Kapitel 8: Moving on to a whole new World
Ihre Nackenhaare sträubten sich, als sie den dunklen, kalten Gang entlanggingen. Gruselig und einsam hallten die Schritte von Miguel und Nia von den steiernen, nassen Wänden wider. Vereinzelt war zu hören, wie ein Tropfen auf den feuchten Boden fiel. Nia knetete ihre Hände und schaute sich hektisch um. Nur kalte Steinwände und verschlingende Dunkelheit. Inzwischen hatte sie jede Orientierung verloren. Nein, das war falsch - bereits als sie durch den Wald gelaufen war um vor dem fremden, unheimlichen Mann zu fliehen, wusste sie nicht mehr, wo sie sich befand. Waren sie jetzt nicht schon mindestens fünf Minuten unterwegs und es war noch immer kein Ende in Sicht? Nia fröstelte, als sie ihre Schultern umklammerte. Seit dem Eingang und der Begrüßung hatte Miguel kein Wort mehr mit ihr geredet. Nur schemenhaft konnte sie die Umrisse des hünenhaften Mitschülers im Dunkeln erkennen. Langsam bekam Nia das Gefühl, dass die Wände auf sie zukamen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Warum um alles in der Welt war sie einfach mitgegangen? Normalerweise würde man niemanden einfach so folgen! Und schon gar nicht in so einen versteckten Gang in einer steinernen Wand. Das monotone Geräusch der Schritte dröhnte in ihren Ohren. Vorsichtig und langsam öffnete sie den Mund, doch die Dunkelheit schien jedes Wort zu verschlucken. Manchmal hasste sie sich für ihre schüchterne Art. Sie biss sich auf die Unterlippe. Doch gerade, als sie einen erneuten Redeversuch starten wollte, sah sie Licht am Ende des Tunnels. Geblendet schützte sie ihre Augen mit der Hand und blinzelte angestrengt. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich an die Helligkeit des Raumes gewöhnt hatte. Ihr stockte der Atem.
Sie befand sich in einem ellipsenförmigen Raum, der wie eine Empfangshalle wirkte. In der Mitte hing ein gigantischer Kristalllüster herab. Das von den Kristallen gebrochene Licht erzeugte tanzende Lichtpunkte. Die weiße Decke war mit kunstvollem Stuck in Blumenornamenten umrahmt, wobei in regelmäßigen Abständen korinthische, marmorne Säulen empor gebaut worden waren. Es gab insgesamt vier Türen. Eine zu Nias rechten, eine zu ihrer linken und die letzte direkt geradeaus, an einem schmäler werdenden Ende des Raumes. Und natürlich die Tür direkt hinter ihr, durch die sie soeben getreten war. Wohlige Wärme strömte ihr entgegen und alle Sorgen waren mit einem Mal vergessen. Das ganze strahlte Geborgenheit und Schutz aus. Und dennoch...
Ihre Finger kribbelten.
Endlich drehte sich Miguel um. "Hier entlang.", sagte er und ein kleines, fast trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. Ganz weit im Hinterkopf schrillte eine leise Alarmglocke in Nias Kopf. Warum fühlte sie sich seit geraumer Zeit wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wurde? Zögernd und kalten, steifen Gliedern setzte sie sich erneut in Bewegung. Es war sowieso schon zu spät, um umzukehren. Doch diese eine Frage konnte sie einfach nicht verdrängen. Sie brannte ihr regelrecht auf der Zunge. "W-Was ist hier los...?", fragte sie schüchtern und lispelte dabei vor lauter Aufregung. Sie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen, während sie diese Worte aussprach. Miguel rührte sich nicht, sondern ging unbeirrt weiter. Hatte er sie nicht gehört? Sie hatte eine sehr dünne und leise Stimme, wenn sie nervös war, also wäre es nicht verwunderlich!
Der helle, weiße Gang war tapeziert mit lauter Gemälden berühmter Künstler. Angefangen von Spitzweg über Picasso bis hin zu El Degas waren alle Kunstwerke in prachtvolle, goldene Rahmen gefasst. Immer wieder gingen sie an alten und reich verzierten Holztüren vorbei. "Mi-Miguel...", setzte Nia erneut an, der die ganze Situation mehr als unheimlich war. Wo war sie? Wohin führte Miguel sie? Warum hatte er so traurig ausgesehen, als wäre das der "Point of no Return" gewesen? Etwas in ihr sträubte sich, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen. Wäre der Mann im Wald vielleicht nicht doch die bessere Wahl gewesen? Vielleicht hatte er recht und es handelte sich tatsächlich um eine...
"Wir sind da.", ertönte die Stimme ihres großen Mitschülers. Nia zuckte vor Schreck zusammen. Ihre Augen waren tellergroß. Noch während er diesen Satz aussprach, öffnete er eine der Türen. Sie knarrte und knirschte. Aus dem Inneren schlug Nia ein Stimmengewirr entgegen. Doch der Geräuschepegel verstummte sofort, als man die beiden erblickte.
Nia wollte weglaufen. Alle Augen starrten auf sie.
Doch Miguel war schneller und fasste sie an den Schultern.
Mit hochrotem Kopf wurde Nia von Miguel in das Zimmer bugsiert, das an einen Hörsaal erinnerte. Blau gepolsterte, hölzerne Sitze waren im kleinen Halbkreis um ein Rednerpult gestaffelt angeordnet. An den Tischen saßen Jugendliche, die ebenso verwirrt und aufgebracht erschienen wie sich Nia fühlte. Nia zuckte zusammen, als sie ein paar vertraute Gesichter darunter erkannte. Das waren ihre Mitschüler! Und mitten unter ihnen, mit einer eisernen Maske der Ungerührtheit und des Desinteresses...
"Cedric Urs?", hauchte Nia und schlug sich die Hand vor dem Mund. Was war hier los? Warum war ausgerechnet dieser Unsympath hier? Waren sie alle einzeln so hergebracht worden wie Nia? Warum der ganze Aufstand für so viele Leute? Es waren mindestens 20 Schüler anwesend! Mit sanfter Gewalt führte Miguel sie auf den Sitz neben Cedric, der ihr nur einen kurzen, kalten Blick zuwarf.
Ein plötzliches, scharfes und entschlossenes Klatschen zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. Vorne an der Tafel gelehnt stand... Frau Wood! Die Lehrerin, die sich erst kürzlich Nia angenommen hatte, als... als... Nias Ohren glühten vor Scham und Wut. Als Cedric Urs sie gegen ihren Willen geküsst hatte! Doch es war keine Zeit für soclhe Gedanken. Inzwischen war jedes Geräusch im Saal verstummt. Man hätte sogar eine Stecknadel fallen hören können. "Wie ich sehe, sind nun alle anwesend.", begann die Pädagogin mit ihrer kräftigen, melodisch-tiefen Stimme. Die Schüler hingen direkt an ihren Lippen. Nias Herz schlug schneller. Langsam und bedacht ging Frau Wood einmal um das Pult herum und stellte sich in die Mitte. "Ein paar vereinzelte kennen mich vielleicht schon", ihr durchdringender, scharfer Blick ruhte auf Cedric und Miguel, "aber mein Name lautet Eunice Wood."
