen könnte, bis man
die richtige Kombination findet!"
Cedric machte den Mund auf, als eine Durchsage ertönte. Insbesondere Nia zuckte zusammen. Es war Mitten in der Nacht! Es war doch nicht etwa wegen-
"Achtung eine Durchsage. Nia Toshiki kommt bitte unverzüglich in das Zimmer 209 von Frau Eunice Wood. Ich wiederhole: Nia Toshiki soll unverzüglich in das Zimmer 209 von Frau Wood kommen."
Nia schaute Cedric mit angsterfüllten Augen an. Er nickte beschwichtigend. Niemals würde er sie allein irgendwohin gehen lassen!
~*~
"Ich habe auf dich gewartet.", begrüßte Frau Wood die Beiden finster. Es war ein wirklich seltsamer Anblick, die Pädagogin im Nachthemd zu sehen. Ihre Haare waren
länger, als der strenge Dutt es vermuten ließ. Eilig hatte sie einen royalblauen Bademantel über ihre Schultern geworfen, damit sie nicht vollkommen überrumpelt
aussah. Ihre rechte Hand war einbandagiert. Seltsam... War das heute Vormittag auch schon der Fall gewesen? Nia konnte sich nicht entsinnen.
Ehrlich gesagt hatte sie damit gerechnet, in das Büro von Frau Wood geführt zu werden und nicht in ihr privates Zimmer. Dennoch, oder gerade deswegen, klopfte Nias Herz ihr bis zum Hals. Sie wusste schon, was jetzt kommen würde...!
Die Lehrerin hatte sich auf ihre Couch gesetzt und strich sich eine abstehende Strähne hinter ihr Ohr. "Heute Nacht hat Salvatore Zefalus versucht, die Erselik-Schule zu verlassen.", sagte sie tonlos und fügte mit einem sehr bitteren Unterton hinzu: "Aber das dürfte dir höchstwahrscheinlich bekannt sein."
Nia wollte etwas erwidern, doch die Erwaschsene schnitt ihr das Wort ab.
"Wie dem auch sei. Wir können nicht beweisen, ob du davon wusstest oder nicht, weil aus Salvatore Zefalus nichts herauszukriegen ist..."
"Er lebt?!", atmete Nia erleichtert auf und schlug sich im gleichen Moment die Hand vor den Mund. Frau Wood beäugte sie argwöhnisch.
"Ich weiß es zu schätzen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, aber du solltest es einem auch nicht zu einfach machen. Dadurch verliert das Spiel seinen Reiz... Und genau das ist es, was ich so mag... Du wusstest also davon, was deine Strafe nur noch härter macht." Sie zückte einen Schlüsselbund. Klimpernd und mit spitzen Fingern ließ sie einen nach dem anderen durch ihre Finger gleiten. Inständig hoffte Nia, dass es sich dabei um ganz normale Haustürschlüssel handeln möge... Aber das war reines Wunschdenken.
"Du als der Ruler von Salvatore Zefalus trägst die Verantwortung für ihr Tun. Betrachte sie als deine Haustiere, die unartig gewesen sind." Der letzte Satz hörte sich sehr verbittert und hart an.
"Weder Salvatore noch sie sind "Haustiere"!", entgegnete Nia entschlossen. "Wie können sie so etwas sagen, wenn sie in der gleichen Situation sind?"
Für eine kurze Sekunde starrte Frau Wood das junge Mädchen fassungslos an. Dann kam tief unten aus ihrer Kehle ein trockenes, sprödes Lachen hervor. "Ach Mädchen... Du bist so süß und naiv, dass einem fast zum Weinen zumute wird. Wirklich rührend. Lenk gefälligst nicht vom eigentlichen Thema ab!" Dabei schlug sie hart auf die Armlehne der Couch, doch der dunkelgrüne, dicke Stoff dämpfte den Schlag enorm.
Nia wich einen Schritt zurück. Selbst verschlafen hatte die Lehrerin eine ganz Besondere Aura um sich, die sie sehr einschüchternd wirken ließ.
"So habe ich das nicht...", setzte sie an, doch Frau Wood schnitt ihr das Wort ab. "Wenn der Kuchen spricht, haben die Krümel zu schweigen! Einer deiner Huans hat
etwas Verbotenes getan und wollte aus der Schule ausbrechen. Dafür wirst du bestraft, da du die Verantwortung für deine Huans trägst!", polterte sie und wählte einen Schlüssel aus dem Schlüsselbund. Besonders aufsehenserregend sah er nicht aus. Schlichtes, einfach gebürstetes Messing mit einem kleinen, glitzernden Stein in
der Mitte. Der Stein sah so unecht aus, dass es sich mit absoluter Sicherheit um Zirkonia handeln musste. Welche Strafe konnte von so einem einfachen Schlüssel schon
ausgehen?
