Another Day in Paradise...?
Ein müder Sonnenstrahl stahl sich durch die weißen Vorhänge des Schlafzimmers. Durch die gekippten Fenster drang der melodische Gesang eines Buchfinks, der es sich auf der Fensterbank bequem gemacht hatte.
Katja drang wie ein Bulldozer in das Zimmer der schlafenden Nia – die Tür flog mit einem lauten Knall auf. Ihre überschäumende Energie hätte sicherlich ein Kraftwerk ersetzen können!
"Guten Morgen, keine Sorgen, seid ihr auch schon alle da? Habt ihr gut geschlafen, dann schreit alle Mal: "Hurra!"!", sang Katja überdreht und Nia schnellte erschrocken hoch. Trotz dem stürmischen Weckkomitee war ihr Puls noch viel zu weit unten, um Katjas Worte wahrzunehmen.
Die Sonne blendete sie und sie unterdrückte ein Gähnen. War sie nicht eben erst ins Bett gegangen...?
"Wenn du dich selbst sehen könntest, Nia!", lachte ihre beste Freundin, "Du siehst einfach nur niedlich aus! Hier ist übrigens die Eintrittskarte für heute Abend."
Als Katja einen ratlosen und verschlafenen Blick erntete, seufzte sie theatralisch, während sie an ihren Handschuhen nestelte.
"Heute Abend ist doch endlich mein Geigenkonzert! Zur "Feier des Tages" muss ich die ganze Zeit die Handschuhe tragen, damit mir auch ja nicht die Finger abfallen..." Sie strahlte über beide Ohren. Wie konnte man nur so viel Energie haben?
Nia nickte und brachte ein müdes Lächeln zusammen. "Ich freu mich schon seit Wochen drauf! Natürlich werde ich da sein!"
"Das wollte ich hören, Schlafmütze! Bis später!", mit diesen Worten war sie auch schon zusammen mit ihrem Geigenkoffer zur Tür heraus.
Träge blickte das Mädchen auf die Uhr und war mit einem Schlag hellwach. Warum hatte Katja sie nicht schon viel früher geweckt? Der Unterricht fing bald an!
Obwohl die schwarzhaarige Schülerin dem Konzert ebenso feurig entgegen fieberte wie ihre beste Freundin, musste sie doch noch eine große Hürde überwinden. Diese Hürde hörte auf den Namen "Mathe-Doppelstunde". Allein dieser Ausdruck genügte, um ihre Vorfreude förmlich verpuffen zu lassen. Unwillig marschierte sie den langen Gang entlang. Es fühlte sich fast so an als würde sie gleich gehängt werden. Gott, wie sollte das erst werden, wenn sie bald die Abschlussprüfungen schreiben würden? Schweißnasse Hände hatte sie bereits, bevor sie das Klassenzimmer betrat.
Pünktlich aber bereits völlig ausgelaugt ließ sich Nia auf ihren Stuhl fallen. Ihre Klassenkameraden quasselten fröhlich und ausgelassen über die neuesten Sendungen und Trends. Zum Glück wurde sie nicht damit belästigt, da sie an solcherlei Dingen kein Interesse hegte. Zu ihrem Missfallen stellte sie fest, dass alle Schüler anwesend waren und selbst der Platz neben ihr belegt war. Das trug nicht sonderlich zu ihrer Stimmung bei. Ohne ein Wort packte sie achtlos ihre Hefte auf den alten verschlissenen Tisch. Entnervt schob ihr Banknachbar die Bücher weiter zu ihr. Als sie ihm einen verwirrten Blick zuwarf deutete er auf eine Bleistiftlinie, die die Bank in zwei Hälften teilte.
Die sonst zurückhaltende und eher schüchtern wirkende Nia hatte seltsamerweise bei genau diesem Klassenkameraden eine extrem kurze Zündschnur.
"Du...!", setze sie an und wollte gerade etwas weniger freundliches sagen, als es läutete und die Mathelehrerin hereintrat.
"Spar dir den Atem.", ertönte es leise und kühl neben ihr, als sie die Lehrerin gemeinschaftlich begrüßt hatten. Natürlich bemängelte sie wieder die schlecht geputzte Tafel, doch Nia hörte gar nicht hin.
Das Mädchen kochte innerlich. Cedric Urs, so der Name des Banknachbarn, war einfach ein ungehobelter, unsympathischer, unsozialer, unhöflicher Klotz. Dabei sah er gar nicht mal schlecht aus. Er war so strohblond, dass es im Sonnenlicht fast weiß erschien und seine Augen waren so schwarz wie erstarrte Lava. Ähnlich wie Salvatore auch war er hoch gewachsen und hatte eine sportliche Figur. Doch nicht mal sein gutes Aussehen halfen über seinen grässlichen Charakter hinweg. Zum Glück musste sie „nur“ neben ihm sitzen und sich nicht weiter mit ihm abgeben! Nia schnaubte.
Da sich das Schuljahr dem Ende und vor allem den Abschlussprüfungen zuneigte, gab es für Nias Geschmack viel zu viele Wiederholungsaufgaben und Altprüfungen. Diese wurden zumeist in Zweiergruppen gelöst und anschließend gemeinsam durchgesprochen. Die Lehrerin erhoffte sich anscheinend dadurch, dass die Schüler es sich gegenseitig erklären würden. Oder sie vertuschte damit, dass sie selber nichts erklären konnte. Nia konnte damit nichts anfangen , schließlich schrieb sie ihre Mittlere Reife allein und nicht in Teams!
Auch heute war es nicht anders: Die Schüler wurden beordert gemeinsam Aufgaben zum Themenkomplex "Potenzen" zu lösen. Nia knirschte mit den Zähnen. Wer hatte es eigentlich genehmigt, dass sich in Mathematik, der Welt der Zahlen und Ziffern, Buchstaben einmischen durften? Allein die Regeln für die Potenzen waren haarsträubend! Ganz zu schweigen von Logarithmen oder quadratischen Gleichungen!
Schnaubend wandte sie sich dem Arbeitsblatt zu. Sie wollte zumindest kurz versuchen, die Aufgaben selbst zu lösen, doch es dauerte keine zehn Sekunden, als Panik in ihr aufstieg. Nichtnegative Lösung einer Gleichung? Hyperbeln n-ter Ordnung? Orthogonale Affinität? Ihre Hände zitterten, als sie den Füller aus dem Federmäppchen nahm. Wieder starrte sie auf das Blatt.
Was wollte die überhaupt von ihr? Warum musste sie das lernen? Und vor allem: Warum konnte sie diese Sachen immer noch nicht, obwohl die Abschlussprüfungen direkt vor der Tür standen? Seufzend schielte sie zu Cedrics Blatt herüber und erstarrte. Nicht aufgrund der Tatsache, dass er mit großer Geschwindigkeit das Blatt füllte, sondern aufgrund des einzelnen Wortes, dass mit Bleistift auf dem Tisch geschrieben worden war:
"Ausgeheult?"
Nia blinzelte mehrmals, um sicher zu gehen, dass sie sich nicht verschaut hatte. Wütend funkelte sie ihren Sitznachbarn an.
"Was zum...", setzte sie an, doch Cedric unterbrach sie kühl: "Hast du die 5 b) schon?"
"Das tut gerade ü-ber-haupt nichts zur Sache! Was soll das heißen: "Ausgeheult?"?", brauste Nia im Flüsterton auf. Sie wollte nicht, dass die Lehrerin auf sie aufmerksam wurde – ihre Noten waren so schon schlecht genug.
Desinteressiert blickte Cedric auf die Frage, als hätte er innerhalb weniger Minuten vergessen, dass er das geschrieben hatte. "Du hast gestern auf der Bank geweint.", lautete seine knappe Antwort. Vor Schreck ließ das Mädchen ihren Radiergummi fallen, welcher sogleich unter den Tisch kullerte. "Ich habe nicht geweint! Wie kommst du denn auf diese schwachsinnige Idee?" Nia war so überrascht, dass ihre aufkeimende Wut sofort versiegte.
"Das ist ein Schulpark.", meinte Cedric und deutete auf seine Ohren, "Und ich höre sehr gut."
Wie konnte man nur so eingebildet sein? Es war ja nicht so, dass Nia mit einem Megaphon auf der Bank gesessen war und ihre Probleme herausgeschrien hätte! Um das Gespräch mithören zu können hätte man schon direkt neben ihnen stehen müssen... oder in den Büschen gelegen sein.
"Das geht dich überhaupt nichts an! Gestern war ein besonderer Tag, nichts weiter.", wiegelte Nia sauer ab und versuchte sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. 5 b) war es, oder? Gott, wieso musste sie neben so einem Typen sitzen, der sie so schnell auf die Palme bringen konnte?