"Mir ist egal, wie Sie heißen! Was ist hier los?", platzte ein ungeduldiges, junges Mädchen hervor. Nia kannte diese Stimme! Behutsam drehte sie sich um und sah Tonia direkt ins Gesicht. Dem schwarzhaarigen Mädchen gefror das Blut in den Adern. Mit einem Ruck hatte sie sich wieder umgedreht. Was machte die Chefin der "Gerüchteküche" Tonia Dierl hier? Frau Wood hatte ihre Brille abgenommen und putzte sie mit dem Zipfel ihrer Bluse. Unbeeindruckt und mit Seelenruhe setzte sie sie wieder auf. Unberührt und als hätte sie nichts gehört, fuhr sie fort.
"Wir haben euch hierher geholt, weil ihr etwas... Besonderes seid.", meinte sie und blickte in die Runde. Ein aufgeregtes Gemurmel entstand. Etwas Besonderes? Keiner der hier Anwesenden wäre so anmaßend und würde sich als "etwas Besonderes" bezeichnen. Vor allem nicht Nia. Sie war unterirdisch in der Schule - das war das einzige, was sie an sich selbst "besonders" empfand. Mit einer einzigen Handbewegung brachte Frau Wood erneut alle zum Schweigen.
"Dieses Gebäude hier ist eine Schule. Eine weiterführende Schule um genau zu sein."
"Und was mach ich dann hier?! Ich wollte meine Ausbildung im Herbst anfangen!", brüllte ein Junge aus den hinteren Reihen. Frau Woods Augenlid zuckte. "Unterbrechungen führen nicht unbedingt dazu, dass meine Lust gesteigert wird euch zu erzählen, was hier los ist." Ein zynisches Lächeln umspielte dabei den Mund der Lehrerin. "Und wenn ihr alles besser wisst, dann muss ich ja nichts sagen."
Alles war erneut verstummt. Sie seufzte. Schüler waren so anstrengend! Gelegentlich verfluchte sie ihren Job.
"Diese weiterführende Schule heißt Erselik und ist für Huans und Ruler vorgesehen.", ihre Stimme dröhnte von den Wänden wider, "Für die normalen Schulen haben die Sommerferien angefangen, aber für sie beginnt kommende Woche gleich ihr neues Schuljahr. Und bevor wieder Proteste aufbranden und ich einen Sturm der Entrüstung entfache... Die Abschlussprüfungen sind bereits vollständig korrigiert." Diese Sätze hatte sie so schnell gesprochen, dass niemand etwas einwenden konnte.
Nias Magen drehte sich bei diesen Worten um. Die Abschlussprüfungen hatte sie vor lauter Aufregung total außer Acht gelassen und wollte nach Möglichkeit in diesen Lebzeiten auch nicht mehr daran erinnert werden. Allein beim Gedanken wurde sie ganz bleich und der kalte Schweiß trat ihr auf die Stirn. Cedric musterte sie heimlich aus den Augenwinkeln.
"Ich kann euch beruhigen. Jeder der hier Anwesenden hat die Prüfung mehr oder weniger erfolgreich bestanden! Die Zeugnisse werde ich am Ende der Stunde austeilen"
Die schwarzhaarige Schülerin traute ihren Ohren nicht. Ein riesiger Stein - nein, ein riesiger Mount Everest fiel ihr vom Herzen und sie zitterte unwillkürlich. Sie hatte Mathe bestanden? Sie hatte die Abschlussprüfung bestanden? Freudentränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und sie wischte sie beschämt weg. Mit einem kleinen, neckischen Lächeln bot Miguel ihr ein Taschentuch an. Wenn Katja das erfahren würde! Ihre beste Freundin wäre so unglaublich stolz auf sie! Auch die anderen Anwesenden applaudierten und lagen sich teilweise lachend in den Armen. Gott sei Dank! Sie hatten es überstanden! Aber dennoch...
Neue Schule? Kommendes Schuljahr fing nächste Woche an?
"Das Wort "Huans" ist ein Kunstwort. Es beinhaltet die Abkürzungen von HUman und ANimal - also Mensch und Tier. Es ist die Bezeichnung für Kreuzungen von Menschen mit Tieren. Quasi Zwitterwesen. Erselik bedeutet nichts anderes als Zwitter, ein Mischwesen, ein Hybride."
Die Klasse reagierte verwirrt. Was sollte ihnen das sagen? Warum nannte man eine Schule so und erschuf sogar ein eigenes Wort für etwas Fiktives?
"Um euch eine längere Erklärung zu ersparen und euch zu demonstrieren, was ich meine...", setzte Frau Wood an und alle starrten sie gebannt und konsterniert an.
Mit einem Ruck hatte Frau Wood ihren Kopf um 180° gedreht.
Spitze Schreie und kreischen dröhnte durch den Saal. Viele Mädchen waren aufgesprungen und versteckten sich unter den Tischen. Nia hatte sich vor lauter Panik die Hände vors Gesicht geschlagen. Was... was ging hier vor? Was hatte sie soeben gesehen? "Oh mein Gott, jemand muss einen Notarzt rufen!", schrie einer der Jungs, der noch einigermaßen geistesgegenwärtig war. Aber keiner hörte ihm zu, während Nia mit wild klopfendem Herzen durch einen Spalt ihrer Finger lugte.
Und erstarrte.
Frau Wood stand wie angewurzelt und leise lachend da. Ihr Kopf hatte wieder eine normale... menschliche... Position eingenommen. Ihr kehliges Lachen ging durch Mark und Bein und ließ auch die anderen erstarren und panische Blicke wechseln. War das eben... Einbildung gewesen? Nein. Es konnte doch nicht ein Raum mit über 20 Personen zur selben Zeit diesselbe Illusion gehabt haben... oder?
"Ich bin Frau Wood, ein Eulen-Huan. Ich bin also eine Kreuzung aus Mensch und Eule. Noch irgendwelche Klarheiten, die ich beseitigen kann? Ist doch praktisch, nicht wahr? Ich habe superscharfe Augen und selbst wenn ich vorne an der Tafel etwas anschreibe, kann ich euch beobachten. Hat eigentlich nur Vorteile!" Cedrics und Miguels Blick verfinsterte sich fast unmerklich. Ein schmallippiges, zynisches Lächeln huschte über das Gesicht des Schülersprechers.
Es dauerte einige quälende Sekunden, bis diese Sätze in das Bewusstsein der schockierten Schüler und Schülerinnen drang. Nia fühlte sich wie betäubt und schwitzte und fror zugleich. Nicht einer der Anwesenden zweifelte an ihren Worten. Aber... was zur Hölle taten sie dann alle hier? Nia konnte Stein und Bein schwören, dass sie keine tierischen Fähigkeiten hatte. Ganz sicher war sie kein Tier!
Die Lehrerin machte eine ausholende Geste. "Wie ihr sicher am besten wisst, seid ihr keine Huans. Ihr seid... Besonders, aber gewiss keine Huans. Zumindest alle bis auf einer." Täuschte sich Nia oder hatte Frau Wood einen kurzen Blick in ihre Richtung geworfen? Neben ihr saßen nur Cedric und Miguel, die beide überhaupt nicht von der Situation überrascht schienen. Miguel lächelte sein spitzbübisches Grinsen, während Cedric wie versteinert dasaß. Als er den Blick von seiner Mitschülerin spürte, drehte er seinen Kopf langsam halb zu ihr. "Alles OK?", fragte er leise, mit fast unbewegten Lippen. Doch bevor Nia verwirrt antworten konnte, fuhr Frau Wood fort.
