Kapitel 12: Krieger des Lichts
"Wo zur Hölle ist Tanja?", giftete die Brünette ihren Gegenüber an. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und einen vorwurfsvollen Blick aufgesetzt.
Der Angesprochene lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und gähnte herzhaft. "Chill mal, Tussi.", meinte Akuma gelassen und spuckte auf den Boden. Als könnte er etwas dafür, dass irgendjemand verschwunden ist! Er hatte ja nicht die leiseste Ahnung, wen sein Ruler überhaupt suchte. Wahrscheinlich die Dritte in diesem komischen Gerüchteküche-Trio. Könnte sogar sein, dass Tanja ihr Name war... Details, die Akuma nicht wirklich juckten.
Tonia wirbelte wütend herum. "Nenn mich nicht Tussi!", fauchte sie wie eine Katze, die zur Weißglut getrieben worden war.
"Oh, habe ich einen wunden Punkt getr-", setzte der Rebell belustigt grinsend an, doch wurde von einer Handbewegung seines Mitschülers unterbrochen.
"Hört auf zu streiten. So kommen wir des Rätsels Lösung auch nicht näher!", beschwichtigte er die beiden aufgebrachten Streithähne. Vorsichtig wischte er seinen hellbraunen, langen Pony aus dem Gesicht.
"Und du hör auf zu sprechen wie ein Heiliger! Mir wird schon ganz schlecht, wenn ich deine Visage nur sehe." Akuma verzog direkt das Gesicht bei diesen Worten. "Könnte direkt von einer Ikone stammen, pah. Geh zurück in deine Badewanne und löse das Rätsel des Königs mit der komischen Krone, Mister Isaac Newton!", knurrte der Rotschopf säuerlich.
Isaac blieb völlig ungerührt, als wäre er soeben gar nicht beleidigt worden. Geduldig antwortete er: "Den Versuch, den du da ansprichst... Der stammt von Archimedes. Wenn du dich schon über meinen Namen lustig machen willst, dann tu es wenigstens korrekt. Und mein Nachname ist auch nicht Newton, davon mal ganz abgesehen.", korrigierte Isaac ruhig und gelassen. Dabei seufzte er leise. Es tat ihm in der Seele weh, dass zwei herausragende Naturwissenschaftler, die gute 1800 Jahre auseinander lagen, so verwechselt wurden.
Tonia schnaubte verächtlich.
"Mein Gott, was hab ich im letzten Leben nur verbrochen, dass ich euch beide verdient habe...", flüsterte sie beinahe tonlos. Momentan war ihr einfach alles zu viel. Die neue Schule, Huans, Akuma und Isaac, die vermisste Tanja... Es kam ihr vor, als würde ihr die Situation aus der Hand gleiten. Dieses Gefühl machte ihr Angst. Hatte sie nicht sonst ihr Leben unter Kontrolle? War nicht sie die Chefin der Gerüchteküche, die immer genau wusste, was lief? Und plötzlich war sie ahnungslos. Ohne Tanja im Trio fühlte sie sich zudem noch unglaublich leer. Gedankenverloren zupfte sie an der Schleife der Schuluniform. Galle stieg Tonia hoch. Seit heute hatten sie die neuen Schleifen für ihre Uniform bekommen. Die Krawatten und Schleifen der Realschule waren rot, die auf der Erselik dagegen gelb. Es war ein giftiges, unheilverkündendes Gelb. Es stach direkt ins Auge. Tonia hasste es immer mehr, je öfter sie die Farbe ansah. Es klebte förmlich wie ein Geschwür an ihr, dass entfernt werden musste.
Ein Gelb, dass sie von Tanja trennte. Wo war Tanja? Unter all den neuen Schülern hier war sie nicht auffindbar. Damit lag die Antwort eigentlich auf der Hand:
Tanja, die dritte im Bunde des Gerüchteküchetrios, war weder Huan noch Ruler.
Aber diese Tatsache bekräftigte Tonia noch mehr in ihrem Vorhaben: Sie wollte raus hier. Raus aus dieser irren Schule und zurück zu ihrem alten, normalen Leben!
Gemeinsam mit Anita und Tanja, ihren besten Freundinnen.
~*~
Nia konnte ihren eigenen Ohren kaum trauen.
Sie hatte nicht eben wirklich... Lais zum Kampf herausgefordert, oder? Entsetzt schlug sie die Hände vor den Mund, aber es war zu spät. Die Worte waren unwiederbringlich ausgesprochen. Noch bevor Cedric lospoltern konnte, was dieser ausgekochte Blödsinn zu bedeuten hatte, antworte das pinkhaarige Mädchen eiskalt:
"Alles klar. Wir können gleich nach der Schule auf dem Trainigsplatz loslegen. Aber..." Sie drehte sich um und starrte Nia über die Schulter hinweg unbarmherzig an. "Es wird nach meinen Regeln gespielt."
Die Nackenhaare des schwarzhaarigen Mädchens sträubten sich.
Kaum war Lais aus dem Klassenzimmer verschwunden, stürzte sich Cedric förmlich auf Nia.
"Sag mal, biste total bescheuert?", fragte er sie mit unterdrückter Wut. Seine Kiefermuskulatur war sichtlich angespannt.
"Das würde mich auch interessieren, wenn ich ehrlich bin.", pflichtete Salvatore überraschend bei. Cedric runzelte die Stirn über diesen Zuspruch. Das war er eindeutig nicht gewohnt.
Nia war plötzlich ganz kleinlaut. Schamesröte stieg ihr ins Gesicht, als sie Salvatores Stimme vernahm. Wirklich darüber nachgedacht hatte sie nicht... Es war eher ein Impuls, dem sie gefolgt war. Oder sollte sie eher sagen: "innerer Zwang"? Nachdem sie am Anfang der Stunde ein Blickduell gegen Anita gewonnen hatte, hatte sich das schwarzhaarige Mädchen so stark gefühlt, dass... dass sie Lais einfach zum Kampf herausgefordert hatte!
Einfach so, weil Nia das Gefühl hatte, dass Lais fair kämpfen würde. Auch wenn ihre Abschiedsworte nicht gerade einladend und vertrauenserweckend geklungen hatten... Was waren das bitte für Regeln? Dem schwarzhaarigen Mädchen brach kalter Angstschweiß aus.