"Der Tod deiner Mutter?", fragte Cedric gerade heraus, während er seinen Blick wieder auf das Blatt heftete. Nias Blick verdunkelte sich, denn anscheinend hatte er alles mitgehört. Eine Mischung aus Wut und Trauer stieg in ihr auf. Für Niemandes Ohren außer für die von Katja waren ihre Worte bestimmt! Und ausgerechnet Cedric Urs hatte das mit dem Tod ihrer Mutter spitz bekommen... Nia umklammerte ihren Bleistift so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
"Diese Geschichte war nicht für dich! Vergiss es einfach, OK?", zischte sie mit kaum unterdrückter Wut. Cedric betrachtete sie für ein paar Augenblicke mit seinen tiefschwarzen, unergründlichen Augen und wandte sich wieder seinen schulischen Pflichten zu. Man merkte, dass seine Neugierde lange nicht gestillt war. Nach einer kurzen Pause fügte Nia resigniert hinzu: "Ich weiß echt nicht, was dein Problem ist, aber ja: Gestern war der Todestag meiner Mutter. Ja, ich war sehr traurig, aber das erlaube ich mir einmal im Jahr. Das ist für mich ein ebenso besonderer Tag wie Weihnachten oder Ostern, bloß dass es kein fröhlicher Anlass ist. Nur weil ich an einem Tag etwas bedrückt bin, heißt das noch lange nicht, das ich immer so bin. Warst du besorgt?" Das letzte Wort spie Nia förmlich aus. Als würde sich der Strohkopf um irgendjemanden scheren!
"Aha.", lautete Cedrics trockener Kommentar und ignorierte gekonnt die spitze Bemerkung zum Schluss, "So genau wollte ich es gar nicht wissen."
Statt wütend zu sein war Nia einfach nur hundeelend zumute. Es war, als ließe man die Luft aus einem Ballon heraus. Warum offenbarte sie jemanden so etwas vertrauliches? Sie hatte zwar soeben erfahren, dass er zugehört hatte, aber... Sie wollte einfach außerhalb des Todestages nicht diese alles verschlingende Trauer aufkommen lassen. Dafür fühlte sich Nia einfach nicht stark genug und sie erlaubte sich nur an diesem einen Tag, sich ihren Gefühlen hinzugeben. Ansonsten verschloss Nia ihre Erinnerungen an ihre Mutter regelrecht in einer kleinen Kiste tief in ihrem Herzen.
Zähneknirschend wandte sie sich den verhassten Matheaufgaben zu, die sie aber gar nicht mehr wahrnahm. Lieber würde sie sich die Hand abhacken als mit Cedric die Aufgaben durchzusprechen oder ihn um Hilfe zu bitten! Blöd sein konnte sie sehr gut alleine.
Das einzig Gute an solchen schrecklichen Schultagen war die Gewissheit, dass auch diese irgendwann endeten. Völlig demotiviert und erschöpft von der vernichtenden Fächerkombination schlurfte sie den langen holzgetäfelten Gang zu ihrem Spind, um die nötigen Bücher für den morgigen Tag herauszufischen. Als sie ihn quietschend öffnete, flatterte ihr ein kleines weißes Papier entgegen.
"Was... ist das?", murmelte Nia verwirrt und bückte sich, um die Karteikarte aufzuheben. Müll? Sie runzelte die Stirn, als sie die Nachricht darauf entzifferte:
"Nenne den Satz des Pythagoras!"
Waren das eine Karteikarte eines Mitschülers zum Lernen, die versehentlich bei ihr gelandet war? Vorsichtig drehte sie die Karte um, doch es befand sich keine Antwort darauf. Es war auch seltsam, dass die Aussage aufgedruckt und nicht handschriftlich niedergeschrieben worden war. Wer würde sich so eine Arbeit machen? Per Hand würde das deutlich schneller gehen. Oder...
Nia durchzuckte es wie einen Blitz. War das etwa ein Streich? Oder ein versteckter Code? Von wem konnte der Zettel sein? Von Katja? Nein, das wäre absurd. Die beiden teilten sich ein Zimmer, da wäre so eine Aktion äußerst unsinnig. Ansonsten hatte Nia keine Freunde – und Feinde ihres Wissens auch nicht.
"Und was, wenn ich diese Karten beantworten soll?", kam ihr plötzlich der Gedanke, doch im selben Atemzug musste sie über diesen verrückten Einfall lachen. Wer würde auf so eine bescheuerte Idee kommen und sich die Mühe machen? Wohl kaum jemand. Ohne einen weiteren Gedanken an die mysteriöse Karteikarte zu verschwenden warf sie sie in den nächstgelegenen Papierkorb und begab sich endlich auf den Heimweg.
Dort angekommen wäre sie am liebsten ins Bett gefallen und hätte bis mindestens übermorgen durchgeschlafen, aber diese Pause war ihr nicht vergönnt. Am Abend war ja das langersehnte Geigenkonzert von Katja! Beim Gedanken daran wurde Nias Laune ein wenig aufgehellt. Ihre beste Freundin hatte ihr erlaubt, sich frei am Kleiderschrank bedienen zu können, da Nias eigene Garderobe sehr eingeschränkt war. Zur großen Freude beider Mädchen hatten sie nämlich dieselbe Größe!
Der Kleiderschrank bestand größtenteils aus T-Shirts und weit ausgeschnittenen Oberteilen. Nia war weder mutig genug noch geeignet gebaut dafür, dass sie sich traute, etwas derartiges anzuziehen. Zum Glück war sie sonst recht unkompliziert, was das Zusammenstellen von Outfits anbelangte: Wenn ihr etwas gefiel probierte sie keine fünf Stunden alles andere an nur um zu überprüfen, ob die Erstwahl auch wirklich das Beste für sie sei. Letztlich fiel ihre Entscheidung auf ein längeres, kurzämliges Oberteil in lila mit einem weißen Gürtel und einer schwarzen Leggins.
Perfekt!
Das Konzert fand in einer Halle der Fachoberschulen statt, die man innerhalb von fünfzehn Minuten bequem zu Fuß erreichen konnte. Natürlich war Nia viel zu früh dran, aber sie war einfach so aufgeregt und hoffte, dass sie Katja davor noch einmal sehen und ihr gutes Gelingen wünschen konnte.
"Warum habe ich das nicht gleich heute morgen gesagt?", seufzte Nia und zupfte nervös an dem Oberteil herum. Wie es Katja wohl ging? Wenn sie selbst schon so nervös war, dass sie ihren eigenen Herzschlag deutlich hören konnte, wie mochte es dann ihrer besten Freundin ergehen? Obwohl... So energiegeladen und fröhlich wie Katja war, machte ihr das wahrscheinlich überhaupt nichts aus.
Etwas verloren stand das schwarzhaarige Mädchen vor den noch verschlossenen Türen – kein Wunder, wenn man über eine Stunde früher kommen musste! Ein wenig überfordert mit der Situation und der Tatsache, dass es auch keine Vitrinen mit Schulprojekten oder Poster gab, mithilfe derer man sich hätte ablenken können, stand sie ratlos herum. Sie seufzte und schaute sich um. Der Eingangsbereich der Sporthalle war mit dunklem Parkett ausgelegt, was Nia als eine unvorteilhafte Wahl empfand. Man konnte jedes Staubkorn und jeden etwas schmutzigeren Fußabdruck darauf erkennen, als hätte die Polizei einen Tatort aufbereitet. Gelangweilt drehte sie sich auf den Hacken ihrer Schuhe, während sie die Hände auf dem Rücken verschränkt hatte. In den Ecken der kalkweißen Wände hatten Schüler mit Eddings kleine Nachrichten geschmiert. Nia konnte "Eunice war hier!" und "Mathe ist doof!" entziffern. Beim letzten musste sie fast zustimmend nicken. Am liebsten hätte sie ein kleines "Und wie!" dazugeschrieben. Der alte, schäbige Getränkeautomat zu Nias linken brummte monoton. Sie seufzte.
"Nanu? Da ist ja noch jemand so früh da!", ertönte eine Stimme hinter ihr – eine Stimme, aus der man das Lächeln auf den Lippen direkt hören konnte.
Nia zuckte schuldbewusst zusammen und drehte sich um – ihre Augen weiteten sich, als sie die beiden hochgewachsenen jungen Männer erblickte. W-Was machte Salvatore hier?