"Huans sind Tiermenschen, die kontrolliert werden müssen. Die zweite "Sorte" von Menschen sind sog. "Waker", die später zu "Rulern" werden. Solch eine Person hat zwei Huans unter seiner Kontrolle, wobei ein Waker nur einen hat. Ein Waker "erweckt" einen seiner Huans. Hat er das auch mit dem zweiten getan, wird er automatisch zum Ruler, jemanden, der über die Kräfte seiner beiden Huans verfügen kann, wann und wo er will. Um einen Huan zu erwecken, muss man den sogenannten "Wakevorgang" durchführen." Sie lachte. "Und diese Ruler... seid ihr. Alle Anwesenden mit mir und einer weiteren Ausnahme sind Ruler. Etwas ganz besonderes."
Eine lange, gedehnte Pause trat ein.
Die Anwesenden waren erschüttert. Es waren einfach zu viele Informationen auf einmal, die auf sie einprasselten. Huans? Ruler? Waker? Wer wie wo was wann? Nia fühlte sich schon ganz atemlos und schwindelig zugleich.
"Auch hier bin ich der Meinung, dass es mehr bringt, wenn man euch das ganze zeigt. Nia Toshiki und Cedric Urs... darf ich bitten?"
Ohne zu zögern erhob sich der blonde Hüne neben dem schmächtigen Mädchen, aber sie selbst war wie betäubt. Was sollte sie machen? Sie hatte doch keine Ahnung, was hier eigentlich vor sich ging! Mit zitternden Knien und hochrotem Kopf stand sie letztlich vor der geifernden Meute. Nervös knetete Nia ihre Hände und blickte beschämt zu Boden. Cedric stand so nah bei ihr, dass sie sogar die Wärme spürte, die er abstrahlte. Das machte die Situation irgendwie noch viel unangenehmer für sie. Frau Wood nickte wissend. Mit einer geschmeidigen Bewegung drückte sie der verwunderten Nia Stift und Zettel in die Hand. Mit großen Augen starrte sie die Lehrerin tonlos an.
"Die Quintessenz des Wakevorgangs besteht darin, dass man das Tier im Huan erkennt.", erklärte sie nonchalant und ging im Raum herum. "Ein Waker erweckt seinen Huan dadurch, dass er beim bloßen hinschauen äußere Formen eines Tieres erkennt und diese dann dem Huan mitteilt. Liegt er richtig, ist einer der Huans erweckt. Dieses "mitteilen" geschieht in Form einer Zeichnung." Fast hätte Nia vor lauter Schreck das Blatt zerrissen. Sie soll Cedrics Waker-Ruler-Whatever sein?! Nur über ihre Leiche! Mit zitternden Händen warf sie einen Blick zu Cedric. Auch er wirkte etwas angespannt. Seine Kiefermuskeln hatten sich verkrampft und er warf ihr einen Blick zu, den sie nicht interpretieren konnte. Unentwegt nestelte er an seiner Hose. Er drehte seinen Körper zu ihr und ging einen Schritt zurück.
"Wenn der Waker mit seiner Vermutung richtig liegt, ist die Zeichnung nur für den Waker und den Huan sichtbar und für alle anderen Anwesenden nicht.", ergänzte Frau Wood noch, die ihr Kinn vorstreckte und die beiden belustigt beobachtete. "Fangt an!"
Nias Herz pochte, als ihr bewusst wurde, was sie im Begriff war zu tun. Sie wollte wirklich jeden als Huan haben - aber nicht diesen Speckkopf! Sogar die Gerüchteküchechefin war ihr lieber. Von ihr aus auch das ganze Gerüchteküchetrio! Aber bitte, bitte nicht Cedric Urs, dieser unterkühlte, asoziale Unsympath von einem Sitznachbarn! Ihre Finger kribbelten. Hilflos schaute sie sich um. Aber es gab anscheinend kein Entkommen. Die 20 Augenpaare waren auf sie und Cedric gerichtet. Am liebsten hätte Nia geweint. Was hatte sie in ihrem letzten Leben falsch gemacht? Sie musste wirklich schlechtes Karma haben!
Zumal sie gar nicht wusste, was Cedric für ein Tier war. Und es interessierte sie auch nicht im geringsten! Voller Wut und unterdrückter Tränen schaute sie ihm ins Gesicht. Er schaute sie voller Reue und fordernd zugleich an. So voller Reue, als wäre er an allem Schuld.
Voller Reue, weil er nicht wusste, ob er es verdiente, ihr Huan zu sein.
Fordernd, weil er so lange auf diesen einen Moment gewartet hatte und Nia aussah, als würde sie gleich weinen. War es wirklich so schlimm für sie? Seine Hand ballte sich zur Faust.
"Du hast mich fast schon einmal erweckt, erinnerst du dich?" Er räusperte sich und durchbohrte sie direkt mit seinen pechschwarzen Augen.
Nias Herzschlag setzte aus. Wann sollte das gewesen sein? Wann...
Plötzlich durchzuckte sie ein brennender Schmerz. Sie hielt sich den pochenden Kopf. Was um alles in der Welt? Ihr Atem ging stoßweise und Cedric stützte sie an den Schultern.
Plötzlich erinnerte sie sich wieder, gerade so sls wäre die Erinnerung soeben wieder... zurückgekehrt aus einer Dunkelheit, die sie besser niemals erkunden sollte... Und deren Wahrheit am besten für immer verschleiert bliebe.
War Cedric etwa jener Junge, den sie im Kindergarten so mochte? Dieser Bengel, der ohne Grund einfach ihre Zeichnung zerrissen hatte?
~ * ~
"Nia, du magst doch Cedric, oder?", frage Frau Diener mit einem sanften Lächeln, das ihre roten Lippen umspielte. Sie hatte sich neben das kleine Mädchen gekniet, das am Zeichentisch saß und gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Im Hintergrund konnte man zahlreiche Kinder toben hören. Es war ein wildes Durcheinander von Geräuschen einer Cowboy-Jagd, dem Bauen riesiger Legotürme und dem Schaufeln im Sandkasten. Irgendwo konnte man auch ein paar Mädchen hören, die gerade Vater-Mutter-Kind spielten und sich dabei ganz vergaßen. Der Lärmpegel war enorm, aber es war einer der wenigen Augenblicke des Tages, wo mal kein Kind schrie, weil man ihm das Spielzeug weggenommen hatte.
Das kleine Mädchen namens Nia nickte schüchtern. Sie wirkte in ihrem rosa Kleidchen wie eine Puppe - ihre schulterlangen, glatten Haare und die großen, fragenden und runden Kulleraugen vervollständigten das Bild.
Die Kindergärtnerin seufzte und schaute aus den bodentiefen Fenstern in den Garten. Eine Art Kontrollblick, ob auch wirklich alles in Ordnung war.
"Dafür, dass du ihn magst, ärgerst du ihn aber ganz schön oft!", holte die Frau aus.
"Ceddy ärgert mich noch viel mehr!", meinte Nia wütend und stampfte mit dem Fuß auf. "Immer lacht er mich aus und macht sich über mich lustig! Er sagt auch mit Absicht meinen Namen falsch! Immer sagt er Na-i statt Nia! Das finde ich voll doof!" Sie verschränkte die Arme und blähte die Backen. "Er ist gemein!"
Frau Diener lächelte belustigt. "Aber Nia... das ist doch nur, weil er dich mag! Schau mal..." Sie deutete vorsichtig in den Garten hinaus. "Obwohl er mit den anderen Jungs spielt, hat er dich immer im Auge und passt auf dich auf."