Frau Wood schloss langsam ihre Finger um den Schlüssel. Ihr Mund bewegte sich lautlos.
Was tat sie da?
Verzauberte sie den Schlüssel etwa...?
Nein, das war doch nicht möglich, oder doch?
Nias Mund stand offen, als plötzlich ein Windhauch durchs Zimmer fegte. Weder Türen noch Fenster waren geöffnet. Es fröstelte die junge Schülerin. Das war ganz sicher kein normaler Wind gewesen...!
Mit entrücktem Blick und tiefer Stimme stand Frau Wood auf und ging auf Nia zu. "In den nächsten drei Kämpfen werden sich deine Huans nicht mehr mit ihrem Stoff heilen können!" Dabei strich sie mit einer fast zärtlichen Geste Nias Haare aus dem Gesicht. Noch bevor Cedric oder die Betroffene reagieren konnten, war ein leises,
metallisches Geräusch zu hören. Mit einem Satz sprang die Schülerin zurück.
Was um alles in der Welt...?
Vorsichtig fasste sie sich an ihr rechtes Ohr.
Verheißungsvoll schillernd baumelte der Schlüssel nun dort. Ein sichtbares Mahnmal für alle, die die Regeln brachen.
~*~
"Sind sie endlich weg?" Mit schlurfenden, tapsigen Schritten kam ein junger Schüler aus seinem Zimmer. Verschlafen wuschelte er sich durch seine zerzausten Betthaare,
die in alle Himmelsrichtungen abstanden. Seine unterschiedlich farbigen Augen waren vom Schlaf verkrustet.
Frau Wood starrte immer noch auf den Fleck, an dem Nia Toshiki und Cedric Urs bis vor wenigen Augenblicken gestanden hatten. Mehr zu sich selbst sagte sie: "Salvatore
Zefalus hat versucht, aus der Schule auszubrechen... Ich bin mir sicher, dass das nicht allein auf seinem Mist gewachsen ist."
Binnen einer Sekunde war Miguels Blick hellwach. "Salvatore hat was getan?!" Fassungslosigkeit lag in seiner Stimme.
"Er hat sich in einen Weißkopfseeadler verwandelt und wollte fliehen." wiederholte Eunice Wood und schaute Miguel dabei tief in die Augen. "Natürlich haben sowohl er als auch Nia ihre gerechte Strafe bekommen... Aber dennoch-"
Dabei stand sie auf und ging auf ihren Schüler zu. Mit ihrem Zeigefinger hob sie sein Kinn an und knurrte in einem unmissverständlichen Ton:
"Komm niemals auf eine ähnlich dämliche Idee, Miguel Luengo. Katja Müller gehört nicht hierher und wir gehören nicht mehr dorthin. Schlag sie dir aus dem Kopf."
"Eunice!", begehrte er auf doch sie schüttelte den Kopf.
"Wir sollten sie beide so schnell wie möglich vergessen. Sonst tut es uns nur unnötig weh..."
Mit diesen Worten ließ sie von ihrem Ruler ab und schloss ihre Zimmertüre hinter sich.
Katja und sie lebten nun in getrennten Welten. Es war am Besten, wenn sie sich nie wiedersahen.
~*~
Cedric und Nia eilten die Gänge entlang. Diese Nacht war zu viel passiert und sie wollten endlich zurück in ihre eigenen vier Wände. Und noch viel mehr wollte Nia endlich Katja wiedersehen... Wiedersehen und ihr alles erzählen, was hier vorgefallen war. Sie in die Arme nehmen, gemeinsam lachen und dann Donuts essen, während Katja wieder Geige spielte... Natürlich war das Fenster sperrangelweit offen und ein lauer Sommerwind wehte das ein oder andere Blatt von ihren unordentlichen Schreibtischen. Von draußen schallte fröhliches Gelächter und das Geräusch vom Anfeuern bei einem Fußballspiel herauf. Irgendwo in der Ferne entdeckte man im Abendrot den ein oder anderen Klassenkameraden und mit viel Glück sogar seinen Schwarm. Natürlich erkannte man Letzteren hauptsächlich an der Menschentraube, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte.
Nias Herz zog sich bei den Erinnerungen zusammen. Sie wollte Katja wiedersehen. Sie wollte zurück in jene glückliche Zeit.
Der Ohrring brannte.
Zurück in eine Zeit, als sich andere Menschen noch nicht für sie aufopferten. Ihr Schwarm nicht wegen ihr verletzt wurde und ihre beste Freundin immer nur eine Armlänge von ihr entfernt war. Als es noch keine seltsamen Strafen und noch seltsamere Schlüssel und Huans gab... Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals und sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten.
Gedankenverloren zog sie die Karte aus ihrer Rocktasche und öffnete die Tür zu ihrem Appartement.