"Einen schönen guten Abend! Du konntest es auch nicht mehr abwarten zum Konzert zu kommen, oder?", meinte Nias Schwarm und schenkte ihr ein kleines Lächeln. Er trug ein grünes Hemd mit schwarzer Jeans und ein Sakko darüber. Das junge Mädchen tat sich schwer, bei dieser überraschenden Begegnung einen Ton rauszubringen. Stattdessen nickte sie nur und presste ein hohes: "Hallo!" heraus. Der scheinbare Klassenkamerad von ihm überragte ihn noch um ein gutes Stück. Seine rostbraunen etwas längeren Haare umspielten sein markantes Gesicht. Nia stockte und blinzelte, als sich ihre Augen trafen... Verschiedenfarbige Augen?
"Oh, ich muss wohl meine Kontaktlinsen vergessen haben!", meine ihr Gegenüber scherzhaft lachend, als er ihren Blick bemerkte. Nia errötete leicht, dass er sie so einfach durchschaut hatte. Abwehrend hob sie die Hände, doch bevor sie eine Entschuldigung stammeln konnte, unterbrach Salvatore die beiden: "Schaut mal, die Tür war gar nicht abgeschlossen!"
Auf diese Worte hin musste Nia nervös lachen – wie konnte man nur so doof sein und nicht nachsehen, ob die Türen nicht doch offen waren? Die beiden Jungs bemerkten dies gar nicht und betraten den dunklen Raum. Man hatte mithilfe riesiger schwarzer Vorhänge, die kunstvoll drapiert waren, das meiste Außenlicht abgeschirmt. Die einzige Lichtquelle kam von der behelfsmäßigen Bühne, wo ein einzelner Scheinwerfer eine einsame Stelle erhellte, die mit schwarzen Samt ausgelegt war. Obschon die Stühle für das Publikum nur aus rotem Plastik waren, begeisterte Nia die Farbkombination und das Ambiente. Sie strahlte regelrecht, als sie sich vorstellte, dass schon bald ihre beste Freundin dort oben stand und sie alle in ihren Bann ziehen würde.
"So schön...!", flüsterte Nia hinter vorgehaltener Hand und ihre Augen leuchteten regelrecht. Salvatore war überrascht, doch es stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht, als er ihre ehrliche Begeisterung wahrnahm. "Es ist wirklich etwas besonderes, wenn man schon in ihrem Alter ein eigenes kleines Konzert geben darf!", pflichtete er ihr bei und schlängelte sich seinen Weg nach vorne durch die Reihen. Nia und der unbekannte Klassenkamerad folgten ihm schweigend.
Gerade als sie sich auf möglichst bühnennahe Plätze gesetzt hatten, ertönte eine schrille weibliche Stimme vom Eingangsbereich: "Schau mal, es ist stockfinster hier drin!" Daraufhin zuckte Salvatore zusammen und schaute verschreckt über seine Schulter. Erleichtert atmete er auf und sank tiefer in den Stuhl.
"Ha! Hast du etwa gedacht, deine Fangirls wären bereits zur Stelle?", witzelte der große junge Mann und der Angesprochene lächtelte gequält. "Keine Sorge, wir sind weit genug von der Realschule weg, da dürfte keine kommen!"
Nia hatte sich neben Salvatore gesetzt und rutschte unruhig hin und her. Es war ihr schleierhaft, wie sie ein Gespräch mit ihrem Schwarm anfangen sollte, ohne gleich das Stottern anzufangen. Doch ihre Sorgen blieben unbegründet, denn Salvatore richtete das Wort an sie. "Danke, dass du mir gestern aus der Patsche geholfen hast, das hatte ich wirklich bitter nötig." Abwehrend und hochnervös schüttelte sie den Kopf. "D-Das ist doch nicht der Rede wert! Wie geht es deinem Kopf?", fragte sie stattdessen bekümmert. Salvatore blinzelte überrascht und begriff dann erst, dass sie seinen peinlichen Zusammenstoß mit der Lampe meinte. Lächelnd wuschelte er sich durch die Haare. "Halb so wild, ich habe einen Holzkopf, da kann so schnell nichts kaputt gehen."
"Und was für einen hübschen und begehrten Holzkopf du hast!", feixte sein Sitznachbar breit. Salvatore errötete leicht und holte Luft um etwas zu erwidern. So weit kam er aber nicht. "Und ein unhöflicher Holzkopf obendrein. Ich bin Miguel. Freut mich, eine so hübsche holde Maid wie dich kennenlernen zu dürfen!" Bei dieser Bemerkung saß Nia kerzengerade. "Ach was! Mein N-Name ist Nia. Nia Toshiki!", stotterte sie und biss sich auf die Zunge vor Nervosität. Er nickte lächelnd.
"Und du bist ein ausgekochter Schleimer!", schmollte Salvatore. Holzkopf, ernsthaft?
"Nicht traurig sein, Prinz. Wenn ich schon nicht mit deinem Aussehen mithalten kann, so muss ich doch wenigstens mit Komplimenten punkten, die dir wohl kaum über die Lippen kommen würden.", meinte Miguel schulterzuckend.
Nia hörte ganz gebannt und schweigend dem Hick-hack der beiden zu, sodass sie gar nicht bemerkte, wie schnell die Zeit verging.
Ein Mann mittleren Alters mit Anzug betrat die Bühne. Alle verstummten, doch Miguel stichelte leise weiter und erfreute sich an Salvatores Gesichtsausdrücken, auch wenn dieser ihn versuchte zu ignorieren. "Das muss Mori sein!", dachte Nia als sie die buschigen Augenbrauen sah. Katja scherzte oft, dass sie sich gar nicht konzentrieren konnte, wenn sie die buschigen Augenbrauen ihres Geigenlehrers Mori auf und ab wippen sah. "Das sind wie zwei Raupen, die gegeneinander kämpfen! Und die Augenbrauen sind so buschig, dass zusammengewachsen wirken – eine totale Monobraue!"
Nia musste ein Kichern unterdrücken. Ja, ihre beste Freundin hatte bei weitem nicht übertrieben! Salvatore bemerkte ihre Reaktion und musste letztlich auch in sich hineingrinsen. "Wow, mit diesen Brauen könnte man Kissen ausstopfen!", pfiff Miguel leise und Salvatore verdrehte die Augen, obwohl er ihm insgeheim beipfllichten musste.
"Willkommen zu dem heutigen Geigenkonzert von Katja Müller aus der 10. Klasse der Realschule. Ich, Mori, habe bereits seit einigen Jahren das Vergnügen diese hart arbeitende und T..t..alentierte Geigerin zu unterrichten.“ Er zupfte an seiner hässlichen grün-blau gepunkteten Fliege herum. "Wie dem auch sei – ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!"
Erst beim Applaus bemerkte Nia, wie sich tatsächlich die ganze Halle gefüllt hatte. Und alle waren sie da, um Katja zu sehen! Ihre Brust schwoll vor Stolz an, als würde es sich um ihr eigenes Kind handeln. "Zeigs ihnen, Katja!", feuerte sie innerlich ihre beste Freundin an. Als sie auf die Bühne trat, verstummte sogar der redselige Miguel und starrte sie ungläubig an.
Katja hatte ein kanariengelbes, figurbetontes Kleid an, welches mit weißen Spitzen gesäumt war. Um ihre Hüfte herum schlang sich ein orangefarbenes Band, welches in einer kunstvoll gebundenen Schleife endete. Ihre Haare waren hochgesteckt und mit vielen vielen weißen Perlen verziert. Obwohl Katja nicht die klassische Schönheit war, verblüffte sie alle. Ihr spielerisches Lächeln kündete von der Vorfreude, die sie verspürte. Sie verbeugte sich pflichtgemäß und setzte schließlich ihre schwarze Geige an. Zu ihrer Schande kannte sich Nia viel zu wenig in der Musik aus, aber das fröhliche, irisch anmutende Lied erfüllte die gesamte Halle. Katjas ausgelassener, aber dennoch konzentrierter Blick und ihre leuchtenden Augen verzauberten die Leute. Dieses Lied war durch und durch Katja: Ausgelassen mit spürbaren Spaß am Leben!
Im Laufe des Konzertes wurden die Stücke immer gesetzter und ruhiger, ja schon fast melancholisch. Nias Herz klopfte, als sie an das allerletzte Lied dachte – ihr absoluter Favorit, den Katja ihr zahllose Male vorgespielt hatte!
"So, jetzt ist aber genug!", hatte ihre beste Freundin damals gesagt und die Hände in die Hüften gestemmt.
"Nein, bitte noch ein Mal!", bettelte Nia wie ein kleines Kind, das um eine weitere Gute Nacht Geschichte feilschte.
"Keine Chance, das Lied ist unglaublich anstrengend für mich."
"Anstrengend? Vom spielerischen her?", fragte das schwarzhaarige Mädchen.