Mit säuerlichem Gesichtsausdruck schaute das schwarzhaarige kleine Mädchen in die angegebene Richtung und... tatsächlich. Cedric stand auf dem Dach der "Räuberhütte" und schaute zu ihr herüber. Für einige Sekunden bemerkte er noch nicht einmal, dass seine Spielkameraden nach ihm riefen. Erst, als er Nias Blick registrierte, drehte er sich ruckartig um und tat so, als wäre er damit beschäftigt, das Dach eingehend zu untersuchen.
"Siehst du? Er macht sich nur Sorgen um dich." Nun musste Nia zustimmend nicken. "Meinst du nicht, dass du ihm dafür ein kleines Geschenk machen könntest? Das würde ihn bestimmt glücklich machen!" Bei diesen Worten fingen die Augen des kleinen Mädchens an zu leuchten. Ceddys Lachen ließ ihr Herz hüpfen. Sie nickte so heftig, dass ihre Haare ganz durcheinander gerieten.
"Was hälst du davon, wenn du ihn zeichnest, wie du ihn siehst?" Ein plötzlicher Geistesblitz durchzuckte die Erwachsene und sie klatschte begeistert in die Hände. "Nein, noch besser! Was meinst du, ist er für ein Tier? Zeichne ihn als Tier!"
Voller Feuereifer setzte sich Nia gerade an den Tisch und zog ein weißes Blatt Papier zu sich heran. Zufrieden stand Frau Diener auf und überlaß Nia sich selbst. Aus den unendlich vielen, überall verteilten Buntstiften wählte das kleine Mädchen einen aus und kaute drauf herum.
Was war Cedric für ein Tier?
Ein Hase? Nein, er war zwar niedlich, aber bestimmt nicht ängstlich!
Eine Schlange? Er war zwar agil und schnell, aber Cedric war nicht falsch. Also auch nicht.
Eine Biene? Zwar hatte er manchmal fiese Sprüche, die weh taten, aber das war es auch nicht...
Eine Eule? Obwohl Ceddy klug war, war er gewiss nicht weise und viel zu sehr ein Raufbold!
Ein Fuchs? Das kam der ganzen Sache schon näher...
Cedric war wild und ungestüm. Er liebte es zu raufen und war zudem der Schwarm aller Mädchen aus dem Kindergarten. Nia fand ihn auch irgendwie... gut. Ob er es wusste oder nicht... Nia hatte keine Ahnung, da er alle Mädchen gleich behandelte. Alle außer Nia. Sie piesackte und ärgerte er immer, auch wenn Frau Diener meinte, dass er immer auf die aufpasste. Wieder blähte sie ihre Backen bei dem Gedanken, dass er nicht einmal ihren Namen richtig sagen konnte. Na-i war doch kein Name! Nia war toll, warum konnte sich der Speckkopf das einfach nicht merken? Oh, und Cedric war unglaublich stark! Stärker als alle anderen! Das hatte sie erleben dürfen, als einer der anderen, größeren Jungs Nia die Haare abschneiden wollte. Todesmutig hatte er für Nia gekämpft und gewonnen.
Plötzlich hatte sie eine Eingebung und malte drauflos.
Obwohl sie sich größte Mühe gab, war das Mädchen ein wenig frustriert. Malen war noch nie ihre Stärke gewesen! Mit einem Mal stand ihr Schwarm hinter ihr.
"Na, was machst du denn da, Na-i?", fragte er keck und linste über ihre Schulter. Seine Zahnlücke wurde dabei gut sichtbar.
"Ich heiße nicht Na-i! Ich heiße Nia!", schmollte sie und plusterte ihre Backen auf. Dabei bemerkte sie gar nicht, wie starr Cedrics Blick mit einem Mal geworden war. Fast... schreckverzerrt.
"Was soll das werden?", fragte er ruhig. Täuschte sich Nia, oder klang da... Angst mit?
Beschämt nestelte Nia an ihrem Kleidchen herum und lächelte ihn frech an. "Das bist du, so wie ich dich als Tier sehe. Süß, oder?" Sie kicherte fröhlich.
Mit einer schnellen Bewegung hatte Cedric das Kunstwerk vom Tisch gerissen und in tausend kleine Teile zerfetzt. Nias Augen weiteten sich erschrocken.
"Mach das nie, nie wieder!", herrschte er sie an. Seine Stimme zitterte vor Wut.
Nia war so entsetzt, dass sie erst ein paar Sekunden danach laut anfing zu weinen. Warum hatte er das gemacht? Sie hatte sich solche Mühe gegeben! Es sollte ihn glücklich machen! Und dabei war das Bild noch nicht einmal fertig gewesen!
Er schluckte, als er Nia so sah. "M-mach das nie wieder, kapiert?", wiederholte er fauchend und ballte seine kleinen Hände zu Fäuste.
"D-du Speckkopf!", schrie Nia mit erstickter Stimme. Das war das erste Mal, dass sie ihn tatsächlich so genannt hatte.
Mit hochrotem Kopf fasste sich Cedric an die Backen. War er wirklich so pausbäckig, dass man ihn Speckkopf nennen musste?
Seit diesem Tag mochte sie ihn nicht mehr und wechselte auch kein Wort mehr mit ihm. Anfänglich hatte er sie weiterhin geneckt und versucht, sich mit ihr zu versöhnen, aber sie blockte alles ab. Letzten Endes musste er enttäuscht aufgeben und danach trennten sich ihre Wege, weil sie in die Schule kamen.
~ * ~
Zu Beginn der neunten Klasse hatte Nia das Gefühl, ein Déja-vu gehabt zu haben, als sie Cedric das "erste Mal" sah. Seine weizenblonden, fast weißen Haare und seine tiefschwarzen Augen hatten einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. Endlich ergab auch ihre seltsam aufgestaute Wut und der aus dem Nichts zu stammende Begriff "Speckkopf" einen Sinn!
Als sie ihn wiedertraf war Cedric ihr von Anfang an unsympathisch gewesen. Er grenzte sich ständig aus, war unfreundlich und asozial und mischte sich dennoch ungebeten in anderer Leute Angelegenheiten. Schon bizarr, wie sehr er sich im Gegensatz zu früher verändert hatte. Wo war der lustige, freche, aufgeschlossene Mädchenschwarm Cedric geblieben? War etwa irgendetwas vorgefallen, dass diese krasse Wandlung herbeigeführt hatte...?
Obwohl schon so viele Jahre vergangen waren, machte Nia die Erinnerung an die zerrissene Zeichnung immer noch leicht säuerlich. Natürlich ergab es jetzt Sinn, denn anscheinend hätte sie ihn damals fast "erweckt". Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, es beruhigte sie irgendwie, endlich zu wissen, was dies alles zu bedeuten hatte.
Ob er noch wusste, dass Nia damals in ihn verliebt gewesen war? Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Seitdem waren so viele Jahre vergangen, das hatte er mit absoluter Sicherheit vergessen!
Nachdem sein seltsames Verhalten das junge Mädchen vor über zehn Jahren wütend gemacht hatte, tat es ihr jetzt leid, dass sie so grob und abweisend zu ihm gewesen war. Jetzt wollte sie sich revanchieren und zückte ohne zu zögern den Stift. Auf dem Pult malte sie für einige stumme und atemlose Sekunden wild drauflos.
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge musste die Schülerin erkennen, dass ihre zeichnerischen Fähigkeiten seit dem Kindergarten kaum besser geworden waren. Aber die Hauptsache war ja, dass Cedric erkannte, was sie malte - und das hatte er ja schon damals getan.