Nia nestelte an ihrem Rock herum und hatte den Blick auf den Boden geheftet. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Konnte sie das bitte wieder ungeschehen machen? Eine vernichtende Niederlage reichte ihr eigentlich erst einmal für die kommende Zeit!
Andererseits... Wenn sie sich ewig versteckte und davonlief, würde sie niemals stärker werden. Und wenn sie nicht stärker wurde, würde sie niemals diese Mobbingattacken stoppen können!
Sie holte tief Luft und schaute dann erst Cedric und anschließend Salvatore fest in die Augen. Ihre Ohren waren feuerrot, doch sie riss sich zusammen, nicht vor Nervosität zu stottern. Blickkontakt mit ihrem Schwarm war sie einfach nicht gewohnt.
"Ihr beide habt doch selbst gesagt, dass ich Kampferfahrung sammeln muss – und zwar so schnell wie möglich. Lais scheint mir eine faire und ehrliche Kämpferin zu sein, nachdem sie mir so aus der Patsche geholfen hat. Ich glaube, dass ich...
Nein. Ich glaube, dass wir sehr viel von ihr lernen können, wenn wir gegen sie antreten! Gemeinsam als Team!" Je länger das Mädchen darüber nachdachte, desto entschlossener wurde sie. Vielleicht war die Idee nicht ganz so dumm gewesen. Die beiden Jungs stutzten. Woher kam dieser plötzliche Kampfeswille in Nias Blick? Sonst war sie doch so ängstlich... Aber scheinbar hatte die gestrige Niederlage etwas in ihr verändert.
Sowohl Salvatore als auch Cedric war das mehr als recht.
"Das ist schön und gut...", seufzte der Frauenschwarm und rieb sich die Stirn. "Aber musste es unbedingt Lais sein? Hättest du nicht... irgendjemand anderen fragen können, den du vielleicht noch nicht kennst?"
Zu Nias Überraschung nickte Cedric eifrig. "Von allen Anwesenden hast du dir wirklich den Veteranen aller Ruler ausgesucht..."
Verwirrt runzelte Nia die Stirn. "Veteranen?", echote sie vorsichtig, als hätte sie sich verhört.
"Lais hat im Gegensatz zu dir ihre Huans schon vor Jahren erweckt. Wenn jemand wirklich Erfahrung im Kampf hat, dann sie. Unter den Huans ist sie sehr bekannt... Und natürlich unter den Rulern, die sie bereits schon einmal herausgefordert haben.", erklärte Salvatore mit einem schmallippigen Lächeln. Er wirkte sehr angespannt.
"Woher wisst ihr das?", fragte das Mädchen verwirrt, doch keiner der beiden Jungs reagierte.
Nia wurde von einem auf den anderen Moment schlecht.
~*~
Als Treffpunkt war der Trainingsplatz vorgesehen, den Nia gestern schon kennenlernen durfte. Inzwischen wollte das schwarzhaarige Mädchen sich nur noch in ihrem Bett verkriechen und alles ungeschehen machen. Oder am besten gleich aufgeben, bevor der Kampf überhaupt begonnen hatte. Noch eine weitere, vernichtende und demütigende Niederlage wie die Gestrige wollte sie nicht ertragen. Doch bevor Nia kehrt machen konnte, packte Cedric sie am Ellbogen und bugsierte sie Richtung Kampfort.
"Wer A sagt, muss auch B sagen können!", schimpfte er sie aus. "Entweder du stehst zu deinem Wort, oder..."
"Oder ich fliehe ganz einfach und komme mit heiler Haut davon!", wimmerte Nia angsterfüllt.
"Du hast ja selbst gesagt, dass Lais eine faire Kämpferin ist. Gib einfach dein Bestes. Wir sind ja bei dir und unterstützen dich. Du bist nicht allein.", beruhigte Salvatore das eingeschüchterte Mädchen und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
"Echt ey... Erst überrascht du uns mit deinem Mut, Lais herauszufordern und jetzt ziehst du den Schwanz ein. Kannst du dich auch mal entscheiden, was du willst?", meckerte Cedric vor sich hin. Nia legte ihre Stirn in Falten.
"I-ich möchte stärker werden, auch wenn es schwer wird...! Deshalb habe ich um diesen Kampf gebeten... Aber wirklich kämpfen möchte ich nicht! Und bekämpft werden schon drei mal nicht!", jammerte die junge Schülerin.
"Ich habe Neuigkeiten für dich.", holte Cedric säuerlich aus. "Das Leben ist kein Ponyhof. Und das hier schon hundertmal nicht! Gewöhn dich dran oder geh daran zugrunde."
Sowohl Cedrics als auch Salvatores Blick war ganz düster geworden.
In dem Moment sah Nia auch Lais. Seelenruhig blätterte sie in einem kleinen, bunten Büchlein. Es wirkte wie eines für Bastelanleitungen. Kaum nahm Nias Mitschülerin sie wahr, steckte sie es weg.
"Ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass du tatsächlich kommen würdest.", begrüßte Lais sie entwaffnend ehrlich. "Aber umso mehr freue ich mich, dass du dich dazu durchringen konntest. Auch wenn es scheinbar nicht ganz einfach war..."
Dabei warf sie Cedric und Salvatore einen bedeutungsschwangeren Blick zu. Es war allzu offensichtlich, dass sie Nia mehr oder weniger gewaltsam zum Trainingsplatz geschleift hatten.
"Ich hoffe das Gerede deiner Huans hat dich nicht allzu verschüchtert.", bohrte Lais mit ihren stechenden Augen nach. Nia schüttelte hochnervös den Kopf, sodass ihre Haare wie ein schwarzer Vorhang im Wind herumwirbelten. Die Mundwinkel ihrer Mitschülerin verzogen sich leicht. Nia war wirklich einfach zu durchschauen!