Mit einem breiten Lächeln saß Salvatore auf der Couch. In seiner Hand hatte er einen Krimi. Der gutaussehende Schüler wirkte so entspannt, gelassen und gesund wie immer. Die ganze Szenerie ließ die Geschehnisse von zuvor wie einen albernen Alptraum erscheinen.
"Salvatore!", schluchzte Nia und stürzte auf ihren Schwarm zu. Warum hatte sie nicht auf Cedric und Isaac gehört? Beide hatten sie einvernehmlich gewarnt und dennoch... Dennoch...! Der Schüler stand auf und ließ Nia gewehren. Stürmisch umarmte sie ihn und zitterte wie Espenlaub. Ihre oberflächliche Schnappatmung und die unter Tränen gemurmelten und gestotterten Entschuldigungen schienen gar nicht enden zu wollen. Sie war so froh, so erleichtert und gleichzeitig fassungslos, dass Salvatore wohlauf war. War er nicht in Brand geraten? Es gab sogar eine Explosion! Er musste furchtbare Qualen durchlitten haben und dennoch stand er einfach so da und lächelte sie freundlich an... Nach alldem, was sie verbockt hatte!
Stumm und wie ein fünftes Rad am Wagen stand Cedric Urs in der Tür. Als er sah, wie sich Nia an Salvatore klammerte, presste er die Lippen fest aufeinander. Heiße Eifersucht schoss durch seine Adern. Es war wohl besser, wenn er sie nicht länger störte und einfach lautlos in seinem Zimmer verschwand. Vorsorglich betete er schon, dass ihm der Anblick der Zwei nicht in seinen Träumen verfolgen möge.
Mit geballter Faust wollte er gerade die Türklinke runterdrücken. Wieso machte ihm das so viel aus? Es war doch besser, wenn Nia ihn hasste! Das machte alles einfacher... Und dennoch...
"Warte, Cedric!", hörte er Nias Stimme wie in Trance. Überrascht drehte er seinen Kopf zur Seite. Gegen seinen Willen keimte das nutzlose Gefühl von Hoffnung auf. Er konnte sich nicht dagegen wehren, dass sich sein Herzschlag beschleunigte, als sie mit verweintem Gesicht auf sie zugestürzt kam. Allerdings versetzte es ihm einen leichten Stich, als er sah, dass sie Salvatore an die Hand genommen hatte und hinter sich herzog.
"Cedric... Es tut mir so unglaublich, unendlich leid, dass ich nicht auf deine Warnung gehört habe!", wimmerte Nia und eine einsame Träne kullerte über ihr verquollenes Gesicht. Cedric kostete es sämtliche Überwindung, ihr nicht zärtlich über die Wangen zu streichen und die Träne vom Fallen abzuhalten. Er hatte sich geschworen, sie nicht mehr anzufassen. Kein Wort kam über seine Lippen und er regte sich auch keinen Zentimeter.
Stattdessen bugsierte Nia Salvatore neben Cedric und verbeugte sich so tief wie sie konnte. "Salvatore, ich habe dich heute in Lebensgefahr gebracht, weil ich so unendlich egoistisch war. Keine Entschuldigung der Welt kann wiedergutmachen, was ich dir damit angetan habe... Dennoch möchte ich sagen, dass... dass es mir aufrichtig und von ganzem Herzen leid tut."
Einige Tränen fielen auf den Boden, bevor sie sich wieder aufrichtete. Ihre meerblauen Augen ließen bis zum Grund ihrer Seele blicken.
"Ich bin so schwach und unerfahren. Aber was noch viel viel schlimmer ist... Ich habe euch gesagt, dass wir einander vertrauen sollen... Und dann halte ich mich nicht an meine eigenen Ratschläge. Bitte verzeiht mir noch ein letztes Mal. Ich möchte stark werden... Stark genug, um den Titel eines "Rulers" wirklich zu verdienen."
Die Jungs waren überfordert. Sogar Salvatores eingemeißeltes Lächeln wich einem verwirrten, nervösen Ausdruck.
Dann umarmte Nia ihre beiden Huans. Cedrics Herzschlag setzte aus.
"Ich bin so froh euch zu haben... Ohne euch wäre ich ganz allein und einsam und verlassen und wüsste nicht, was ich tun soll... Ich möchte Katja so sehr wiedersehen... Ich..." Ihre Stimme erstickte unter den Tränen.
"Ich vermisse meine beste Freundin so sehr..."
~*~
Es hatte keine fünf Minuten gedauert, bis Nia schließlich eingeschlafen war. Salvatore trug sie wie eine Prinzessin in ihr Zimmer und legte sie in ihr Bett. Mit einem lauten Seufzer schloss er die Tür. Cedric erwartete ihn bereits mit verschränkten Armen. Noch immer spürten sie die Wärme von Nias Umarmung. Eine offene, ehrliche Wärme mit wahrer Sehnsucht nach dem Menschen, der ihr am Meisten bedeutete: Katja Müller.