Alle Anwesenden starrten ihr gebannt auf die Finger. Ein paar schauten skeptisch. Cedric hatte seine Hände in den Taschen zu Fäusten geballt, um seine Anspannung zu verstecken. Er traute sich nicht, auf die Zeichnung zu sehen.
Innerhalb einer Minute war das Werk vollbracht und mit einer schwungvollen Bewegung und leicht geröteten Backen hielt sie ihrem Klassenkameraden das Kunstwerk direkt vor die Nase.
Da geschah etwas, was sie bei dem Speckkopf schon lange nicht mehr gesehen hatte: Er lächelte!
Es war ein seltsames, sanftes und beruhigendes Lächeln, das bei Nia gegen ihren Willen Gänsehaut auslöste.
"Du bist seit dem Kindergarten nicht besser geworden, falls ich das mal so sagen darf, Na-i!", neckte er sie. "Aber es ist vollkommen richtig, so wie damals auch."
Nia schaute verdutzt erst Cedric und dann ihre Schmiererei an. Sie prustete los.
Auf dem Blatt war ein Teddybär.
Cedric war ein Eisbär!
Sie befand sich in einem ellipsenförmigen Raum, der wie eine Empfangshalle wirkte. In der Mitte hing ein gigantischer Kristalllüster herab. Das von den Kristallen gebrochene Licht erzeugte tanzende Lichtpunkte. Die weiße Decke war mit kunstvollem Stuck in Blumenornamenten umrahmt, wobei in regelmäßigen Abständen korinthische, marmorne Säulen empor gebaut worden waren. Es gab insgesamt vier Türen. Eine zu Nias rechten, eine zu ihrer linken und die letzte direkt geradeaus, an einem schmäler werdenden Ende des Raumes. Und natürlich die Tür direkt hinter ihr, durch die sie soeben getreten war. Wohlige Wärme strömte ihr entgegen und alle Sorgen waren mit einem Mal vergessen. Das ganze strahlte Geborgenheit und Schutz aus. Und dennoch...
Ihre Finger kribbelten.
Endlich drehte sich Miguel um. "Hier entlang.", sagte er und ein kleines, fast trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. Ganz weit im Hinterkopf schrillte eine leise Alarmglocke in Nias Kopf. Warum fühlte sie sich seit geraumer Zeit wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wurde? Zögernd und kalten, steifen Gliedern setzte sie sich erneut in Bewegung. Es war sowieso schon zu spät, um umzukehren. Doch diese eine Frage konnte sie einfach nicht verdrängen. Sie brannte ihr regelrecht auf der Zunge. "W-Was ist hier los...?", fragte sie schüchtern und lispelte dabei vor lauter Aufregung. Sie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen, während sie diese Worte aussprach. Miguel rührte sich nicht, sondern ging unbeirrt weiter. Hatte er sie nicht gehört? Sie hatte eine sehr dünne und leise Stimme, wenn sie nervös war, also wäre es nicht verwunderlich!
Der helle, weiße Gang war tapeziert mit lauter Gemälden berühmter Künstler. Angefangen von Spitzweg über Picasso bis hin zu El Degas waren alle Kunstwerke in prachtvolle, goldene Rahmen gefasst. Immer wieder gingen sie an alten und reich verzierten Holztüren vorbei. "Mi-Miguel...", setzte Nia erneut an, der die ganze Situation mehr als unheimlich war. Wo war sie? Wohin führte Miguel sie? Warum hatte er so traurig ausgesehen, als wäre das der "Point of no Return" gewesen? Etwas in ihr sträubte sich, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen. Wäre der Mann im Wald vielleicht nicht doch die bessere Wahl gewesen? Vielleicht hatte er recht und es handelte sich tatsächlich um eine...
"Wir sind da.", ertönte die Stimme ihres großen Mitschülers. Nia zuckte vor Schreck zusammen. Ihre Augen waren tellergroß. Noch während er diesen Satz aussprach, öffnete er eine der Türen. Sie knarrte und knirschte. Aus dem Inneren schlug Nia ein Stimmengewirr entgegen. Doch der Geräuschepegel verstummte sofort, als man die beiden erblickte.
Nia wollte weglaufen. Alle Augen starrten auf sie.
Doch Miguel war schneller und fasste sie an den Schultern.
Mit hochrotem Kopf wurde Nia von Miguel in das Zimmer bugsiert, das an einen Hörsaal erinnerte. Blau gepolsterte, hölzerne Sitze waren im kleinen Halbkreis um ein Rednerpult gestaffelt angeordnet. An den Tischen saßen Jugendliche, die ebenso verwirrt und aufgebracht erschienen wie sich Nia fühlte. Nia zuckte zusammen, als sie ein paar vertraute Gesichter darunter erkannte. Das waren ihre Mitschüler! Und mitten unter ihnen, mit einer eisernen Maske der Ungerührtheit und des Desinteresses...
"Cedric Urs?", hauchte Nia und schlug sich die Hand vor dem Mund. Was war hier los? Warum war ausgerechnet dieser Unsympath hier? Waren sie alle einzeln so hergebracht worden wie Nia? Warum der ganze Aufstand für so viele Leute? Es waren mindestens 20 Schüler anwesend! Mit sanfter Gewalt führte Miguel sie auf den Sitz neben Cedric, der ihr nur einen kurzen, kalten Blick zuwarf.
Ein plötzliches, scharfes und entschlossenes Klatschen zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. Vorne an der Tafel gelehnt stand... Frau Wood! Die Lehrerin, die sich erst kürzlich Nia angenommen hatte, als... als... Nias Ohren glühten vor Scham und Wut. Als Cedric Urs sie gegen ihren Willen geküsst hatte! Doch es war keine Zeit für soclhe Gedanken. Inzwischen war jedes Geräusch im Saal verstummt. Man hätte sogar eine Stecknadel fallen hören können. "Wie ich sehe, sind nun alle anwesend.", begann die Pädagogin mit ihrer kräftigen, melodisch-tiefen Stimme. Die Schüler hingen direkt an ihren Lippen. Nias Herz schlug schneller. Langsam und bedacht ging Frau Wood einmal um das Pult herum und stellte sich in die Mitte. "Ein paar vereinzelte kennen mich vielleicht schon", ihr durchdringender, scharfer Blick ruhte auf Cedric und Miguel, "aber mein Name lautet Eunice Wood."
"Mir ist egal, wie Sie heißen! Was ist hier los?", platzte ein ungeduldiges, junges Mädchen hervor. Nia kannte diese Stimme! Behutsam drehte sie sich um und sah Tonia direkt ins Gesicht. Dem schwarzhaarigen Mädchen gefror das Blut in den Adern. Mit einem Ruck hatte sie sich wieder umgedreht. Was machte die Chefin der "Gerüchteküche" Tonia Dierl hier? Frau Wood hatte ihre Brille abgenommen und putzte sie mit dem Zipfel ihrer Bluse. Unbeeindruckt und mit Seelenruhe setzte sie sie wieder auf. Unberührt und als hätte sie nichts gehört, fuhr sie fort.
"Wir haben euch hierher geholt, weil ihr etwas... Besonderes seid.", meinte sie und blickte in die Runde. Ein aufgeregtes Gemurmel entstand. Etwas Besonderes? Keiner der hier Anwesenden wäre so anmaßend und würde sich als "etwas Besonderes" bezeichnen. Vor allem nicht Nia. Sie war unterirdisch in der Schule - das war das einzige, was sie an sich selbst "besonders" empfand. Mit einer einzigen Handbewegung brachte Frau Wood erneut alle zum Schweigen.