"Wie ich bereits angekündigt habe, spielen wir nach meinen Regeln.", holte die Rosahaarige aus und machte eine kurze Pause. "Diese lauten ganz einfach: Ich kämpfe ohne Huans, dafür aber mit drei Schlüsseln. Deine Huans dürfen allerdings keine einsetzen." Zur Bestätigung hielt sie drei kleine Schlüssel vor Nias Nase. Es waren zwei verrostete, kupferfarbene Schlüssel und ein kristallfarbener mit Rubinen besetzt. In Nias Kopf ratterte es. Waren die Schlüssel nicht umso gefährlicher, je wertvoller sie aussahen? Das würde ja bedeuten, dass dieser rubinbesetzte... ihr den Garaus machen könnte! Bevor das Mädchen etwas einwenden konnte, trat Lais einen Schritt zurück. "Auf geht's!"
Kaum waren die Worte ausgesprochen, schon verwandelte Nias Widersacherin den wertvollen Schlüssel. Die Schülerin hielt den Atem an, als...
"Ein... Ein Schild?", stieß Nia verdutzt aus. Warum um alles in der Welt ein Schild? Ein ganz normales... Schild? Wie wollte Lais damit bitteschön gewinnen? Das war ja wirklich lächerlich! Konnte man das überhaupt als fairen Kampf bezeichnen? Die andere Schülerin lächelte genüsslich. "Ja, es ist ein normales, rotes Wikingerschild."
Fast wollte Nia lachen. Wenn der wertvolle Schlüssel ein Schild war, dann hatte sie ja absolut gar nichts vor den verrosteten Angst hab-
Lais hatte mit voller Wucht ausgeholt und Nia mit dem Schild am Kopf getroffen.
"Nia!", schrie Cedric, der einen Schritt hinter ihr stand. Das schwarzhaarige Mädchen viel wie ein Stein zu Boden.
Der Blick der beiden Huans war auf Nia fixiert. Blitzschnell machte die kleine Gegnerin einen Sprung nach vorne. Das Schild hatte sie direkt vor sich. Mit ganzem Gewicht warf sie sich gegen Cedric.
Er verlor das Gleichgewicht. Der Blonde schlug hart auf dem Boden auf. Die Wucht und das Gewicht von Lais pressten die Luft aus seinen Lungen. Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang das pinkhaarige Mädchen auf. Mit ihrer Ferse trat sie Cedric in die Magengrube. Hörbar schnappte er nach Luft. Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht.
Nia rappelte sich auf. Ihr Blick war ganz verschwommen. Lag... Cedric auch am Boden...? Salvatore war gerade noch geistesgegenwärtig genug, eine Kampfpose einzunehmen. Doch Lais war erneut schneller. Mit einem gezielten Sprung hechtete sie hinter Nias Schwarm. Überrascht wirbelte er herum. Die Kämpferin kickte ihm in die Kniekehle. Es geschah so schnell. Er hatte noch nicht einmal den Boden berührt, schon presste Lais ihn mit dem Schild nieder. Gewaltsam wollte er sich wieder aufrichten. Er würde sich wohl nicht von einem dahergelaufenen Meter namens Lais---!
Noch bevor er den Satz zuende denken konnte, verpasste sie ihm eine Kopfnuss. Ein ersticktes Keuchen war zu hören.
Lais stand auf. "Der Punkt geht wohl an mich.", meinte sie kühl und wischte sich das Blut von der Stirn. Ihre Haut war aufgeplatzt, aber das schien sie nicht im geringsten zu stören.
Was war gerade geschehen?
Hatte Lais in weniger als einer Minute soeben einen Ruler mitsamt ihren Huans kalt gestellt?
Vollkommen benebelt versuchte Nia aufzustehen. Ihre Mitschülerin reichte ihr die Hand, die Nia dankbar entgegennahm. "Bereit für Runde zwei?", fragte die Pinkhaarige knapp. "Diesmal mit verwandelten Huans?" Nia traute ihren Ohren kaum. Eben gerade hatte sie eine unglaubliche Niederlage erfahren und wurde im gleichen Moment um eine Revance gebeten? Sie konnte durch den harten Schlag ja kaum klar denken!
Inzwischen waren ihre beiden Huans auch wieder auf den Beinen und standen direkt neben den Mädchen. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie nun viel mehr Respekt als zuvor hatten. Die gerade mal 1,57 Meter kleiine Schülerin war wirklich nicht zu unterschätzen! Zwar hatten sie zuvor schon von ihr gehört, aber... Binnen Sekunden förmlich niedergemäht zu werden? Damit hatten die Jungs wirklich nicht gerechnet.
"N-n-", setzte Nia an. Sie wollt wirklich nicht mehr kämpfen. Zwei Niederlagen in Folge waren eine Quote, die sie eigentlich nicht noch einmal erhöhen wollte. Zumindest nicht in absehbarer Zeit.
"Aus Niederlagen lernt man mehr als aus Siegen.", erklärte Lais mit fester Stimme und stechendem Blick, der sich in Nias' bohrte. Darin war eindeutig Kampfeswillen zu sehen. Kampfeswillen, der noch lange nicht befriedigt war. Nicht nach solch einem leicht errungenen Sieg!
Nia hatte sich noch nicht einmal mit Salvatore verbinden können. Es würde bestimmt anders aussehen, wenn sie gegen einen verwandelten Huan, einen Ruler und einen unverwandelten Huan kämpfen musste! Drei gegen einen... Das war doch einfach nicht schaffbar!
Mit diesem Funken Hoffnung nickte Nia. "Einverständen.", krächzte sie. Allmählich ließ das Schwindelgefühl nach.
Eine Art Lächeln huschte über Lais Gesicht. Es war nicht wirklich ein Lächeln... aber ihre Muskulatur war weniger angespannt und wirkte deutlich fröhlicher.
"Du sagst mir, wenn du bereit bist.", meinte sie und trat einige Schritte zurück. Weder Cedric noch Salvatore ließen sie auch nur eine Sekunde aus den Augen. Dieses Mal würden sie sich gewiss nicht so überumpeln lassen! Sie waren darauf vorbereitet!
Nia warf ihrem Schwarm einen Blick zu. Dieser nickte bekräftigend. Cedric schnaubte. War ja klar, dass sie sich mit Salvatore verbinden würde. Etwas anderes hatte er nicht erwartet.