"Das auch, aber vor allem ist es psychisch fordernd. Ich... Ich habe immer das Gefühl, dass ich meinem Zuhörer meine intimsten Gefühle offenbare... Man fühlt sich klein und verletzlich und... angreifbar, weil man sich von seiner schwächsten Seite zeigt.", sie lächelte traurig und schaute ins Leere.
Nia konnte den Worten Katjas nur beipflichten. Zwar hatte sie herzlich wenig Ahnung von der Musik, aber Tchaikovskys "None but the lonely Heart" war wie eine kunstvolle, einsame Schneeflocke – klein und zerbrechlich. Näherte man sich ihr, so verschwand der Zauber... Den Zuschauern erging es ähnlich wie Nia schon viele Male zuvor: Eine melancholische Stimmung legte sich über das Publikum und sie bekamen Gänsehaut. Es war wie ein magischer Bann.
Als Katja den letzten Bogenstrich vollendet hatte, dauerte es einige Sekunden, bis man begriff, dass das Konzert vorbei war. Der Applaus sprach Bände ob der Leistung der jungen Geigenspielerin: Begeisterte Pfiffe und Zugaberufe erfüllten die Sporthalle und Katja strahlte glücklich wie noch nie zuvor. Fröhlich drehte sie sich Richtung Nia und es war deutlich von ihren Lippen abzulesen: "Warte auf mich!" Die Angesprochene fand es beeindruckend, wie ihre beste Freundin sie so schnell ausgemacht hatte. Das musste wohl an ihrer Seelenverwandtschaft liegen. Nia nickte und applaudierte eifrig und voller Stolz. Sie gönnte ihr den Erfolg von ganzem Herzen!
Der große Raum leerte sich nach einiger Zeit, doch das Realschul-Trio blieb weiterhin sitzen.
"Es war so magisch!", brach es aus Nia hervor, die ganz vergessen hatte, dass sie neben ihrem Schwarm saß, bei dem sie sonst kaum einen Ton hervorbrachte. "Besonders beim letzten Lied bekomme ich immer wieder eine Gänsehaut! Ach, ich freu mich so, dass alles so wundervoll gelaufen ist! Katja ist eine großartige Geigenspielerin!"
Salvatore freute sich sichtlich über die von Nia angefangene Konversation und stütze seine Arme lässig auf die Knie. "Ja, es war wirklich sagenhaft! Ich bin froh, dass wir hergekommen sind, nicht wahr?" Mit diesen Worten wandte er sich an Miguel, der immer noch wie versteinert auf die Stelle starrte, an der Katja zuletzt gestanden war. Völlig aus den Gedanken gerissen murmelte er: "Ganz toll..."
Kaum hatte er das letzte Wort vollendet, linste Katja aus einer Tür hervor. Sie trug noch immer das strahlend gelbe Kleid, doch ihre Geige hatte sie an einen sicheren Ort gebracht.
"Nia!", rief Katja und stürmte auf sie zu. Ihre beste Freundin tat es ihr gleich. "Katja!" Die beiden Mädchen umarmten sich und lachten im Einklang. "Du warst absolut fantastisch! Hast du gemerkt, wie du uns alle verzaubert hast?" Salvatore und Miguel standen jetzt direkt neben den zwei. "Gratulation zu deinem mehr als gelungenen Auftritt!", sagte Nias Schwarm galant und Katja warf ihrer besten Freundin einen eindeutig zweideutigen Blick zu. Das schwarzhaarige Mädchen errötete bis in die Haarspitzen.
"Wow, ich habe die Ehre mit dem Schwarm aller Mädchen, Salvatore Zefalus zu sprechen?", lachte sie glockenhell und schaute wieder zu Nia, um sie zu necken. "Muss ich befürchten, dass ich morgen in der Gerüchteküche stehe und auseinander genommen werde, weil ich ein paar Worte mit dir gewechselt habe?"
Man merkte, dass dieses Thema dem Schulschwarm mehr als unangenehm war und er kratzte seine Nase. "Es tut mir leid, ich..."
"Mach dir keinen Kopf, war nur Spaß! Du bist wahrscheinlich der allerletzte, der das eigentlich will.", beschwichtigte ihn Katja lachend. "Und wen haben wir denn da noch? Ist das nicht unser Schulsprecher Miguel?"
Nia riss den Kopf herum. Schulsprecher?! Warum hatte sie das nicht gewusst? Oh du meine Güte, das war ja wohl mehr als peinlich, dass man den eigenen Schulsprecher nicht kannte!
"Stets zu Diensten!", murmelte er und hauchte Katja einen Kuss auf die Hand. Als sich ihre Augen trafen, schien für einen Augenblick die Zeit still zu stehen. Das Mädchen zog die Hand nicht weg und meinte: "Wenn das mal keine tolle Belohnung ist! Vielen Dank, du Gentleman!" Damit wandte sie sich wieder an Nia. "Die nächsten Tage werde ich noch Vorspiele bei verschiedenen Musikschulen innerhalb und außerhalb des Campus haben. Kannst du wieder die Arbeitsblätter für mich mitnehmen?"
Nias Herz sank. Sie hatte gehofft, dass die beiden Mal wieder bei Keksen und Kakao gemeinsam Mathe büffelten. Nicht, dass es dadurch ein schöneres Fach werden würde, aber gemeinsam stand man das viel leichter durch. "Aber klar, verlass dich auf mich!", versuchte Nia die gute Laune von Katja nachzuahmen, indem sie auch die Hände in die Hüfte stemmte. Das sah so unglaublich schlecht nachgeahmt aus, dass ihre beste Freundin lachen musste. Schnell ließ Nia davon ab und fügte noch hinzu: "Ich wünsche dir ganz viel Erfolg!"
Als Nia am nächsten Tag von dem durchdringenden Ton ihres Weckers aufgeschreckt wurde, konnte sie noch gar nicht begreifen, was gestern geschehen war. War sie tatsächlich mit Salvatore beim Konzert von Katja gewesen? Ihre Wangen wurden ganz heiß bei dem Gedanken. Veschämt kühlte sie ihre Backen mit ihren Händen. Er machte sie ja in der Schuluniform schon ganz nervös, aber mit Jacket...! Ihr Herz klopfte ganz wild, als sie an die ersten zaghaften Gespräche mit ihm dachte.
Selbst auf dem kurzen Schulweg durch die schattenspendende Eichenallee war sie noch ganz in Gedanken versunken. Als sie das Gebäude betrat, hörte sie "Da ist sie ja!". Verwundert und aufgeschreckt drehte sie sich in Richtung Stimme, aber das Mädchen drehte sich schnell weg. Von ihrer linken kam "Das die sich heute hertraut!". Nia blickte verwundert umher. Sprachen die über sie oder bildete sie sich das ein? Sie hatte keine Freunde und sie hatte auch nie das Gefühl, dass sie besonders wahrgenommen würde... Oftmals konnte sie froh sein, wenn der Lehrer sie nicht vergaß, wenn er die Klassenliste nicht dabei hatte.
~ * ~etwas verstört am schwarzen Brett vorbei – das Brett für diverse Klubs, Neuigkeiten oder Berichte. Und natürlich für das aktuellste Titelblatt der wöchtentlich erscheinenden Gerüchteküche, dem gefürchtetsten Blatt Papier nach den Abschlussprüfungen. Zumindest für die, die für schlechte Schlagzeilen sorgten und ausschließlich dafür lebte dieses Blatt. Nur Salvatore wurde immer in den Himmel gelobt und mit einem "My Week"-Special beglückt, in welchem er mit zahlreichen Fotos versehen seine vergangene Woche dokumentiert sah. Nicht, das er das wirklich wollen würde...Nia schlenderte etwas verstört am schwarzen Brett vorbei – das Brett für diverse Klubs, Neuigkeiten oder Berichte. Und natürlich für das aktuellste Titelblatt der wöchtentlich erscheinenden Gerüchteküche, dem gefürchtetsten Blatt Papier nach den Abschlussprüfungen. Zumindest für die, die für schlechte Schlagzeilen sorgten und ausschließlich dafür lebte dieses Blatt. Nur Salvatore wurde immer in den Himmel gelobt und mit einem "My Week"-Special beglückt, in welchem er mit zahlreichen Fotos versehen seine vergangene Woche dokumentiert sah. Nicht, das er das wirklich wollen würde...
Ebendiese Zeitschrift mit den federführenden Salvatorefanclub-Anführern Tonia, Anita und Tanja hing aus und Nia erstarrte das Blut in den Adern.
Auf der Titelseite war sie. Mit Salvatore. Beim gestrigen Konzert. Das Bild zeigte den kurzen Augenblick, in welchen die beiden miteinander geredet hatten und Nia aus sich herausgekommen war.
Die roten Letter der Schlagzeile prangerten Nia an.