"Dieses Gebäude hier ist eine Schule. Eine weiterführende Schule um genau zu sein."
"Und was mach ich dann hier?! Ich wollte meine Ausbildung im Herbst anfangen!", brüllte ein Junge aus den hinteren Reihen. Frau Woods Augenlid zuckte. "Unterbrechungen führen nicht unbedingt dazu, dass meine Lust gesteigert wird euch zu erzählen, was hier los ist." Ein zynisches Lächeln umspielte dabei den Mund der Lehrerin. "Und wenn ihr alles besser wisst, dann muss ich ja nichts sagen."
Alles war erneut verstummt. Sie seufzte. Schüler waren so anstrengend! Gelegentlich verfluchte sie ihren Job.
"Diese weiterführende Schule heißt Erselik und ist für Huans und Ruler vorgesehen.", ihre Stimme dröhnte von den Wänden wider, "Für die normalen Schulen haben die Sommerferien angefangen, aber für sie beginnt kommende Woche gleich ihr neues Schuljahr. Und bevor wieder Proteste aufbranden und ich einen Sturm der Entrüstung entfache... Die Abschlussprüfungen sind bereits vollständig korrigiert." Diese Sätze hatte sie so schnell gesprochen, dass niemand etwas einwenden konnte.
Nias Magen drehte sich bei diesen Worten um. Die Abschlussprüfungen hatte sie vor lauter Aufregung total außer Acht gelassen und wollte nach Möglichkeit in diesen Lebzeiten auch nicht mehr daran erinnert werden. Allein beim Gedanken wurde sie ganz bleich und der kalte Schweiß trat ihr auf die Stirn. Cedric musterte sie heimlich aus den Augenwinkeln.
"Ich kann euch beruhigen. Jeder der hier Anwesenden hat die Prüfung mehr oder weniger erfolgreich bestanden! Die Zeugnisse werde ich am Ende der Stunde austeilen"
Die schwarzhaarige Schülerin traute ihren Ohren nicht. Ein riesiger Stein - nein, ein riesiger Mount Everest fiel ihr vom Herzen und sie zitterte unwillkürlich. Sie hatte Mathe bestanden? Sie hatte die Abschlussprüfung bestanden? Freudentränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und sie wischte sie beschämt weg. Mit einem kleinen, neckischen Lächeln bot Miguel ihr ein Taschentuch an. Wenn Katja das erfahren würde! Ihre beste Freundin wäre so unglaublich stolz auf sie! Auch die anderen Anwesenden applaudierten und lagen sich teilweise lachend in den Armen. Gott sei Dank! Sie hatten es überstanden! Aber dennoch...
Neue Schule? Kommendes Schuljahr fing nächste Woche an?
"Das Wort "Huans" ist ein Kunstwort. Es beinhaltet die Abkürzungen von HUman und ANimal - also Mensch und Tier. Es ist die Bezeichnung für Kreuzungen von Menschen mit Tieren. Quasi Zwitterwesen. Erselik bedeutet nichts anderes als Zwitter, ein Mischwesen, ein Hybride."
Die Klasse reagierte verwirrt. Was sollte ihnen das sagen? Warum nannte man eine Schule so und erschuf sogar ein eigenes Wort für etwas Fiktives?
"Um euch eine längere Erklärung zu ersparen und euch zu demonstrieren, was ich meine...", setzte Frau Wood an und alle starrten sie gebannt und konsterniert an.
Mit einem Ruck hatte Frau Wood ihren Kopf um 180° gedreht.
Spitze Schreie und kreischen dröhnte durch den Saal. Viele Mädchen waren aufgesprungen und versteckten sich unter den Tischen. Nia hatte sich vor lauter Panik die Hände vors Gesicht geschlagen. Was... was ging hier vor? Was hatte sie soeben gesehen? "Oh mein Gott, jemand muss einen Notarzt rufen!", schrie einer der Jungs, der noch einigermaßen geistesgegenwärtig war. Aber keiner hörte ihm zu, während Nia mit wild klopfendem Herzen durch einen Spalt ihrer Finger lugte.
Und erstarrte.
Frau Wood stand wie angewurzelt und leise lachend da. Ihr Kopf hatte wieder eine normale... menschliche... Position eingenommen. Ihr kehliges Lachen ging durch Mark und Bein und ließ auch die anderen erstarren und panische Blicke wechseln. War das eben... Einbildung gewesen? Nein. Es konnte doch nicht ein Raum mit über 20 Personen zur selben Zeit diesselbe Illusion gehabt haben... oder?
"Ich bin Frau Wood, ein Eulen-Huan. Ich bin also eine Kreuzung aus Mensch und Eule. Noch irgendwelche Klarheiten, die ich beseitigen kann? Ist doch praktisch, nicht wahr? Ich habe superscharfe Augen und selbst wenn ich vorne an der Tafel etwas anschreibe, kann ich euch beobachten. Hat eigentlich nur Vorteile!" Cedrics und Miguels Blick verfinsterte sich fast unmerklich. Ein schmallippiges, zynisches Lächeln huschte über das Gesicht des Schülersprechers.
Es dauerte einige quälende Sekunden, bis diese Sätze in das Bewusstsein der schockierten Schüler und Schülerinnen drang. Nia fühlte sich wie betäubt und schwitzte und fror zugleich. Nicht einer der Anwesenden zweifelte an ihren Worten. Aber... was zur Hölle taten sie dann alle hier? Nia konnte Stein und Bein schwören, dass sie keine tierischen Fähigkeiten hatte. Ganz sicher war sie kein Tier!
Die Lehrerin machte eine ausholende Geste. "Wie ihr sicher am besten wisst, seid ihr keine Huans. Ihr seid... Besonders, aber gewiss keine Huans. Zumindest alle bis auf einer." Täuschte sich Nia oder hatte Frau Wood einen kurzen Blick in ihre Richtung geworfen? Neben ihr saßen nur Cedric und Miguel, die beide überhaupt nicht von der Situation überrascht schienen. Miguel lächelte sein spitzbübisches Grinsen, während Cedric wie versteinert dasaß. Als er den Blick von seiner Mitschülerin spürte, drehte er seinen Kopf langsam halb zu ihr. "Alles OK?", fragte er leise, mit fast unbewegten Lippen. Doch bevor Nia verwirrt antworten konnte, fuhr Frau Wood fort.
"Huans sind Tiermenschen, die kontrolliert werden müssen. Die zweite "Sorte" von Menschen sind sog. "Waker", die später zu "Rulern" werden. Solch eine Person hat zwei Huans unter seiner Kontrolle, wobei ein Waker nur einen hat. Ein Waker "erweckt" einen seiner Huans. Hat er das auch mit dem zweiten getan, wird er automatisch zum Ruler, jemanden, der über die Kräfte seiner beiden Huans verfügen kann, wann und wo er will. Um einen Huan zu erwecken, muss man den sogenannten "Wakevorgang" durchführen." Sie lachte. "Und diese Ruler... seid ihr. Alle Anwesenden mit mir und einer weiteren Ausnahme sind Ruler. Etwas ganz besonderes."
Eine lange, gedehnte Pause trat ein.
Die Anwesenden waren erschüttert. Es waren einfach zu viele Informationen auf einmal, die auf sie einprasselten. Huans? Ruler? Waker? Wer wie wo was wann? Nia fühlte sich schon ganz atemlos und schwindelig zugleich.
"Auch hier bin ich der Meinung, dass es mehr bringt, wenn man euch das ganze zeigt. Nia Toshiki und Cedric Urs... darf ich bitten?"