"Salvatore, connect!", rief das schwarzhaarige Mädchen und erneut verwandelte sich ihr Mitschüler vor ihren Augen in einen Weißkopfseeadler. Sie bekam Gänsehaut. Knochen splitterten und knirschten, aus Poren schossen Federn heraus, aus seinem mittleren Wirbelsäulenbereich formte sich ein riesiger, platter Knochenkeil heraus. Binnen eines Wimpernschlags war auch dieser Bereich mit Federn bedeckt. Salvatores Kopf verformte sich und seine gelben Augen blickten sie entschlossen an. Ein ums andere Mal spürte Nia den Druck auf ihrer Brust. Es war ein beklemmendes Gefühl, dass ihr sämtliche Kraft zu rauben schien. Sie atmete kurz durch und fixierte dann Lais. "Wir wären soweit.", stieß das schwarzhaarige Mädchen kurzatmig, aber kampfesbereit hervor.
Diesmal kam Salvatore Lais zuvor. Mit einem lauten Schrei und ausgefahrenen Krallen flog er ihr entgegen. Doch das Mädchen blieb bis zum letzten Augenblick unberührt stehen. Erst in der letzten Sekunde riss sie den Schild nach oben. Die scharfen Krallen des Weißkopfseeadlers hinterließen tiefe Furchen. Ein wütender Schrei entfuhr dem Huan. Mit einem Flügelschlag wendete er, um einen weiteren Angriff zu starten.
Diesen Augenblick nutzte Cedric, um auf Lais zuzulaufen. Er setzte zum Sprung an. Mit seinem Körpergewicht wollte er das Mädchen unter sich begraben. Sie sah ihn ganz ruhig an.
Und duckte sich im allerletzten Augenblick.
In dem Moment griff Salvatore an. Mit seinen ausgefahrenen, spitzen Krallen verfehlte er Cedrics Kopf nur um haaresbreite. Dem blonden Hünen lief ein Schauer über dem Rücken. Einen Frontalangriff von Salvatore hätte er nicht glimpflich überstanden! Wütend hievte er sich hoch. Ein lauter Schlag hallte über den Trainingsplatz. Lais hatte Cedric mit dem Schild ins Genick geschlagen. Dem Schüler wurde schwarz vor Augen.
"Cedric!", rief Nia und lief auf ihn zu. Salvatore kreiste bedrohlich über Lais. Sein Schatten huschte unheilverkündend über den Boden. Mit einer einzigen Handbewegung schleuderte Lais ihr Schild wie eine Frisbee in Richtung Nia. Holz traf auf Rippen. Es knirschte und das schwarzhaarige Mädchen sackte wimmernd zu Boden. Ein blutiger Spuckefaden rann aus ihrem Mund. Hörbar röchelte sie nach Luft.
Wütend setzte der Weißkopfseeadler zum Sturzflug an. Lais riss die beiden rostigen Schlüssel in die Luft. Unter ihrem Tränenschleier konnte Nia fast nichts erkennen... War das eine... Dose?
Der Greifvogel stürtze auf das scheinbar hilflos ausgelieferte Mädchen zu. Es war ein kurzes, leises Zischen zu hören. Im nächsten Augenblick stand Salvatore in Flammen. Lais warf sich zu Boden, um der Attacke zu entgehen. Schmerzenschreie ertönten und hallten über den Platz. Salvatore landete unsanft und versuchte das Feuer zu löschen.
Nia schrie. Tränen rannen ihr die Wangen herunter.
Cedric lag bewusstlos am Boden. Salvatore brannte. Alles schmerzte. Was war passiert? Wie war sie hier hereingeraten?
Mit einem Ruck riss sich Lais den Blazer der Uniform vom Leib. "Beweg dich nicht!", keifte das Mädchen den Weißkopfseeadler an. Sofort verharrte Salvatore in seiner Bewegung. Mit grimmiger Entschlossenheit warf Lais das Kleidungsstück über ihn. Es roch nach verkohlten Haaren. Einige Federn kräuselten sich unter der Hitze und wurden schwarz. Sowohl die normale Federfläche als auch der Federkiel brannten. Manche schlugen Blasen in den Flammen.
Lais erstickte das Feuer. Ihre Gesichtsmuskulatur war angespannt und sie schwitzte stark. Doch sie schien alles unter Kontrolle zu haben.
"Verwandel ihn zurück!", befahl das Mädchen. Nia nickte schwach. "Salvatore, disconnect!"
Binnen eines Augenblicks hatte der Frauenschwarm wieder seine menschliche Gestalt zurück. Einzelne Stellen seiner Uniform waren komplett zerstört. Seine Haut war voller Ruß. Lais lief zu ihrer Umhängetasche, die unweit von ihr entfernt lag. Mit einem Ruck entleerte sie den gesamten Inhalt neben Salvatore und schnappte sich ihre Wasserflasche und Taschentücher. Blitzschnell tränkte sie es damit.
"Salvatore, wie fühlst du dich?", fragte sie in einem sanften, aber geschäftsmäßigen Ton. "Hast du irgendwo besonders große Schmerzen?"
Der Frauenschwarm hustete. "Ganz OK. Stirn...", brachte er bruchstückhaft heraus.
Behutsam aber mit geübten Handgriffen wischte Lais seine Stirn mit dem Taschentuch ab. Eine kleinere, verbrannte Stelle kam zum Vorschein. "Erzähl ruhig weiter und schau mir dabei in die Augen.", dirigierte Lais ihn und wickelte ihren Mitschüler in die Jacke. Er durfte nach dem Schock nicht zu schnell auskühlen. "Es ist nur eine kleine Brandblase auf der Stirn.", beruhigte Lais ihn. "Ah ja", krächzte der Schüler noch benommen. Mit diesen Worten schmierte sie ihm Brandsalbe auf die Stirn. Vorsichtig krempelte das Mädchen seinen Ärmel nach oben. Leichte Rötung der Haut, aber keine Verbrennung ersten Grades. Lais seufzte erleichtert. "Schmier dich später mit Feuchtigkeitscreme ein. Falls es nicht besser wird oder du stärkere Verbrennungen entdeckst, kannst du dich mit deinem Busshitsu heilen." Lais machte eine kurze Pause. "Bitte bleib so liegen und entspann dich. Dir passiert nichts mehr, das verspreche ich dir."