"Nur das Beste vom Besten ist gut genug: Nia Toshiki veführt unantastbaren Schulschwarm Salvatore Zefalus!"
Katja drang wie ein Bulldozer in das Zimmer der schlafenden Nia – die Tür flog mit einem lauten Knall auf. Ihre überschäumende Energie hätte sicherlich ein Kraftwerk ersetzen können!
"Guten Morgen, keine Sorgen, seid ihr auch schon alle da? Habt ihr gut geschlafen, dann schreit alle Mal: "Hurra!"!", sang Katja überdreht und Nia schnellte erschrocken hoch. Trotz dem stürmischen Weckkomitee war ihr Puls noch viel zu weit unten, um Katjas Worte wahrzunehmen.
Die Sonne blendete sie und sie unterdrückte ein Gähnen. War sie nicht eben erst ins Bett gegangen...?
"Wenn du dich selbst sehen könntest, Nia!", lachte ihre beste Freundin, "Du siehst einfach nur niedlich aus! Hier ist übrigens die Eintrittskarte für heute Abend."
Als Katja einen ratlosen und verschlafenen Blick erntete, seufzte sie theatralisch, während sie an ihren Handschuhen nestelte.
"Heute Abend ist doch endlich mein Geigenkonzert! Zur "Feier des Tages" muss ich die ganze Zeit die Handschuhe tragen, damit mir auch ja nicht die Finger abfallen..." Sie strahlte über beide Ohren. Wie konnte man nur so viel Energie haben?
Nia nickte und brachte ein müdes Lächeln zusammen. "Ich freu mich schon seit Wochen drauf! Natürlich werde ich da sein!"
"Das wollte ich hören, Schlafmütze! Bis später!", mit diesen Worten war sie auch schon zusammen mit ihrem Geigenkoffer zur Tür heraus.
Träge blickte das Mädchen auf die Uhr und war mit einem Schlag hellwach. Warum hatte Katja sie nicht schon viel früher geweckt? Der Unterricht fing bald an!
Obwohl die schwarzhaarige Schülerin dem Konzert ebenso feurig entgegen fieberte wie ihre beste Freundin, musste sie doch noch eine große Hürde überwinden. Diese Hürde hörte auf den Namen "Mathe-Doppelstunde". Allein dieser Ausdruck genügte, um ihre Vorfreude förmlich verpuffen zu lassen. Unwillig marschierte sie den langen Gang entlang. Es fühlte sich fast so an als würde sie gleich gehängt werden. Gott, wie sollte das erst werden, wenn sie bald die Abschlussprüfungen schreiben würden? Schweißnasse Hände hatte sie bereits, bevor sie das Klassenzimmer betrat.
Pünktlich aber bereits völlig ausgelaugt ließ sich Nia auf ihren Stuhl fallen. Ihre Klassenkameraden quasselten fröhlich und ausgelassen über die neuesten Sendungen und Trends. Zum Glück wurde sie nicht damit belästigt, da sie an solcherlei Dingen kein Interesse hegte. Zu ihrem Missfallen stellte sie fest, dass alle Schüler anwesend waren und selbst der Platz neben ihr belegt war. Das trug nicht sonderlich zu ihrer Stimmung bei. Ohne ein Wort packte sie achtlos ihre Hefte auf den alten verschlissenen Tisch. Entnervt schob ihr Banknachbar die Bücher weiter zu ihr. Als sie ihm einen verwirrten Blick zuwarf deutete er auf eine Bleistiftlinie, die die Bank in zwei Hälften teilte.
Die sonst zurückhaltende und eher schüchtern wirkende Nia hatte seltsamerweise bei genau diesem Klassenkameraden eine extrem kurze Zündschnur.
"Du...!", setze sie an und wollte gerade etwas weniger freundliches sagen, als es läutete und die Mathelehrerin hereintrat.
"Spar dir den Atem.", ertönte es leise und kühl neben ihr, als sie die Lehrerin gemeinschaftlich begrüßt hatten. Natürlich bemängelte sie wieder die schlecht geputzte Tafel, doch Nia hörte gar nicht hin.
Das Mädchen kochte innerlich. Cedric Urs, so der Name des Banknachbarn, war einfach ein ungehobelter, unsympathischer, unsozialer, unhöflicher Klotz. Dabei sah er gar nicht mal schlecht aus. Er war so strohblond, dass es im Sonnenlicht fast weiß erschien und seine Augen waren so schwarz wie erstarrte Lava. Ähnlich wie Salvatore auch war er hoch gewachsen und hatte eine sportliche Figur. Doch nicht mal sein gutes Aussehen halfen über seinen grässlichen Charakter hinweg. Zum Glück musste sie „nur“ neben ihm sitzen und sich nicht weiter mit ihm abgeben! Nia schnaubte.
Da sich das Schuljahr dem Ende und vor allem den Abschlussprüfungen zuneigte, gab es für Nias Geschmack viel zu viele Wiederholungsaufgaben und Altprüfungen. Diese wurden zumeist in Zweiergruppen gelöst und anschließend gemeinsam durchgesprochen. Die Lehrerin erhoffte sich anscheinend dadurch, dass die Schüler es sich gegenseitig erklären würden. Oder sie vertuschte damit, dass sie selber nichts erklären konnte. Nia konnte damit nichts anfangen , schließlich schrieb sie ihre Mittlere Reife allein und nicht in Teams!
Auch heute war es nicht anders: Die Schüler wurden beordert gemeinsam Aufgaben zum Themenkomplex "Potenzen" zu lösen. Nia knirschte mit den Zähnen. Wer hatte es eigentlich genehmigt, dass sich in Mathematik, der Welt der Zahlen und Ziffern, Buchstaben einmischen durften? Allein die Regeln für die Potenzen waren haarsträubend! Ganz zu schweigen von Logarithmen oder quadratischen Gleichungen!
Schnaubend wandte sie sich dem Arbeitsblatt zu. Sie wollte zumindest kurz versuchen, die Aufgaben selbst zu lösen, doch es dauerte keine zehn Sekunden, als Panik in ihr aufstieg. Nichtnegative Lösung einer Gleichung? Hyperbeln n-ter Ordnung? Orthogonale Affinität? Ihre Hände zitterten, als sie den Füller aus dem Federmäppchen nahm. Wieder starrte sie auf das Blatt.
Was wollte die überhaupt von ihr? Warum musste sie das lernen? Und vor allem: Warum konnte sie diese Sachen immer noch nicht, obwohl die Abschlussprüfungen direkt vor der Tür standen? Seufzend schielte sie zu Cedrics Blatt herüber und erstarrte. Nicht aufgrund der Tatsache, dass er mit großer Geschwindigkeit das Blatt füllte, sondern aufgrund des einzelnen Wortes, dass mit Bleistift auf dem Tisch geschrieben worden war:
"Ausgeheult?"
Nia blinzelte mehrmals, um sicher zu gehen, dass sie sich nicht verschaut hatte. Wütend funkelte sie ihren Sitznachbarn an.
"Was zum...", setzte sie an, doch Cedric unterbrach sie kühl: "Hast du die 5 b) schon?"
"Das tut gerade ü-ber-haupt nichts zur Sache! Was soll das heißen: "Ausgeheult?"?", brauste Nia im Flüsterton auf. Sie wollte nicht, dass die Lehrerin auf sie aufmerksam wurde – ihre Noten waren so schon schlecht genug.
Desinteressiert blickte Cedric auf die Frage, als hätte er innerhalb weniger Minuten vergessen, dass er das geschrieben hatte. "Du hast gestern auf der Bank geweint.", lautete seine knappe Antwort. Vor Schreck ließ das Mädchen ihren Radiergummi fallen, welcher sogleich unter den Tisch kullerte. "Ich habe nicht geweint! Wie kommst du denn auf diese schwachsinnige Idee?" Nia war so überrascht, dass ihre aufkeimende Wut sofort versiegte.
"Das ist ein Schulpark.", meinte Cedric und deutete auf seine Ohren, "Und ich höre sehr gut."
Wie konnte man nur so eingebildet sein? Es war ja nicht so, dass Nia mit einem Megaphon auf der Bank gesessen war und ihre Probleme herausgeschrien hätte! Um das Gespräch mithören zu können hätte man schon direkt neben ihnen stehen müssen... oder in den Büschen gelegen sein.
"Das geht dich überhaupt nichts an! Gestern war ein besonderer Tag, nichts weiter.", wiegelte Nia sauer ab und versuchte sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. 5 b) war es, oder? Gott, wieso musste sie neben so einem Typen sitzen, der sie so schnell auf die Palme bringen konnte?