Ohne zu zögern erhob sich der blonde Hüne neben dem schmächtigen Mädchen, aber sie selbst war wie betäubt. Was sollte sie machen? Sie hatte doch keine Ahnung, was hier eigentlich vor sich ging! Mit zitternden Knien und hochrotem Kopf stand sie letztlich vor der geifernden Meute. Nervös knetete Nia ihre Hände und blickte beschämt zu Boden. Cedric stand so nah bei ihr, dass sie sogar die Wärme spürte, die er abstrahlte. Das machte die Situation irgendwie noch viel unangenehmer für sie. Frau Wood nickte wissend. Mit einer geschmeidigen Bewegung drückte sie der verwunderten Nia Stift und Zettel in die Hand. Mit großen Augen starrte sie die Lehrerin tonlos an.
"Die Quintessenz des Wakevorgangs besteht darin, dass man das Tier im Huan erkennt.", erklärte sie nonchalant und ging im Raum herum. "Ein Waker erweckt seinen Huan dadurch, dass er beim bloßen hinschauen äußere Formen eines Tieres erkennt und diese dann dem Huan mitteilt. Liegt er richtig, ist einer der Huans erweckt. Dieses "mitteilen" geschieht in Form einer Zeichnung." Fast hätte Nia vor lauter Schreck das Blatt zerrissen. Sie soll Cedrics Waker-Ruler-Whatever sein?! Nur über ihre Leiche! Mit zitternden Händen warf sie einen Blick zu Cedric. Auch er wirkte etwas angespannt. Seine Kiefermuskeln hatten sich verkrampft und er warf ihr einen Blick zu, den sie nicht interpretieren konnte. Unentwegt nestelte er an seiner Hose. Er drehte seinen Körper zu ihr und ging einen Schritt zurück.
"Wenn der Waker mit seiner Vermutung richtig liegt, ist die Zeichnung nur für den Waker und den Huan sichtbar und für alle anderen Anwesenden nicht.", ergänzte Frau Wood noch, die ihr Kinn vorstreckte und die beiden belustigt beobachtete. "Fangt an!"
Nias Herz pochte, als ihr bewusst wurde, was sie im Begriff war zu tun. Sie wollte wirklich jeden als Huan haben - aber nicht diesen Speckkopf! Sogar die Gerüchteküchechefin war ihr lieber. Von ihr aus auch das ganze Gerüchteküchetrio! Aber bitte, bitte nicht Cedric Urs, dieser unterkühlte, asoziale Unsympath von einem Sitznachbarn! Ihre Finger kribbelten. Hilflos schaute sie sich um. Aber es gab anscheinend kein Entkommen. Die 20 Augenpaare waren auf sie und Cedric gerichtet. Am liebsten hätte Nia geweint. Was hatte sie in ihrem letzten Leben falsch gemacht? Sie musste wirklich schlechtes Karma haben!
Zumal sie gar nicht wusste, was Cedric für ein Tier war. Und es interessierte sie auch nicht im geringsten! Voller Wut und unterdrückter Tränen schaute sie ihm ins Gesicht. Er schaute sie voller Reue und fordernd zugleich an. So voller Reue, als wäre er an allem Schuld.
Voller Reue, weil er nicht wusste, ob er es verdiente, ihr Huan zu sein.
Fordernd, weil er so lange auf diesen einen Moment gewartet hatte und Nia aussah, als würde sie gleich weinen. War es wirklich so schlimm für sie? Seine Hand ballte sich zur Faust.
"Du hast mich fast schon einmal erweckt, erinnerst du dich?" Er räusperte sich und durchbohrte sie direkt mit seinen pechschwarzen Augen.
Nias Herzschlag setzte aus. Wann sollte das gewesen sein? Wann...
Plötzlich durchzuckte sie ein brennender Schmerz. Sie hielt sich den pochenden Kopf. Was um alles in der Welt? Ihr Atem ging stoßweise und Cedric stützte sie an den Schultern.
Plötzlich erinnerte sie sich wieder, gerade so sls wäre die Erinnerung soeben wieder... zurückgekehrt aus einer Dunkelheit, die sie besser niemals erkunden sollte... Und deren Wahrheit am besten für immer verschleiert bliebe.
War Cedric etwa jener Junge, den sie im Kindergarten so mochte? Dieser Bengel, der ohne Grund einfach ihre Zeichnung zerrissen hatte?
~ * ~
"Nia, du magst doch Cedric, oder?", frage Frau Diener mit einem sanften Lächeln, das ihre roten Lippen umspielte. Sie hatte sich neben das kleine Mädchen gekniet, das am Zeichentisch saß und gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Im Hintergrund konnte man zahlreiche Kinder toben hören. Es war ein wildes Durcheinander von Geräuschen einer Cowboy-Jagd, dem Bauen riesiger Legotürme und dem Schaufeln im Sandkasten. Irgendwo konnte man auch ein paar Mädchen hören, die gerade Vater-Mutter-Kind spielten und sich dabei ganz vergaßen. Der Lärmpegel war enorm, aber es war einer der wenigen Augenblicke des Tages, wo mal kein Kind schrie, weil man ihm das Spielzeug weggenommen hatte.
Das kleine Mädchen namens Nia nickte schüchtern. Sie wirkte in ihrem rosa Kleidchen wie eine Puppe - ihre schulterlangen, glatten Haare und die großen, fragenden und runden Kulleraugen vervollständigten das Bild.
Die Kindergärtnerin seufzte und schaute aus den bodentiefen Fenstern in den Garten. Eine Art Kontrollblick, ob auch wirklich alles in Ordnung war.
"Dafür, dass du ihn magst, ärgerst du ihn aber ganz schön oft!", holte die Frau aus.
"Ceddy ärgert mich noch viel mehr!", meinte Nia wütend und stampfte mit dem Fuß auf. "Immer lacht er mich aus und macht sich über mich lustig! Er sagt auch mit Absicht meinen Namen falsch! Immer sagt er Na-i statt Nia! Das finde ich voll doof!" Sie verschränkte die Arme und blähte die Backen. "Er ist gemein!"
Frau Diener lächelte belustigt. "Aber Nia... das ist doch nur, weil er dich mag! Schau mal..." Sie deutete vorsichtig in den Garten hinaus. "Obwohl er mit den anderen Jungs spielt, hat er dich immer im Auge und passt auf dich auf."
Mit säuerlichem Gesichtsausdruck schaute das schwarzhaarige kleine Mädchen in die angegebene Richtung und... tatsächlich. Cedric stand auf dem Dach der "Räuberhütte" und schaute zu ihr herüber. Für einige Sekunden bemerkte er noch nicht einmal, dass seine Spielkameraden nach ihm riefen. Erst, als er Nias Blick registrierte, drehte er sich ruckartig um und tat so, als wäre er damit beschäftigt, das Dach eingehend zu untersuchen.
"Siehst du? Er macht sich nur Sorgen um dich." Nun musste Nia zustimmend nicken. "Meinst du nicht, dass du ihm dafür ein kleines Geschenk machen könntest? Das würde ihn bestimmt glücklich machen!" Bei diesen Worten fingen die Augen des kleinen Mädchens an zu leuchten. Ceddys Lachen ließ ihr Herz hüpfen. Sie nickte so heftig, dass ihre Haare ganz durcheinander gerieten.
"Was hälst du davon, wenn du ihn zeichnest, wie du ihn siehst?" Ein plötzlicher Geistesblitz durchzuckte die Erwachsene und sie klatschte begeistert in die Hände. "Nein, noch besser! Was meinst du, ist er für ein Tier? Zeichne ihn als Tier!"