Nicht einmal Salvatore kam gegen so eine jahrelange, intensive Freundschaft an.
"Du scheinst dich ja sehr schnell wieder erholt zu haben. Ich dachte schon, du wärst als Brathähnchen auf dem morgigen Menü gelandet...", provozierte Cedric mit finsterem Blick.
Salvatore lächelte zynisch und zuckte gekünstelt mit den Schultern. "Manchmal hat man einfach das Glück und hat seinen Stoff direkt zur Hand... Das erleichtert die ganze Sache enorm, egal wie lädiert oder durchgebraten man ist."
"Wie ich sehe hast du auch einen Ohrring verpasst bekommen.", erwähnte der Eisbärenhuan nebensächlich und deutete auf sein linkes Ohr. In der Tat hing dort ein Schlüssel in derselben Form und Größe wie der von Nia.
"Nennen wir es einfach Partnerlook.", grinste Salvatore und wischte Cedrics Hand weg. Eher würde er sich die Zunge abbeißen als dem Blonden von seiner Strafe zu erzählen. Erst wenn Nia sich danach erkundigte. Für einen langen Moment sagten beide gar nichts sondern starrten Nias Tür an. Ihre langen, erschöpften Atemzüge waren sogar auf dem Gang zu hören. Ansonsten war alles still. Unbewusst fuhr der Eisbärenhuan die Stellen nach, an welchen Nia ihn umarmt hatte. Noch immer konnte er es nicht so ganz fassen. Nia hatte wegen ihm geweint... Wegen ihm!
Es schien wie eine Ewigkeit, bis Cedric schließlich das Schweigen brach.
"Hör mal... Ich glaube nicht, dass..."
"... Nia aufgibt, Katja sehen zu wollen.", schloss Salvatore den Satz leise ab. Sein Mitbewohner nickte ruhig und entschlossen. Nias Schwarm ging zum Fenster und verschränkte die Arme.
"Nunja...", setzte er an und sein Grinsen wurde immer breiter, "Es ist ja nicht so, als würden wir ohne Plan dastehen... Nicht wahr, Meister aller Schlüssel?"
Cedric knirschte mit den Zähnen.
"Ja, aber das geht nicht ohne deine Hilfe."
Nur der eigene, stoßweise gehende Atem dröhnte in den Ohren.
Was war geschehen?
Kopfschmerzen und Übelkeit lähmten die Gedanken. Ein verbrannter, giftiger Geruch lag in der Luft und verschlang alles um sich herum.
Von weit her drangen Stimmen an sein Ohr. Wurde da sein Name gerufen? Wer rief ihn überhaupt? Seine Mutter...? Wohl kaum. Eher sein Vater, aber dafür klangen die Stimmen viel zu aufgeregt und besorgt. "Besorgt"... Gab es dieses Wort im Zusammenhang mit seinem Namen überhaupt? Lachhaft. Als würde sich überhaupt irgendjemand um ihn scheren. Es war nutzen oder benutzt werden in der Welt, in der er lebte. Überhaupt grenzte es an ein Wunder, dass er als bloßes Werkzeug so weit gekommen war...
Er konnte sich nicht bewegen. Mühselig öffnete er seine verklebten, rußigen Augen. Das Adrenalin in seinem Körper tat seinen Job sehr gut. Er spürte keinerlei Schmerzen. Fragte sich bloß, wie lange dieser Zustand noch anhalten würde...
Ah... Er erinnerte sich wieder. Nia Toshiki und die Gerüchteküchechefin hatten ihn gebeten, die Briefe abzuliefern. Was für eine Schnapsidee! Als hätte er nicht von vornherein gewusst, was auf ihn zukommen würde! Schließlich war er mit diesen Regeln aufgewachsen... Wer nicht Folge leistete, wurde umgehend und hart bestraft. Warum hatte er so schnell den Bitten und dem Betteln der beiden Mädchen nachgegeben? Hatte er etwa ernsthaft vergessen, welche Schmerzen das verursachen konnte? Er brauchte seinen Stoff... Und das möglichst schnell!
Nein. Sein Körper erinnerte sich noch sehr genau an all die Peinigungen, die er bereits erlitten hatte. Aber... Nia sollte sich schneller und noch viel viel mehr in ihn verlieben. Warum sollte er nicht die Gelegenheit beim Schopfe packen und ihr diesen Herzenswunsch erfüllen? Er hatte sich für sie in Gefahr begeben und sich verletzt. Bestimmt machte sie sich jetzt Vorwürfe und würde noch mehr emotional an ihm hängen. Das kam ihm gerade recht. Cedric Urs war erstaunlich gefühlsduselig Nia gegenüber... Und auf kurz oder lang würde er bestimmt den Kürzeren ziehen. Er, Salvatore Zefalus! Nicht nach allem, was er auf sich genommen hatte! Sein Ziel war viel zu wichtig, als dass er sich von irgendetwas oder irgendjemanden geschlagen geben würde!