"Der Tod deiner Mutter?", fragte Cedric gerade heraus, während er seinen Blick wieder auf das Blatt heftete. Nias Blick verdunkelte sich, denn anscheinend hatte er alles mitgehört. Eine Mischung aus Wut und Trauer stieg in ihr auf. Für Niemandes Ohren außer für die von Katja waren ihre Worte bestimmt! Und ausgerechnet Cedric Urs hatte das mit dem Tod ihrer Mutter spitz bekommen... Nia umklammerte ihren Bleistift so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
"Diese Geschichte war nicht für dich! Vergiss es einfach, OK?", zischte sie mit kaum unterdrückter Wut. Cedric betrachtete sie für ein paar Augenblicke mit seinen tiefschwarzen, unergründlichen Augen und wandte sich wieder seinen schulischen Pflichten zu. Man merkte, dass seine Neugierde lange nicht gestillt war. Nach einer kurzen Pause fügte Nia resigniert hinzu: "Ich weiß echt nicht, was dein Problem ist, aber ja: Gestern war der Todestag meiner Mutter. Ja, ich war sehr traurig, aber das erlaube ich mir einmal im Jahr. Das ist für mich ein ebenso besonderer Tag wie Weihnachten oder Ostern, bloß dass es kein fröhlicher Anlass ist. Nur weil ich an einem Tag etwas bedrückt bin, heißt das noch lange nicht, das ich immer so bin. Warst du besorgt?" Das letzte Wort spie Nia förmlich aus. Als würde sich der Strohkopf um irgendjemanden scheren!
"Aha.", lautete Cedrics trockener Kommentar und ignorierte gekonnt die spitze Bemerkung zum Schluss, "So genau wollte ich es gar nicht wissen."
Statt wütend zu sein war Nia einfach nur hundeelend zumute. Es war, als ließe man die Luft aus einem Ballon heraus. Warum offenbarte sie jemanden so etwas vertrauliches? Sie hatte zwar soeben erfahren, dass er zugehört hatte, aber... Sie wollte einfach außerhalb des Todestages nicht diese alles verschlingende Trauer aufkommen lassen. Dafür fühlte sich Nia einfach nicht stark genug und sie erlaubte sich nur an diesem einen Tag, sich ihren Gefühlen hinzugeben. Ansonsten verschloss Nia ihre Erinnerungen an ihre Mutter regelrecht in einer kleinen Kiste tief in ihrem Herzen.
Zähneknirschend wandte sie sich den verhassten Matheaufgaben zu, die sie aber gar nicht mehr wahrnahm. Lieber würde sie sich die Hand abhacken als mit Cedric die Aufgaben durchzusprechen oder ihn um Hilfe zu bitten! Blöd sein konnte sie sehr gut alleine.
Das einzig Gute an solchen schrecklichen Schultagen war die Gewissheit, dass auch diese irgendwann endeten. Völlig demotiviert und erschöpft von der vernichtenden Fächerkombination schlurfte sie den langen holzgetäfelten Gang zu ihrem Spind, um die nötigen Bücher für den morgigen Tag herauszufischen. Als sie ihn quietschend öffnete, flatterte ihr ein kleines weißes Papier entgegen.
"Was... ist das?", murmelte Nia verwirrt und bückte sich, um die Karteikarte aufzuheben. Müll? Sie runzelte die Stirn, als sie die Nachricht darauf entzifferte:
"Nenne den Satz des Pythagoras!"
Waren das eine Karteikarte eines Mitschülers zum Lernen, die versehentlich bei ihr gelandet war? Vorsichtig drehte sie die Karte um, doch es befand sich keine Antwort darauf. Es war auch seltsam, dass die Aussage aufgedruckt und nicht handschriftlich niedergeschrieben worden war. Wer würde sich so eine Arbeit machen? Per Hand würde das deutlich schneller gehen. Oder...
Nia durchzuckte es wie einen Blitz. War das etwa ein Streich? Oder ein versteckter Code? Von wem konnte der Zettel sein? Von Katja? Nein, das wäre absurd. Die beiden teilten sich ein Zimmer, da wäre so eine Aktion äußerst unsinnig. Ansonsten hatte Nia keine Freunde – und Feinde ihres Wissens auch nicht.
"Und was, wenn ich diese Karten beantworten soll?", kam ihr plötzlich der Gedanke, doch im selben Atemzug musste sie über diesen verrückten Einfall lachen. Wer würde auf so eine bescheuerte Idee kommen und sich die Mühe machen? Wohl kaum jemand. Ohne einen weiteren Gedanken an die mysteriöse Karteikarte zu verschwenden warf sie sie in den nächstgelegenen Papierkorb und begab sich endlich auf den Heimweg.
Dort angekommen wäre sie am liebsten ins Bett gefallen und hätte bis mindestens übermorgen durchgeschlafen, aber diese Pause war ihr nicht vergönnt. Am Abend war ja das langersehnte Geigenkonzert von Katja! Beim Gedanken daran wurde Nias Laune ein wenig aufgehellt. Ihre beste Freundin hatte ihr erlaubt, sich frei am Kleiderschrank bedienen zu können, da Nias eigene Garderobe sehr eingeschränkt war. Zur großen Freude beider Mädchen hatten sie nämlich dieselbe Größe!
Der Kleiderschrank bestand größtenteils aus T-Shirts und weit ausgeschnittenen Oberteilen. Nia war weder mutig genug noch geeignet gebaut dafür, dass sie sich traute, etwas derartiges anzuziehen. Zum Glück war sie sonst recht unkompliziert, was das Zusammenstellen von Outfits anbelangte: Wenn ihr etwas gefiel probierte sie keine fünf Stunden alles andere an nur um zu überprüfen, ob die Erstwahl auch wirklich das Beste für sie sei. Letztlich fiel ihre Entscheidung auf ein längeres, kurzämliges Oberteil in lila mit einem weißen Gürtel und einer schwarzen Leggins.
Perfekt!
Das Konzert fand in einer Halle der Fachoberschulen statt, die man innerhalb von fünfzehn Minuten bequem zu Fuß erreichen konnte. Natürlich war Nia viel zu früh dran, aber sie war einfach so aufgeregt und hoffte, dass sie Katja davor noch einmal sehen und ihr gutes Gelingen wünschen konnte.
"Warum habe ich das nicht gleich heute morgen gesagt?", seufzte Nia und zupfte nervös an dem Oberteil herum. Wie es Katja wohl ging? Wenn sie selbst schon so nervös war, dass sie ihren eigenen Herzschlag deutlich hören konnte, wie mochte es dann ihrer besten Freundin ergehen? Obwohl... So energiegeladen und fröhlich wie Katja war, machte ihr das wahrscheinlich überhaupt nichts aus.
Etwas verloren stand das schwarzhaarige Mädchen vor den noch verschlossenen Türen – kein Wunder, wenn man über eine Stunde früher kommen musste! Ein wenig überfordert mit der Situation und der Tatsache, dass es auch keine Vitrinen mit Schulprojekten oder Poster gab, mithilfe derer man sich hätte ablenken können, stand sie ratlos herum. Sie seufzte und schaute sich um. Der Eingangsbereich der Sporthalle war mit dunklem Parkett ausgelegt, was Nia als eine unvorteilhafte Wahl empfand. Man konnte jedes Staubkorn und jeden etwas schmutzigeren Fußabdruck darauf erkennen, als hätte die Polizei einen Tatort aufbereitet. Gelangweilt drehte sie sich auf den Hacken ihrer Schuhe, während sie die Hände auf dem Rücken verschränkt hatte. In den Ecken der kalkweißen Wände hatten Schüler mit Eddings kleine Nachrichten geschmiert. Nia konnte "Eunice war hier!" und "Mathe ist doof!" entziffern. Beim letzten musste sie fast zustimmend nicken. Am liebsten hätte sie ein kleines "Und wie!" dazugeschrieben. Der alte, schäbige Getränkeautomat zu Nias linken brummte monoton. Sie seufzte.
"Nanu? Da ist ja noch jemand so früh da!", ertönte eine Stimme hinter ihr – eine Stimme, aus der man das Lächeln auf den Lippen direkt hören konnte.
Nia zuckte schuldbewusst zusammen und drehte sich um – ihre Augen weiteten sich, als sie die beiden hochgewachsenen jungen Männer erblickte. W-Was machte Salvatore hier?
"Einen schönen guten Abend! Du konntest es auch nicht mehr abwarten zum Konzert zu kommen, oder?", meinte Nias Schwarm und schenkte ihr ein kleines Lächeln. Er trug ein grünes Hemd mit schwarzer Jeans und ein Sakko darüber. Das junge Mädchen tat sich schwer, bei dieser überraschenden Begegnung einen Ton rauszubringen. Stattdessen nickte sie nur und presste ein hohes: "Hallo!" heraus. Der scheinbare Klassenkamerad von ihm überragte ihn noch um ein gutes Stück. Seine rostbraunen etwas längeren Haare umspielten sein markantes Gesicht. Nia stockte und blinzelte, als sich ihre Augen trafen... Verschiedenfarbige Augen?