Voller Feuereifer setzte sich Nia gerade an den Tisch und zog ein weißes Blatt Papier zu sich heran. Zufrieden stand Frau Diener auf und überlaß Nia sich selbst. Aus den unendlich vielen, überall verteilten Buntstiften wählte das kleine Mädchen einen aus und kaute drauf herum.
Was war Cedric für ein Tier?
Ein Hase? Nein, er war zwar niedlich, aber bestimmt nicht ängstlich!
Eine Schlange? Er war zwar agil und schnell, aber Cedric war nicht falsch. Also auch nicht.
Eine Biene? Zwar hatte er manchmal fiese Sprüche, die weh taten, aber das war es auch nicht...
Eine Eule? Obwohl Ceddy klug war, war er gewiss nicht weise und viel zu sehr ein Raufbold!
Ein Fuchs? Das kam der ganzen Sache schon näher...
Cedric war wild und ungestüm. Er liebte es zu raufen und war zudem der Schwarm aller Mädchen aus dem Kindergarten. Nia fand ihn auch irgendwie... gut. Ob er es wusste oder nicht... Nia hatte keine Ahnung, da er alle Mädchen gleich behandelte. Alle außer Nia. Sie piesackte und ärgerte er immer, auch wenn Frau Diener meinte, dass er immer auf die aufpasste. Wieder blähte sie ihre Backen bei dem Gedanken, dass er nicht einmal ihren Namen richtig sagen konnte. Na-i war doch kein Name! Nia war toll, warum konnte sich der Speckkopf das einfach nicht merken? Oh, und Cedric war unglaublich stark! Stärker als alle anderen! Das hatte sie erleben dürfen, als einer der anderen, größeren Jungs Nia die Haare abschneiden wollte. Todesmutig hatte er für Nia gekämpft und gewonnen.
Plötzlich hatte sie eine Eingebung und malte drauflos.
Obwohl sie sich größte Mühe gab, war das Mädchen ein wenig frustriert. Malen war noch nie ihre Stärke gewesen! Mit einem Mal stand ihr Schwarm hinter ihr.
"Na, was machst du denn da, Na-i?", fragte er keck und linste über ihre Schulter. Seine Zahnlücke wurde dabei gut sichtbar.
"Ich heiße nicht Na-i! Ich heiße Nia!", schmollte sie und plusterte ihre Backen auf. Dabei bemerkte sie gar nicht, wie starr Cedrics Blick mit einem Mal geworden war. Fast... schreckverzerrt.
"Was soll das werden?", fragte er ruhig. Täuschte sich Nia, oder klang da... Angst mit?
Beschämt nestelte Nia an ihrem Kleidchen herum und lächelte ihn frech an. "Das bist du, so wie ich dich als Tier sehe. Süß, oder?" Sie kicherte fröhlich.
Mit einer schnellen Bewegung hatte Cedric das Kunstwerk vom Tisch gerissen und in tausend kleine Teile zerfetzt. Nias Augen weiteten sich erschrocken.
"Mach das nie, nie wieder!", herrschte er sie an. Seine Stimme zitterte vor Wut.
Nia war so entsetzt, dass sie erst ein paar Sekunden danach laut anfing zu weinen. Warum hatte er das gemacht? Sie hatte sich solche Mühe gegeben! Es sollte ihn glücklich machen! Und dabei war das Bild noch nicht einmal fertig gewesen!
Er schluckte, als er Nia so sah. "M-mach das nie wieder, kapiert?", wiederholte er fauchend und ballte seine kleinen Hände zu Fäuste.
"D-du Speckkopf!", schrie Nia mit erstickter Stimme. Das war das erste Mal, dass sie ihn tatsächlich so genannt hatte.
Mit hochrotem Kopf fasste sich Cedric an die Backen. War er wirklich so pausbäckig, dass man ihn Speckkopf nennen musste?
Seit diesem Tag mochte sie ihn nicht mehr und wechselte auch kein Wort mehr mit ihm. Anfänglich hatte er sie weiterhin geneckt und versucht, sich mit ihr zu versöhnen, aber sie blockte alles ab. Letzten Endes musste er enttäuscht aufgeben und danach trennten sich ihre Wege, weil sie in die Schule kamen.
~ * ~
Zu Beginn der neunten Klasse hatte Nia das Gefühl, ein Déja-vu gehabt zu haben, als sie Cedric das "erste Mal" sah. Seine weizenblonden, fast weißen Haare und seine tiefschwarzen Augen hatten einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. Endlich ergab auch ihre seltsam aufgestaute Wut und der aus dem Nichts zu stammende Begriff "Speckkopf" einen Sinn!
Als sie ihn wiedertraf war Cedric ihr von Anfang an unsympathisch gewesen. Er grenzte sich ständig aus, war unfreundlich und asozial und mischte sich dennoch ungebeten in anderer Leute Angelegenheiten. Schon bizarr, wie sehr er sich im Gegensatz zu früher verändert hatte. Wo war der lustige, freche, aufgeschlossene Mädchenschwarm Cedric geblieben? War etwa irgendetwas vorgefallen, dass diese krasse Wandlung herbeigeführt hatte...?
Obwohl schon so viele Jahre vergangen waren, machte Nia die Erinnerung an die zerrissene Zeichnung immer noch leicht säuerlich. Natürlich ergab es jetzt Sinn, denn anscheinend hätte sie ihn damals fast "erweckt". Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, es beruhigte sie irgendwie, endlich zu wissen, was dies alles zu bedeuten hatte.
Ob er noch wusste, dass Nia damals in ihn verliebt gewesen war? Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Seitdem waren so viele Jahre vergangen, das hatte er mit absoluter Sicherheit vergessen!
Nachdem sein seltsames Verhalten das junge Mädchen vor über zehn Jahren wütend gemacht hatte, tat es ihr jetzt leid, dass sie so grob und abweisend zu ihm gewesen war. Jetzt wollte sie sich revanchieren und zückte ohne zu zögern den Stift. Auf dem Pult malte sie für einige stumme und atemlose Sekunden wild drauflos.
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge musste die Schülerin erkennen, dass ihre zeichnerischen Fähigkeiten seit dem Kindergarten kaum besser geworden waren. Aber die Hauptsache war ja, dass Cedric erkannte, was sie malte - und das hatte er ja schon damals getan.
Alle Anwesenden starrten ihr gebannt auf die Finger. Ein paar schauten skeptisch. Cedric hatte seine Hände in den Taschen zu Fäusten geballt, um seine Anspannung zu verstecken. Er traute sich nicht, auf die Zeichnung zu sehen.
Innerhalb einer Minute war das Werk vollbracht und mit einer schwungvollen Bewegung und leicht geröteten Backen hielt sie ihrem Klassenkameraden das Kunstwerk direkt vor die Nase.
Da geschah etwas, was sie bei dem Speckkopf schon lange nicht mehr gesehen hatte: Er lächelte!
Es war ein seltsames, sanftes und beruhigendes Lächeln, das bei Nia gegen ihren Willen Gänsehaut auslöste.
"Du bist seit dem Kindergarten nicht besser geworden, falls ich das mal so sagen darf, Na-i!", neckte er sie. "Aber es ist vollkommen richtig, so wie damals auch."
Nia schaute verdutzt erst Cedric und dann ihre Schmiererei an. Sie prustete los.
Auf dem Blatt war ein Teddybär.
Cedric war ein Eisbär!