Der Boden vibrierte leicht. Jemand kam auf ihn zugelaufen. Jemand, der nicht Nia war. Bestimmt waren das Wachen oder irgendwelche dummen Lehrer, die ihn aufklauben und weiter bestrafen wollten. Eine Hand packte ihn grob an. Ohne zu zögern bohrte Salvatore Zefalus seinen Schnabel tief in ihre Hand. Blut spritzte. Ein spitzer Schrei gellte durch die Nacht.
So leicht würden sie ihn nicht kriegen!
~*~
"Einen noch mächtigeren Schlüssel?", echote Nia Lais' Worte. Diese nickte emotionslos.
"Dann bauen wir das Ding einfach!", stieß Tanja aus und Cedric und Isaac seufzten. Sie verdrehte die Augen ob dieser lahmen Reaktion. Kaum unterbreitete sie mal machbare, gute Vorschläge, schon wurden sie wortlos abgeschmettert. Banausen!
"Wenn es dieser Schlüssel schafft, eine ganze Schule zu umschließen und dabei noch als Abwehrsystem zu dienen... Meinst du wirklich, man könnte das mit irgendeinem Schlüssel einfach brechen?", versuchte Isaac seinen Zuhörern vor Augen zu führen und ihnen die Situation klar zu machen. Er raufte sich die Haare. "Man braucht erst einmal die Teile, um überhaupt so einen mächtigen Schlüssel bauen zu können!"
"Dann... kaufen wir sie einfach?", fragte Akuma und blickte erwartungsvoll in die Runde. Seine Brust war stolzgeschwellt, doch auch sein Gesicht verfinsterte sich, als
er den Eisbärenhuan betrachtete. Verursachte so eine Aussage wirklich Kopfschmerzen? Wütend verschränkte er die Arme. "Wenn alles so grober Unfug ist, dann schlag du was Besseres vor!"
Die Herausforderung nahm Cedric gerne an. "Man kann Schlüsselteile zwar tatsächlich kaufen, aber sie haben kein Etikett wie "super geeignet um Schutzschilde zu zerstören"! Die Kombination aller drei Bestandteile bestimmt erst, welche Wirkung der Schlüssel haben wird." Eine lange, gedehnte Pause trat ein. Man hörte, wie in den
Köpfen die Räder ratterten.
"Aber das würde ja bedeuten...", entfuhr es Tonia und Nia ergänzte den Satz, als hätten es die Beiden jahrelang eintrainiert: "Dass man ewig brauchen könnte, bis man
die richtige Kombination findet!"
Cedric machte den Mund auf, als eine Durchsage ertönte. Insbesondere Nia zuckte zusammen. Es war Mitten in der Nacht! Es war doch nicht etwa wegen-
"Achtung eine Durchsage. Nia Toshiki kommt bitte unverzüglich in das Zimmer 209 von Frau Eunice Wood. Ich wiederhole: Nia Toshiki soll unverzüglich in das Zimmer 209 von Frau Wood kommen."
Nia schaute Cedric mit angsterfüllten Augen an. Er nickte beschwichtigend. Niemals würde er sie allein irgendwohin gehen lassen!
~*~
"Ich habe auf dich gewartet.", begrüßte Frau Wood die Beiden finster. Es war ein wirklich seltsamer Anblick, die Pädagogin im Nachthemd zu sehen. Ihre Haare waren
länger, als der strenge Dutt es vermuten ließ. Eilig hatte sie einen royalblauen Bademantel über ihre Schultern geworfen, damit sie nicht vollkommen überrumpelt
aussah. Ihre rechte Hand war einbandagiert. Seltsam... War das heute Vormittag auch schon der Fall gewesen? Nia konnte sich nicht entsinnen.
Ehrlich gesagt hatte sie damit gerechnet, in das Büro von Frau Wood geführt zu werden und nicht in ihr privates Zimmer. Dennoch, oder gerade deswegen, klopfte Nias Herz ihr bis zum Hals. Sie wusste schon, was jetzt kommen würde...!
Die Lehrerin hatte sich auf ihre Couch gesetzt und strich sich eine abstehende Strähne hinter ihr Ohr. "Heute Nacht hat Salvatore Zefalus versucht, die Erselik-Schule zu verlassen.", sagte sie tonlos und fügte mit einem sehr bitteren Unterton hinzu: "Aber das dürfte dir höchstwahrscheinlich bekannt sein."
Nia wollte etwas erwidern, doch die Erwaschsene schnitt ihr das Wort ab.
"Wie dem auch sei. Wir können nicht beweisen, ob du davon wusstest oder nicht, weil aus Salvatore Zefalus nichts herauszukriegen ist..."