"Oh, ich muss wohl meine Kontaktlinsen vergessen haben!", meine ihr Gegenüber scherzhaft lachend, als er ihren Blick bemerkte. Nia errötete leicht, dass er sie so einfach durchschaut hatte. Abwehrend hob sie die Hände, doch bevor sie eine Entschuldigung stammeln konnte, unterbrach Salvatore die beiden: "Schaut mal, die Tür war gar nicht abgeschlossen!"
Auf diese Worte hin musste Nia nervös lachen – wie konnte man nur so doof sein und nicht nachsehen, ob die Türen nicht doch offen waren? Die beiden Jungs bemerkten dies gar nicht und betraten den dunklen Raum. Man hatte mithilfe riesiger schwarzer Vorhänge, die kunstvoll drapiert waren, das meiste Außenlicht abgeschirmt. Die einzige Lichtquelle kam von der behelfsmäßigen Bühne, wo ein einzelner Scheinwerfer eine einsame Stelle erhellte, die mit schwarzen Samt ausgelegt war. Obschon die Stühle für das Publikum nur aus rotem Plastik waren, begeisterte Nia die Farbkombination und das Ambiente. Sie strahlte regelrecht, als sie sich vorstellte, dass schon bald ihre beste Freundin dort oben stand und sie alle in ihren Bann ziehen würde.
"So schön...!", flüsterte Nia hinter vorgehaltener Hand und ihre Augen leuchteten regelrecht. Salvatore war überrascht, doch es stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht, als er ihre ehrliche Begeisterung wahrnahm. "Es ist wirklich etwas besonderes, wenn man schon in ihrem Alter ein eigenes kleines Konzert geben darf!", pflichtete er ihr bei und schlängelte sich seinen Weg nach vorne durch die Reihen. Nia und der unbekannte Klassenkamerad folgten ihm schweigend.
Gerade als sie sich auf möglichst bühnennahe Plätze gesetzt hatten, ertönte eine schrille weibliche Stimme vom Eingangsbereich: "Schau mal, es ist stockfinster hier drin!" Daraufhin zuckte Salvatore zusammen und schaute verschreckt über seine Schulter. Erleichtert atmete er auf und sank tiefer in den Stuhl.
"Ha! Hast du etwa gedacht, deine Fangirls wären bereits zur Stelle?", witzelte der große junge Mann und der Angesprochene lächtelte gequält. "Keine Sorge, wir sind weit genug von der Realschule weg, da dürfte keine kommen!"
Nia hatte sich neben Salvatore gesetzt und rutschte unruhig hin und her. Es war ihr schleierhaft, wie sie ein Gespräch mit ihrem Schwarm anfangen sollte, ohne gleich das Stottern anzufangen. Doch ihre Sorgen blieben unbegründet, denn Salvatore richtete das Wort an sie. "Danke, dass du mir gestern aus der Patsche geholfen hast, das hatte ich wirklich bitter nötig." Abwehrend und hochnervös schüttelte sie den Kopf. "D-Das ist doch nicht der Rede wert! Wie geht es deinem Kopf?", fragte sie stattdessen bekümmert. Salvatore blinzelte überrascht und begriff dann erst, dass sie seinen peinlichen Zusammenstoß mit der Lampe meinte. Lächelnd wuschelte er sich durch die Haare. "Halb so wild, ich habe einen Holzkopf, da kann so schnell nichts kaputt gehen."
"Und was für einen hübschen und begehrten Holzkopf du hast!", feixte sein Sitznachbar breit. Salvatore errötete leicht und holte Luft um etwas zu erwidern. So weit kam er aber nicht. "Und ein unhöflicher Holzkopf obendrein. Ich bin Miguel. Freut mich, eine so hübsche holde Maid wie dich kennenlernen zu dürfen!" Bei dieser Bemerkung saß Nia kerzengerade. "Ach was! Mein N-Name ist Nia. Nia Toshiki!", stotterte sie und biss sich auf die Zunge vor Nervosität. Er nickte lächelnd.
"Und du bist ein ausgekochter Schleimer!", schmollte Salvatore. Holzkopf, ernsthaft?
"Nicht traurig sein, Prinz. Wenn ich schon nicht mit deinem Aussehen mithalten kann, so muss ich doch wenigstens mit Komplimenten punkten, die dir wohl kaum über die Lippen kommen würden.", meinte Miguel schulterzuckend.
Nia hörte ganz gebannt und schweigend dem Hick-hack der beiden zu, sodass sie gar nicht bemerkte, wie schnell die Zeit verging.
Ein Mann mittleren Alters mit Anzug betrat die Bühne. Alle verstummten, doch Miguel stichelte leise weiter und erfreute sich an Salvatores Gesichtsausdrücken, auch wenn dieser ihn versuchte zu ignorieren. "Das muss Mori sein!", dachte Nia als sie die buschigen Augenbrauen sah. Katja scherzte oft, dass sie sich gar nicht konzentrieren konnte, wenn sie die buschigen Augenbrauen ihres Geigenlehrers Mori auf und ab wippen sah. "Das sind wie zwei Raupen, die gegeneinander kämpfen! Und die Augenbrauen sind so buschig, dass zusammengewachsen wirken – eine totale Monobraue!"
Nia musste ein Kichern unterdrücken. Ja, ihre beste Freundin hatte bei weitem nicht übertrieben! Salvatore bemerkte ihre Reaktion und musste letztlich auch in sich hineingrinsen. "Wow, mit diesen Brauen könnte man Kissen ausstopfen!", pfiff Miguel leise und Salvatore verdrehte die Augen, obwohl er ihm insgeheim beipfllichten musste.
"Willkommen zu dem heutigen Geigenkonzert von Katja Müller aus der 10. Klasse der Realschule. Ich, Mori, habe bereits seit einigen Jahren das Vergnügen diese hart arbeitende und T..t..alentierte Geigerin zu unterrichten.“ Er zupfte an seiner hässlichen grün-blau gepunkteten Fliege herum. "Wie dem auch sei – ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!"
Erst beim Applaus bemerkte Nia, wie sich tatsächlich die ganze Halle gefüllt hatte. Und alle waren sie da, um Katja zu sehen! Ihre Brust schwoll vor Stolz an, als würde es sich um ihr eigenes Kind handeln. "Zeigs ihnen, Katja!", feuerte sie innerlich ihre beste Freundin an. Als sie auf die Bühne trat, verstummte sogar der redselige Miguel und starrte sie ungläubig an.
Katja hatte ein kanariengelbes, figurbetontes Kleid an, welches mit weißen Spitzen gesäumt war. Um ihre Hüfte herum schlang sich ein orangefarbenes Band, welches in einer kunstvoll gebundenen Schleife endete. Ihre Haare waren hochgesteckt und mit vielen vielen weißen Perlen verziert. Obwohl Katja nicht die klassische Schönheit war, verblüffte sie alle. Ihr spielerisches Lächeln kündete von der Vorfreude, die sie verspürte. Sie verbeugte sich pflichtgemäß und setzte schließlich ihre schwarze Geige an. Zu ihrer Schande kannte sich Nia viel zu wenig in der Musik aus, aber das fröhliche, irisch anmutende Lied erfüllte die gesamte Halle. Katjas ausgelassener, aber dennoch konzentrierter Blick und ihre leuchtenden Augen verzauberten die Leute. Dieses Lied war durch und durch Katja: Ausgelassen mit spürbaren Spaß am Leben!
Im Laufe des Konzertes wurden die Stücke immer gesetzter und ruhiger, ja schon fast melancholisch. Nias Herz klopfte, als sie an das allerletzte Lied dachte – ihr absoluter Favorit, den Katja ihr zahllose Male vorgespielt hatte!
"So, jetzt ist aber genug!", hatte ihre beste Freundin damals gesagt und die Hände in die Hüften gestemmt.
"Nein, bitte noch ein Mal!", bettelte Nia wie ein kleines Kind, das um eine weitere Gute Nacht Geschichte feilschte.
"Keine Chance, das Lied ist unglaublich anstrengend für mich."
"Anstrengend? Vom spielerischen her?", fragte das schwarzhaarige Mädchen.
"Das auch, aber vor allem ist es psychisch fordernd. Ich... Ich habe immer das Gefühl, dass ich meinem Zuhörer meine intimsten Gefühle offenbare... Man fühlt sich klein und verletzlich und... angreifbar, weil man sich von seiner schwächsten Seite zeigt.", sie lächelte traurig und schaute ins Leere.