Mit diesen Worten ging sie zu Cedric, den sie in die stabile Seitenlage brachte. Vorsichtig betrachtete sie sein Genick und ließ etwas Wasser den Nacken hinunter laufen.
"Was soll... die Scheiße?", knurrte Cedric benommen und öffnete langsam die Augen. Lais legte ihm ein wasserdurchtränktes Tuch in den Nacken und ein Weiteres auf die Stirn. "Wie fühlst du dich?", erkundigte sie sich vorsichtig.
"Pfff... Wie man sich halt so fühlt, wenn man fast von einem Schild enthauptet wird!", keifte der Blonde säuerlich.
"Oho? Stand vorhin nicht in Leuchtbuchstaben auf deiner Stirn, dass 'dieser laufende Meter mit seinem lächerlichen Schild dir nichts anhaben'?", konterte Lais und griff nach einer Dose. Cedric schnaubte verächtlich. "Was ist das?"
"Kältespray, um dein Schmerzempfinden vorübergehend auszuschalten oder zumindest zu mindern.", mit diesen Worten sprühte sie das Spray direkt auf seinen Hals. "Woah ist das scheißkalt!", fluchte er lauthals und Lais meinte trocken: "Der Name kommt nicht von ungefähr!"
Nun begab sich das Mädchen endlich zu Nia. "Tut es sehr weh?", fragte sie bekümmert und rückte Nias Hand mit sanfter Gewalt beiseite, um sich den Bauch näher anzusehen. "Es... geht...", keuchte die Angesprochene und wehrte sich nicht, als Lais ihre Uniform nach oben zog, um die Wunde genauer anzusehen. "Lass das später auf alle Fälle von deinen Huans heilen. Es sieht nach einer schwachen Prellung aus...", analysierte Lais, während sie nebenbei das Eisspray schüttelte. "Nicht erschrecken..." Nia zuckte zusammen, als sie die klirrend kalte Flüssigkeit auf ihrer Haut spürte, doch der Schmerz schwand sofort. "Meinem Kopf geht es gut.", beschwichtigte das lädierte Mädchen, um einer weiteren Behandlung zu entgehen.
Lais stand auf.
"Das ist mein zweiter Sieg.", setzte sie an. Das Trio biss sich auf die Unterlippe. Obwohl sie zu dritt waren... Obwohl Salvatore sich verwandelte hatte... hatten sie gegen Lais mit drei Schlüsseln verloren. Ein Schild, Haarspray und Feuerzeug. Es war wirklich lachhaft, aber bittere, peinliche Realität.
"Ich hoffe, dass du begreifst, worum es hier eigentlich geht, Nia Toshiki." Die Angesprochene horchte auf.
"Du magst zwar die mächtigsten Huans haben, aber in deinen Händen sind sie nichts weiter als Spielzeug."
"Wenn du nicht schnell lernst, mit deinen Huans umzugehen...
Dann wird niemand für deine Sicherheit garantieren können."
Der Angesprochene lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und gähnte herzhaft. "Chill mal, Tussi.", meinte Akuma gelassen und spuckte auf den Boden. Als könnte er etwas dafür, dass irgendjemand verschwunden ist! Er hatte ja nicht die leiseste Ahnung, wen sein Ruler überhaupt suchte. Wahrscheinlich die Dritte in diesem komischen Gerüchteküche-Trio. Könnte sogar sein, dass Tanja ihr Name war... Details, die Akuma nicht wirklich juckten.
Tonia wirbelte wütend herum. "Nenn mich nicht Tussi!", fauchte sie wie eine Katze, die zur Weißglut getrieben worden war.
"Oh, habe ich einen wunden Punkt getr-", setzte der Rebell belustigt grinsend an, doch wurde von einer Handbewegung seines Mitschülers unterbrochen.
"Hört auf zu streiten. So kommen wir des Rätsels Lösung auch nicht näher!", beschwichtigte er die beiden aufgebrachten Streithähne. Vorsichtig wischte er seinen hellbraunen, langen Pony aus dem Gesicht.
"Und du hör auf zu sprechen wie ein Heiliger! Mir wird schon ganz schlecht, wenn ich deine Visage nur sehe." Akuma verzog direkt das Gesicht bei diesen Worten. "Könnte direkt von einer Ikone stammen, pah. Geh zurück in deine Badewanne und löse das Rätsel des Königs mit der komischen Krone, Mister Isaac Newton!", knurrte der Rotschopf säuerlich.
Isaac blieb völlig ungerührt, als wäre er soeben gar nicht beleidigt worden. Geduldig antwortete er: "Den Versuch, den du da ansprichst... Der stammt von Archimedes. Wenn du dich schon über meinen Namen lustig machen willst, dann tu es wenigstens korrekt. Und mein Nachname ist auch nicht Newton, davon mal ganz abgesehen.", korrigierte Isaac ruhig und gelassen. Dabei seufzte er leise. Es tat ihm in der Seele weh, dass zwei herausragende Naturwissenschaftler, die gute 1800 Jahre auseinander lagen, so verwechselt wurden.
Tonia schnaubte verächtlich.
"Mein Gott, was hab ich im letzten Leben nur verbrochen, dass ich euch beide verdient habe...", flüsterte sie beinahe tonlos. Momentan war ihr einfach alles zu viel. Die neue Schule, Huans, Akuma und Isaac, die vermisste Tanja... Es kam ihr vor, als würde ihr die Situation aus der Hand gleiten. Dieses Gefühl machte ihr Angst. Hatte sie nicht sonst ihr Leben unter Kontrolle? War nicht sie die Chefin der Gerüchteküche, die immer genau wusste, was lief? Und plötzlich war sie ahnungslos. Ohne Tanja im Trio fühlte sie sich zudem noch unglaublich leer. Gedankenverloren zupfte sie an der Schleife der Schuluniform. Galle stieg Tonia hoch. Seit heute hatten sie die neuen Schleifen für ihre Uniform bekommen. Die Krawatten und Schleifen der Realschule waren rot, die auf der Erselik dagegen gelb. Es war ein giftiges, unheilverkündendes Gelb. Es stach direkt ins Auge. Tonia hasste es immer mehr, je öfter sie die Farbe ansah. Es klebte förmlich wie ein Geschwür an ihr, dass entfernt werden musste.