"Er lebt?!", atmete Nia erleichtert auf und schlug sich im gleichen Moment die Hand vor den Mund. Frau Wood beäugte sie argwöhnisch.
"Ich weiß es zu schätzen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, aber du solltest es einem auch nicht zu einfach machen. Dadurch verliert das Spiel seinen Reiz... Und genau das ist es, was ich so mag... Du wusstest also davon, was deine Strafe nur noch härter macht." Sie zückte einen Schlüsselbund. Klimpernd und mit spitzen Fingern ließ sie einen nach dem anderen durch ihre Finger gleiten. Inständig hoffte Nia, dass es sich dabei um ganz normale Haustürschlüssel handeln möge... Aber das war reines Wunschdenken.
"Du als der Ruler von Salvatore Zefalus trägst die Verantwortung für ihr Tun. Betrachte sie als deine Haustiere, die unartig gewesen sind." Der letzte Satz hörte sich sehr verbittert und hart an.
"Weder Salvatore noch sie sind "Haustiere"!", entgegnete Nia entschlossen. "Wie können sie so etwas sagen, wenn sie in der gleichen Situation sind?"
Für eine kurze Sekunde starrte Frau Wood das junge Mädchen fassungslos an. Dann kam tief unten aus ihrer Kehle ein trockenes, sprödes Lachen hervor. "Ach Mädchen... Du bist so süß und naiv, dass einem fast zum Weinen zumute wird. Wirklich rührend. Lenk gefälligst nicht vom eigentlichen Thema ab!" Dabei schlug sie hart auf die Armlehne der Couch, doch der dunkelgrüne, dicke Stoff dämpfte den Schlag enorm.
Nia wich einen Schritt zurück. Selbst verschlafen hatte die Lehrerin eine ganz Besondere Aura um sich, die sie sehr einschüchternd wirken ließ.
"So habe ich das nicht...", setzte sie an, doch Frau Wood schnitt ihr das Wort ab. "Wenn der Kuchen spricht, haben die Krümel zu schweigen! Einer deiner Huans hat
etwas Verbotenes getan und wollte aus der Schule ausbrechen. Dafür wirst du bestraft, da du die Verantwortung für deine Huans trägst!", polterte sie und wählte einen Schlüssel aus dem Schlüsselbund. Besonders aufsehenserregend sah er nicht aus. Schlichtes, einfach gebürstetes Messing mit einem kleinen, glitzernden Stein in
der Mitte. Der Stein sah so unecht aus, dass es sich mit absoluter Sicherheit um Zirkonia handeln musste. Welche Strafe konnte von so einem einfachen Schlüssel schon
ausgehen?
Frau Wood schloss langsam ihre Finger um den Schlüssel. Ihr Mund bewegte sich lautlos.
Was tat sie da?
Verzauberte sie den Schlüssel etwa...?
Nein, das war doch nicht möglich, oder doch?
Nias Mund stand offen, als plötzlich ein Windhauch durchs Zimmer fegte. Weder Türen noch Fenster waren geöffnet. Es fröstelte die junge Schülerin. Das war ganz sicher kein normaler Wind gewesen...!
Mit entrücktem Blick und tiefer Stimme stand Frau Wood auf und ging auf Nia zu. "In den nächsten drei Kämpfen werden sich deine Huans nicht mehr mit ihrem Stoff heilen können!" Dabei strich sie mit einer fast zärtlichen Geste Nias Haare aus dem Gesicht. Noch bevor Cedric oder die Betroffene reagieren konnten, war ein leises,
metallisches Geräusch zu hören. Mit einem Satz sprang die Schülerin zurück.
Was um alles in der Welt...?
Vorsichtig fasste sie sich an ihr rechtes Ohr.
Verheißungsvoll schillernd baumelte der Schlüssel nun dort. Ein sichtbares Mahnmal für alle, die die Regeln brachen.
~*~
"Sind sie endlich weg?" Mit schlurfenden, tapsigen Schritten kam ein junger Schüler aus seinem Zimmer. Verschlafen wuschelte er sich durch seine zerzausten Betthaare,
die in alle Himmelsrichtungen abstanden. Seine unterschiedlich farbigen Augen waren vom Schlaf verkrustet.
Frau Wood starrte immer noch auf den Fleck, an dem Nia Toshiki und Cedric Urs bis vor wenigen Augenblicken gestanden hatten. Mehr zu sich selbst sagte sie: "Salvatore
Zefalus hat versucht, aus der Schule auszubrechen... Ich bin mir sicher, dass das nicht allein auf seinem Mist gewachsen ist."
Binnen einer Sekunde war Miguels Blick hellwach. "Salvatore hat was getan?!" Fassungslosigkeit lag in seiner Stimme.