Nia konnte den Worten Katjas nur beipflichten. Zwar hatte sie herzlich wenig Ahnung von der Musik, aber Tchaikovskys "None but the lonely Heart" war wie eine kunstvolle, einsame Schneeflocke – klein und zerbrechlich. Näherte man sich ihr, so verschwand der Zauber... Den Zuschauern erging es ähnlich wie Nia schon viele Male zuvor: Eine melancholische Stimmung legte sich über das Publikum und sie bekamen Gänsehaut. Es war wie ein magischer Bann.
Als Katja den letzten Bogenstrich vollendet hatte, dauerte es einige Sekunden, bis man begriff, dass das Konzert vorbei war. Der Applaus sprach Bände ob der Leistung der jungen Geigenspielerin: Begeisterte Pfiffe und Zugaberufe erfüllten die Sporthalle und Katja strahlte glücklich wie noch nie zuvor. Fröhlich drehte sie sich Richtung Nia und es war deutlich von ihren Lippen abzulesen: "Warte auf mich!" Die Angesprochene fand es beeindruckend, wie ihre beste Freundin sie so schnell ausgemacht hatte. Das musste wohl an ihrer Seelenverwandtschaft liegen. Nia nickte und applaudierte eifrig und voller Stolz. Sie gönnte ihr den Erfolg von ganzem Herzen!
Der große Raum leerte sich nach einiger Zeit, doch das Realschul-Trio blieb weiterhin sitzen.
"Es war so magisch!", brach es aus Nia hervor, die ganz vergessen hatte, dass sie neben ihrem Schwarm saß, bei dem sie sonst kaum einen Ton hervorbrachte. "Besonders beim letzten Lied bekomme ich immer wieder eine Gänsehaut! Ach, ich freu mich so, dass alles so wundervoll gelaufen ist! Katja ist eine großartige Geigenspielerin!"
Salvatore freute sich sichtlich über die von Nia angefangene Konversation und stütze seine Arme lässig auf die Knie. "Ja, es war wirklich sagenhaft! Ich bin froh, dass wir hergekommen sind, nicht wahr?" Mit diesen Worten wandte er sich an Miguel, der immer noch wie versteinert auf die Stelle starrte, an der Katja zuletzt gestanden war. Völlig aus den Gedanken gerissen murmelte er: "Ganz toll..."
Kaum hatte er das letzte Wort vollendet, linste Katja aus einer Tür hervor. Sie trug noch immer das strahlend gelbe Kleid, doch ihre Geige hatte sie an einen sicheren Ort gebracht.
"Nia!", rief Katja und stürmte auf sie zu. Ihre beste Freundin tat es ihr gleich. "Katja!" Die beiden Mädchen umarmten sich und lachten im Einklang. "Du warst absolut fantastisch! Hast du gemerkt, wie du uns alle verzaubert hast?" Salvatore und Miguel standen jetzt direkt neben den zwei. "Gratulation zu deinem mehr als gelungenen Auftritt!", sagte Nias Schwarm galant und Katja warf ihrer besten Freundin einen eindeutig zweideutigen Blick zu. Das schwarzhaarige Mädchen errötete bis in die Haarspitzen.
"Wow, ich habe die Ehre mit dem Schwarm aller Mädchen, Salvatore Zefalus zu sprechen?", lachte sie glockenhell und schaute wieder zu Nia, um sie zu necken. "Muss ich befürchten, dass ich morgen in der Gerüchteküche stehe und auseinander genommen werde, weil ich ein paar Worte mit dir gewechselt habe?"
Man merkte, dass dieses Thema dem Schulschwarm mehr als unangenehm war und er kratzte seine Nase. "Es tut mir leid, ich..."
"Mach dir keinen Kopf, war nur Spaß! Du bist wahrscheinlich der allerletzte, der das eigentlich will.", beschwichtigte ihn Katja lachend. "Und wen haben wir denn da noch? Ist das nicht unser Schulsprecher Miguel?"
Nia riss den Kopf herum. Schulsprecher?! Warum hatte sie das nicht gewusst? Oh du meine Güte, das war ja wohl mehr als peinlich, dass man den eigenen Schulsprecher nicht kannte!
"Stets zu Diensten!", murmelte er und hauchte Katja einen Kuss auf die Hand. Als sich ihre Augen trafen, schien für einen Augenblick die Zeit still zu stehen. Das Mädchen zog die Hand nicht weg und meinte: "Wenn das mal keine tolle Belohnung ist! Vielen Dank, du Gentleman!" Damit wandte sie sich wieder an Nia. "Die nächsten Tage werde ich noch Vorspiele bei verschiedenen Musikschulen innerhalb und außerhalb des Campus haben. Kannst du wieder die Arbeitsblätter für mich mitnehmen?"
Nias Herz sank. Sie hatte gehofft, dass die beiden Mal wieder bei Keksen und Kakao gemeinsam Mathe büffelten. Nicht, dass es dadurch ein schöneres Fach werden würde, aber gemeinsam stand man das viel leichter durch. "Aber klar, verlass dich auf mich!", versuchte Nia die gute Laune von Katja nachzuahmen, indem sie auch die Hände in die Hüfte stemmte. Das sah so unglaublich schlecht nachgeahmt aus, dass ihre beste Freundin lachen musste. Schnell ließ Nia davon ab und fügte noch hinzu: "Ich wünsche dir ganz viel Erfolg!"
Als Nia am nächsten Tag von dem durchdringenden Ton ihres Weckers aufgeschreckt wurde, konnte sie noch gar nicht begreifen, was gestern geschehen war. War sie tatsächlich mit Salvatore beim Konzert von Katja gewesen? Ihre Wangen wurden ganz heiß bei dem Gedanken. Veschämt kühlte sie ihre Backen mit ihren Händen. Er machte sie ja in der Schuluniform schon ganz nervös, aber mit Jacket...! Ihr Herz klopfte ganz wild, als sie an die ersten zaghaften Gespräche mit ihm dachte.
Selbst auf dem kurzen Schulweg durch die schattenspendende Eichenallee war sie noch ganz in Gedanken versunken. Als sie das Gebäude betrat, hörte sie "Da ist sie ja!". Verwundert und aufgeschreckt drehte sie sich in Richtung Stimme, aber das Mädchen drehte sich schnell weg. Von ihrer linken kam "Das die sich heute hertraut!". Nia blickte verwundert umher. Sprachen die über sie oder bildete sie sich das ein? Sie hatte keine Freunde und sie hatte auch nie das Gefühl, dass sie besonders wahrgenommen würde... Oftmals konnte sie froh sein, wenn der Lehrer sie nicht vergaß, wenn er die Klassenliste nicht dabei hatte.
~ * ~etwas verstört am schwarzen Brett vorbei – das Brett für diverse Klubs, Neuigkeiten oder Berichte. Und natürlich für das aktuellste Titelblatt der wöchtentlich erscheinenden Gerüchteküche, dem gefürchtetsten Blatt Papier nach den Abschlussprüfungen. Zumindest für die, die für schlechte Schlagzeilen sorgten und ausschließlich dafür lebte dieses Blatt. Nur Salvatore wurde immer in den Himmel gelobt und mit einem "My Week"-Special beglückt, in welchem er mit zahlreichen Fotos versehen seine vergangene Woche dokumentiert sah. Nicht, das er das wirklich wollen würde...Nia schlenderte etwas verstört am schwarzen Brett vorbei – das Brett für diverse Klubs, Neuigkeiten oder Berichte. Und natürlich für das aktuellste Titelblatt der wöchtentlich erscheinenden Gerüchteküche, dem gefürchtetsten Blatt Papier nach den Abschlussprüfungen. Zumindest für die, die für schlechte Schlagzeilen sorgten und ausschließlich dafür lebte dieses Blatt. Nur Salvatore wurde immer in den Himmel gelobt und mit einem "My Week"-Special beglückt, in welchem er mit zahlreichen Fotos versehen seine vergangene Woche dokumentiert sah. Nicht, das er das wirklich wollen würde...
Ebendiese Zeitschrift mit den federführenden Salvatorefanclub-Anführern Tonia, Anita und Tanja hing aus und Nia erstarrte das Blut in den Adern.
Auf der Titelseite war sie. Mit Salvatore. Beim gestrigen Konzert. Das Bild zeigte den kurzen Augenblick, in welchen die beiden miteinander geredet hatten und Nia aus sich herausgekommen war.
Die roten Letter der Schlagzeile prangerten Nia an.
"Nur das Beste vom Besten ist gut genug: Nia Toshiki veführt unantastbaren Schulschwarm Salvatore Zefalus!"