Ein Gelb, dass sie von Tanja trennte. Wo war Tanja? Unter all den neuen Schülern hier war sie nicht auffindbar. Damit lag die Antwort eigentlich auf der Hand:
Tanja, die dritte im Bunde des Gerüchteküchetrios, war weder Huan noch Ruler.
Aber diese Tatsache bekräftigte Tonia noch mehr in ihrem Vorhaben: Sie wollte raus hier. Raus aus dieser irren Schule und zurück zu ihrem alten, normalen Leben!
Gemeinsam mit Anita und Tanja, ihren besten Freundinnen.
~*~
Nia konnte ihren eigenen Ohren kaum trauen.
Sie hatte nicht eben wirklich... Lais zum Kampf herausgefordert, oder? Entsetzt schlug sie die Hände vor den Mund, aber es war zu spät. Die Worte waren unwiederbringlich ausgesprochen. Noch bevor Cedric lospoltern konnte, was dieser ausgekochte Blödsinn zu bedeuten hatte, antworte das pinkhaarige Mädchen eiskalt:
"Alles klar. Wir können gleich nach der Schule auf dem Trainigsplatz loslegen. Aber..." Sie drehte sich um und starrte Nia über die Schulter hinweg unbarmherzig an. "Es wird nach meinen Regeln gespielt."
Die Nackenhaare des schwarzhaarigen Mädchens sträubten sich.
Kaum war Lais aus dem Klassenzimmer verschwunden, stürzte sich Cedric förmlich auf Nia.
"Sag mal, biste total bescheuert?", fragte er sie mit unterdrückter Wut. Seine Kiefermuskulatur war sichtlich angespannt.
"Das würde mich auch interessieren, wenn ich ehrlich bin.", pflichtete Salvatore überraschend bei. Cedric runzelte die Stirn über diesen Zuspruch. Das war er eindeutig nicht gewohnt.
Nia war plötzlich ganz kleinlaut. Schamesröte stieg ihr ins Gesicht, als sie Salvatores Stimme vernahm. Wirklich darüber nachgedacht hatte sie nicht... Es war eher ein Impuls, dem sie gefolgt war. Oder sollte sie eher sagen: "innerer Zwang"? Nachdem sie am Anfang der Stunde ein Blickduell gegen Anita gewonnen hatte, hatte sich das schwarzhaarige Mädchen so stark gefühlt, dass... dass sie Lais einfach zum Kampf herausgefordert hatte!
Einfach so, weil Nia das Gefühl hatte, dass Lais fair kämpfen würde. Auch wenn ihre Abschiedsworte nicht gerade einladend und vertrauenserweckend geklungen hatten... Was waren das bitte für Regeln? Dem schwarzhaarigen Mädchen brach kalter Angstschweiß aus.
Nia nestelte an ihrem Rock herum und hatte den Blick auf den Boden geheftet. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Konnte sie das bitte wieder ungeschehen machen? Eine vernichtende Niederlage reichte ihr eigentlich erst einmal für die kommende Zeit!
Andererseits... Wenn sie sich ewig versteckte und davonlief, würde sie niemals stärker werden. Und wenn sie nicht stärker wurde, würde sie niemals diese Mobbingattacken stoppen können!
Sie holte tief Luft und schaute dann erst Cedric und anschließend Salvatore fest in die Augen. Ihre Ohren waren feuerrot, doch sie riss sich zusammen, nicht vor Nervosität zu stottern. Blickkontakt mit ihrem Schwarm war sie einfach nicht gewohnt.
"Ihr beide habt doch selbst gesagt, dass ich Kampferfahrung sammeln muss – und zwar so schnell wie möglich. Lais scheint mir eine faire und ehrliche Kämpferin zu sein, nachdem sie mir so aus der Patsche geholfen hat. Ich glaube, dass ich...
Nein. Ich glaube, dass wir sehr viel von ihr lernen können, wenn wir gegen sie antreten! Gemeinsam als Team!" Je länger das Mädchen darüber nachdachte, desto entschlossener wurde sie. Vielleicht war die Idee nicht ganz so dumm gewesen. Die beiden Jungs stutzten. Woher kam dieser plötzliche Kampfeswille in Nias Blick? Sonst war sie doch so ängstlich... Aber scheinbar hatte die gestrige Niederlage etwas in ihr verändert.
Sowohl Salvatore als auch Cedric war das mehr als recht.
"Das ist schön und gut...", seufzte der Frauenschwarm und rieb sich die Stirn. "Aber musste es unbedingt Lais sein? Hättest du nicht... irgendjemand anderen fragen können, den du vielleicht noch nicht kennst?"
Zu Nias Überraschung nickte Cedric eifrig. "Von allen Anwesenden hast du dir wirklich den Veteranen aller Ruler ausgesucht..."
Verwirrt runzelte Nia die Stirn. "Veteranen?", echote sie vorsichtig, als hätte sie sich verhört.
"Lais hat im Gegensatz zu dir ihre Huans schon vor Jahren erweckt. Wenn jemand wirklich Erfahrung im Kampf hat, dann sie. Unter den Huans ist sie sehr bekannt... Und natürlich unter den Rulern, die sie bereits schon einmal herausgefordert haben.", erklärte Salvatore mit einem schmallippigen Lächeln. Er wirkte sehr angespannt.
"Woher wisst ihr das?", fragte das Mädchen verwirrt, doch keiner der beiden Jungs reagierte.
Nia wurde von einem auf den anderen Moment schlecht.
~*~
Als Treffpunkt war der Trainingsplatz vorgesehen, den Nia gestern schon kennenlernen durfte. Inzwischen wollte das schwarzhaarige Mädchen sich nur noch in ihrem Bett verkriechen und alles ungeschehen machen. Oder am besten gleich aufgeben, bevor der Kampf überhaupt begonnen hatte. Noch eine weitere, vernichtende und demütigende Niederlage wie die Gestrige wollte sie nicht ertragen. Doch bevor Nia kehrt machen konnte, packte Cedric sie am Ellbogen und bugsierte sie Richtung Kampfort.
"Wer A sagt, muss auch B sagen können!", schimpfte er sie aus. "Entweder du stehst zu deinem Wort, oder..."
"Oder ich fliehe ganz einfach und komme mit heiler Haut davon!", wimmerte Nia angsterfüllt.