"Er hat sich in einen Weißkopfseeadler verwandelt und wollte fliehen." wiederholte Eunice Wood und schaute Miguel dabei tief in die Augen. "Natürlich haben sowohl er als auch Nia ihre gerechte Strafe bekommen... Aber dennoch-"
Dabei stand sie auf und ging auf ihren Schüler zu. Mit ihrem Zeigefinger hob sie sein Kinn an und knurrte in einem unmissverständlichen Ton:
"Komm niemals auf eine ähnlich dämliche Idee, Miguel Luengo. Katja Müller gehört nicht hierher und wir gehören nicht mehr dorthin. Schlag sie dir aus dem Kopf."
"Eunice!", begehrte er auf doch sie schüttelte den Kopf.
"Wir sollten sie beide so schnell wie möglich vergessen. Sonst tut es uns nur unnötig weh..."
Mit diesen Worten ließ sie von ihrem Ruler ab und schloss ihre Zimmertüre hinter sich.
Katja und sie lebten nun in getrennten Welten. Es war am Besten, wenn sie sich nie wiedersahen.
~*~
Cedric und Nia eilten die Gänge entlang. Diese Nacht war zu viel passiert und sie wollten endlich zurück in ihre eigenen vier Wände. Und noch viel mehr wollte Nia endlich Katja wiedersehen... Wiedersehen und ihr alles erzählen, was hier vorgefallen war. Sie in die Arme nehmen, gemeinsam lachen und dann Donuts essen, während Katja wieder Geige spielte... Natürlich war das Fenster sperrangelweit offen und ein lauer Sommerwind wehte das ein oder andere Blatt von ihren unordentlichen Schreibtischen. Von draußen schallte fröhliches Gelächter und das Geräusch vom Anfeuern bei einem Fußballspiel herauf. Irgendwo in der Ferne entdeckte man im Abendrot den ein oder anderen Klassenkameraden und mit viel Glück sogar seinen Schwarm. Natürlich erkannte man Letzteren hauptsächlich an der Menschentraube, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte.
Nias Herz zog sich bei den Erinnerungen zusammen. Sie wollte Katja wiedersehen. Sie wollte zurück in jene glückliche Zeit.
Der Ohrring brannte.
Zurück in eine Zeit, als sich andere Menschen noch nicht für sie aufopferten. Ihr Schwarm nicht wegen ihr verletzt wurde und ihre beste Freundin immer nur eine Armlänge von ihr entfernt war. Als es noch keine seltsamen Strafen und noch seltsamere Schlüssel und Huans gab... Ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals und sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten.
Gedankenverloren zog sie die Karte aus ihrer Rocktasche und öffnete die Tür zu ihrem Appartement.
Mit einem breiten Lächeln saß Salvatore auf der Couch. In seiner Hand hatte er einen Krimi. Der gutaussehende Schüler wirkte so entspannt, gelassen und gesund wie immer. Die ganze Szenerie ließ die Geschehnisse von zuvor wie einen albernen Alptraum erscheinen.
"Salvatore!", schluchzte Nia und stürzte auf ihren Schwarm zu. Warum hatte sie nicht auf Cedric und Isaac gehört? Beide hatten sie einvernehmlich gewarnt und dennoch... Dennoch...! Der Schüler stand auf und ließ Nia gewehren. Stürmisch umarmte sie ihn und zitterte wie Espenlaub. Ihre oberflächliche Schnappatmung und die unter Tränen gemurmelten und gestotterten Entschuldigungen schienen gar nicht enden zu wollen. Sie war so froh, so erleichtert und gleichzeitig fassungslos, dass Salvatore wohlauf war. War er nicht in Brand geraten? Es gab sogar eine Explosion! Er musste furchtbare Qualen durchlitten haben und dennoch stand er einfach so da und lächelte sie freundlich an... Nach alldem, was sie verbockt hatte!
Stumm und wie ein fünftes Rad am Wagen stand Cedric Urs in der Tür. Als er sah, wie sich Nia an Salvatore klammerte, presste er die Lippen fest aufeinander. Heiße Eifersucht schoss durch seine Adern. Es war wohl besser, wenn er sie nicht länger störte und einfach lautlos in seinem Zimmer verschwand. Vorsorglich betete er schon, dass ihm der Anblick der Zwei nicht in seinen Träumen verfolgen möge.
Mit geballter Faust wollte er gerade die Türklinke runterdrücken. Wieso machte ihm das so viel aus? Es war doch besser, wenn Nia ihn hasste! Das machte alles einfacher... Und dennoch...
"Warte, Cedric!", hörte er Nias Stimme wie in Trance. Überrascht drehte er seinen Kopf zur Seite. Gegen seinen Willen keimte das nutzlose Gefühl von Hoffnung auf. Er konnte sich nicht dagegen wehren, dass sich sein Herzschlag beschleunigte, als sie mit verweintem Gesicht auf sie zugestürzt kam. Allerdings versetzte es ihm einen leichten Stich, als er sah, dass sie Salvatore an die Hand genommen hatte und hinter sich herzog.