"Du hast ja selbst gesagt, dass Lais eine faire Kämpferin ist. Gib einfach dein Bestes. Wir sind ja bei dir und unterstützen dich. Du bist nicht allein.", beruhigte Salvatore das eingeschüchterte Mädchen und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
"Echt ey... Erst überrascht du uns mit deinem Mut, Lais herauszufordern und jetzt ziehst du den Schwanz ein. Kannst du dich auch mal entscheiden, was du willst?", meckerte Cedric vor sich hin. Nia legte ihre Stirn in Falten.
"I-ich möchte stärker werden, auch wenn es schwer wird...! Deshalb habe ich um diesen Kampf gebeten... Aber wirklich kämpfen möchte ich nicht! Und bekämpft werden schon drei mal nicht!", jammerte die junge Schülerin.
"Ich habe Neuigkeiten für dich.", holte Cedric säuerlich aus. "Das Leben ist kein Ponyhof. Und das hier schon hundertmal nicht! Gewöhn dich dran oder geh daran zugrunde."
Sowohl Cedrics als auch Salvatores Blick war ganz düster geworden.
In dem Moment sah Nia auch Lais. Seelenruhig blätterte sie in einem kleinen, bunten Büchlein. Es wirkte wie eines für Bastelanleitungen. Kaum nahm Nias Mitschülerin sie wahr, steckte sie es weg.
"Ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass du tatsächlich kommen würdest.", begrüßte Lais sie entwaffnend ehrlich. "Aber umso mehr freue ich mich, dass du dich dazu durchringen konntest. Auch wenn es scheinbar nicht ganz einfach war..."
Dabei warf sie Cedric und Salvatore einen bedeutungsschwangeren Blick zu. Es war allzu offensichtlich, dass sie Nia mehr oder weniger gewaltsam zum Trainingsplatz geschleift hatten.
"Ich hoffe das Gerede deiner Huans hat dich nicht allzu verschüchtert.", bohrte Lais mit ihren stechenden Augen nach. Nia schüttelte hochnervös den Kopf, sodass ihre Haare wie ein schwarzer Vorhang im Wind herumwirbelten. Die Mundwinkel ihrer Mitschülerin verzogen sich leicht. Nia war wirklich einfach zu durchschauen!
"Wie ich bereits angekündigt habe, spielen wir nach meinen Regeln.", holte die Rosahaarige aus und machte eine kurze Pause. "Diese lauten ganz einfach: Ich kämpfe ohne Huans, dafür aber mit drei Schlüsseln. Deine Huans dürfen allerdings keine einsetzen." Zur Bestätigung hielt sie drei kleine Schlüssel vor Nias Nase. Es waren zwei verrostete, kupferfarbene Schlüssel und ein kristallfarbener mit Rubinen besetzt. In Nias Kopf ratterte es. Waren die Schlüssel nicht umso gefährlicher, je wertvoller sie aussahen? Das würde ja bedeuten, dass dieser rubinbesetzte... ihr den Garaus machen könnte! Bevor das Mädchen etwas einwenden konnte, trat Lais einen Schritt zurück. "Auf geht's!"
Kaum waren die Worte ausgesprochen, schon verwandelte Nias Widersacherin den wertvollen Schlüssel. Die Schülerin hielt den Atem an, als...
"Ein... Ein Schild?", stieß Nia verdutzt aus. Warum um alles in der Welt ein Schild? Ein ganz normales... Schild? Wie wollte Lais damit bitteschön gewinnen? Das war ja wirklich lächerlich! Konnte man das überhaupt als fairen Kampf bezeichnen? Die andere Schülerin lächelte genüsslich. "Ja, es ist ein normales, rotes Wikingerschild."
Fast wollte Nia lachen. Wenn der wertvolle Schlüssel ein Schild war, dann hatte sie ja absolut gar nichts vor den verrosteten Angst hab-
Lais hatte mit voller Wucht ausgeholt und Nia mit dem Schild am Kopf getroffen.
"Nia!", schrie Cedric, der einen Schritt hinter ihr stand. Das schwarzhaarige Mädchen viel wie ein Stein zu Boden.
Der Blick der beiden Huans war auf Nia fixiert. Blitzschnell machte die kleine Gegnerin einen Sprung nach vorne. Das Schild hatte sie direkt vor sich. Mit ganzem Gewicht warf sie sich gegen Cedric.
Er verlor das Gleichgewicht. Der Blonde schlug hart auf dem Boden auf. Die Wucht und das Gewicht von Lais pressten die Luft aus seinen Lungen. Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang das pinkhaarige Mädchen auf. Mit ihrer Ferse trat sie Cedric in die Magengrube. Hörbar schnappte er nach Luft. Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht.
Nia rappelte sich auf. Ihr Blick war ganz verschwommen. Lag... Cedric auch am Boden...? Salvatore war gerade noch geistesgegenwärtig genug, eine Kampfpose einzunehmen. Doch Lais war erneut schneller. Mit einem gezielten Sprung hechtete sie hinter Nias Schwarm. Überrascht wirbelte er herum. Die Kämpferin kickte ihm in die Kniekehle. Es geschah so schnell. Er hatte noch nicht einmal den Boden berührt, schon presste Lais ihn mit dem Schild nieder. Gewaltsam wollte er sich wieder aufrichten. Er würde sich wohl nicht von einem dahergelaufenen Meter namens Lais---!
Noch bevor er den Satz zuende denken konnte, verpasste sie ihm eine Kopfnuss. Ein ersticktes Keuchen war zu hören.
Lais stand auf. "Der Punkt geht wohl an mich.", meinte sie kühl und wischte sich das Blut von der Stirn. Ihre Haut war aufgeplatzt, aber das schien sie nicht im geringsten zu stören.
Was war gerade geschehen?
Hatte Lais in weniger als einer Minute soeben einen Ruler mitsamt ihren Huans kalt gestellt?
Vollkommen benebelt versuchte Nia aufzustehen. Ihre Mitschülerin reichte ihr die Hand, die Nia dankbar entgegennahm. "Bereit für Runde zwei?", fragte die Pinkhaarige knapp. "Diesmal mit verwandelten Huans?" Nia traute ihren Ohren kaum. Eben gerade hatte sie eine unglaubliche Niederlage erfahren und wurde im gleichen Moment um eine Revance gebeten? Sie konnte durch den harten Schlag ja kaum klar denken!