"Cedric... Es tut mir so unglaublich, unendlich leid, dass ich nicht auf deine Warnung gehört habe!", wimmerte Nia und eine einsame Träne kullerte über ihr verquollenes Gesicht. Cedric kostete es sämtliche Überwindung, ihr nicht zärtlich über die Wangen zu streichen und die Träne vom Fallen abzuhalten. Er hatte sich geschworen, sie nicht mehr anzufassen. Kein Wort kam über seine Lippen und er regte sich auch keinen Zentimeter.
Stattdessen bugsierte Nia Salvatore neben Cedric und verbeugte sich so tief wie sie konnte. "Salvatore, ich habe dich heute in Lebensgefahr gebracht, weil ich so unendlich egoistisch war. Keine Entschuldigung der Welt kann wiedergutmachen, was ich dir damit angetan habe... Dennoch möchte ich sagen, dass... dass es mir aufrichtig und von ganzem Herzen leid tut."
Einige Tränen fielen auf den Boden, bevor sie sich wieder aufrichtete. Ihre meerblauen Augen ließen bis zum Grund ihrer Seele blicken.
"Ich bin so schwach und unerfahren. Aber was noch viel viel schlimmer ist... Ich habe euch gesagt, dass wir einander vertrauen sollen... Und dann halte ich mich nicht an meine eigenen Ratschläge. Bitte verzeiht mir noch ein letztes Mal. Ich möchte stark werden... Stark genug, um den Titel eines "Rulers" wirklich zu verdienen."
Die Jungs waren überfordert. Sogar Salvatores eingemeißeltes Lächeln wich einem verwirrten, nervösen Ausdruck.
Dann umarmte Nia ihre beiden Huans. Cedrics Herzschlag setzte aus.
"Ich bin so froh euch zu haben... Ohne euch wäre ich ganz allein und einsam und verlassen und wüsste nicht, was ich tun soll... Ich möchte Katja so sehr wiedersehen... Ich..." Ihre Stimme erstickte unter den Tränen.
"Ich vermisse meine beste Freundin so sehr..."
~*~
Es hatte keine fünf Minuten gedauert, bis Nia schließlich eingeschlafen war. Salvatore trug sie wie eine Prinzessin in ihr Zimmer und legte sie in ihr Bett. Mit einem lauten Seufzer schloss er die Tür. Cedric erwartete ihn bereits mit verschränkten Armen. Noch immer spürten sie die Wärme von Nias Umarmung. Eine offene, ehrliche Wärme mit wahrer Sehnsucht nach dem Menschen, der ihr am Meisten bedeutete: Katja Müller.
Nicht einmal Salvatore kam gegen so eine jahrelange, intensive Freundschaft an.
"Du scheinst dich ja sehr schnell wieder erholt zu haben. Ich dachte schon, du wärst als Brathähnchen auf dem morgigen Menü gelandet...", provozierte Cedric mit finsterem Blick.
Salvatore lächelte zynisch und zuckte gekünstelt mit den Schultern. "Manchmal hat man einfach das Glück und hat seinen Stoff direkt zur Hand... Das erleichtert die ganze Sache enorm, egal wie lädiert oder durchgebraten man ist."
"Wie ich sehe hast du auch einen Ohrring verpasst bekommen.", erwähnte der Eisbärenhuan nebensächlich und deutete auf sein linkes Ohr. In der Tat hing dort ein Schlüssel in derselben Form und Größe wie der von Nia.
"Nennen wir es einfach Partnerlook.", grinste Salvatore und wischte Cedrics Hand weg. Eher würde er sich die Zunge abbeißen als dem Blonden von seiner Strafe zu erzählen. Erst wenn Nia sich danach erkundigte. Für einen langen Moment sagten beide gar nichts sondern starrten Nias Tür an. Ihre langen, erschöpften Atemzüge waren sogar auf dem Gang zu hören. Ansonsten war alles still. Unbewusst fuhr der Eisbärenhuan die Stellen nach, an welchen Nia ihn umarmt hatte. Noch immer konnte er es nicht so ganz fassen. Nia hatte wegen ihm geweint... Wegen ihm!
Es schien wie eine Ewigkeit, bis Cedric schließlich das Schweigen brach.
"Hör mal... Ich glaube nicht, dass..."
"... Nia aufgibt, Katja sehen zu wollen.", schloss Salvatore den Satz leise ab. Sein Mitbewohner nickte ruhig und entschlossen. Nias Schwarm ging zum Fenster und verschränkte die Arme.
"Nunja...", setzte er an und sein Grinsen wurde immer breiter, "Es ist ja nicht so, als würden wir ohne Plan dastehen... Nicht wahr, Meister aller Schlüssel?"
Cedric knirschte mit den Zähnen.
"Ja, aber das geht nicht ohne deine Hilfe."