Inzwischen waren ihre beiden Huans auch wieder auf den Beinen und standen direkt neben den Mädchen. Es war ihnen deutlich anzusehen, dass sie nun viel mehr Respekt als zuvor hatten. Die gerade mal 1,57 Meter kleiine Schülerin war wirklich nicht zu unterschätzen! Zwar hatten sie zuvor schon von ihr gehört, aber... Binnen Sekunden förmlich niedergemäht zu werden? Damit hatten die Jungs wirklich nicht gerechnet.
"N-n-", setzte Nia an. Sie wollt wirklich nicht mehr kämpfen. Zwei Niederlagen in Folge waren eine Quote, die sie eigentlich nicht noch einmal erhöhen wollte. Zumindest nicht in absehbarer Zeit.
"Aus Niederlagen lernt man mehr als aus Siegen.", erklärte Lais mit fester Stimme und stechendem Blick, der sich in Nias' bohrte. Darin war eindeutig Kampfeswillen zu sehen. Kampfeswillen, der noch lange nicht befriedigt war. Nicht nach solch einem leicht errungenen Sieg!
Nia hatte sich noch nicht einmal mit Salvatore verbinden können. Es würde bestimmt anders aussehen, wenn sie gegen einen verwandelten Huan, einen Ruler und einen unverwandelten Huan kämpfen musste! Drei gegen einen... Das war doch einfach nicht schaffbar!
Mit diesem Funken Hoffnung nickte Nia. "Einverständen.", krächzte sie. Allmählich ließ das Schwindelgefühl nach.
Eine Art Lächeln huschte über Lais Gesicht. Es war nicht wirklich ein Lächeln... aber ihre Muskulatur war weniger angespannt und wirkte deutlich fröhlicher.
"Du sagst mir, wenn du bereit bist.", meinte sie und trat einige Schritte zurück. Weder Cedric noch Salvatore ließen sie auch nur eine Sekunde aus den Augen. Dieses Mal würden sie sich gewiss nicht so überumpeln lassen! Sie waren darauf vorbereitet!
Nia warf ihrem Schwarm einen Blick zu. Dieser nickte bekräftigend. Cedric schnaubte. War ja klar, dass sie sich mit Salvatore verbinden würde. Etwas anderes hatte er nicht erwartet.
"Salvatore, connect!", rief das schwarzhaarige Mädchen und erneut verwandelte sich ihr Mitschüler vor ihren Augen in einen Weißkopfseeadler. Sie bekam Gänsehaut. Knochen splitterten und knirschten, aus Poren schossen Federn heraus, aus seinem mittleren Wirbelsäulenbereich formte sich ein riesiger, platter Knochenkeil heraus. Binnen eines Wimpernschlags war auch dieser Bereich mit Federn bedeckt. Salvatores Kopf verformte sich und seine gelben Augen blickten sie entschlossen an. Ein ums andere Mal spürte Nia den Druck auf ihrer Brust. Es war ein beklemmendes Gefühl, dass ihr sämtliche Kraft zu rauben schien. Sie atmete kurz durch und fixierte dann Lais. "Wir wären soweit.", stieß das schwarzhaarige Mädchen kurzatmig, aber kampfesbereit hervor.
Diesmal kam Salvatore Lais zuvor. Mit einem lauten Schrei und ausgefahrenen Krallen flog er ihr entgegen. Doch das Mädchen blieb bis zum letzten Augenblick unberührt stehen. Erst in der letzten Sekunde riss sie den Schild nach oben. Die scharfen Krallen des Weißkopfseeadlers hinterließen tiefe Furchen. Ein wütender Schrei entfuhr dem Huan. Mit einem Flügelschlag wendete er, um einen weiteren Angriff zu starten.
Diesen Augenblick nutzte Cedric, um auf Lais zuzulaufen. Er setzte zum Sprung an. Mit seinem Körpergewicht wollte er das Mädchen unter sich begraben. Sie sah ihn ganz ruhig an.
Und duckte sich im allerletzten Augenblick.
In dem Moment griff Salvatore an. Mit seinen ausgefahrenen, spitzen Krallen verfehlte er Cedrics Kopf nur um haaresbreite. Dem blonden Hünen lief ein Schauer über dem Rücken. Einen Frontalangriff von Salvatore hätte er nicht glimpflich überstanden! Wütend hievte er sich hoch. Ein lauter Schlag hallte über den Trainingsplatz. Lais hatte Cedric mit dem Schild ins Genick geschlagen. Dem Schüler wurde schwarz vor Augen.
"Cedric!", rief Nia und lief auf ihn zu. Salvatore kreiste bedrohlich über Lais. Sein Schatten huschte unheilverkündend über den Boden. Mit einer einzigen Handbewegung schleuderte Lais ihr Schild wie eine Frisbee in Richtung Nia. Holz traf auf Rippen. Es knirschte und das schwarzhaarige Mädchen sackte wimmernd zu Boden. Ein blutiger Spuckefaden rann aus ihrem Mund. Hörbar röchelte sie nach Luft.
Wütend setzte der Weißkopfseeadler zum Sturzflug an. Lais riss die beiden rostigen Schlüssel in die Luft. Unter ihrem Tränenschleier konnte Nia fast nichts erkennen... War das eine... Dose?
Der Greifvogel stürtze auf das scheinbar hilflos ausgelieferte Mädchen zu. Es war ein kurzes, leises Zischen zu hören. Im nächsten Augenblick stand Salvatore in Flammen. Lais warf sich zu Boden, um der Attacke zu entgehen. Schmerzenschreie ertönten und hallten über den Platz. Salvatore landete unsanft und versuchte das Feuer zu löschen.
Nia schrie. Tränen rannen ihr die Wangen herunter.
Cedric lag bewusstlos am Boden. Salvatore brannte. Alles schmerzte. Was war passiert? Wie war sie hier hereingeraten?
Mit einem Ruck riss sich Lais den Blazer der Uniform vom Leib. "Beweg dich nicht!", keifte das Mädchen den Weißkopfseeadler an. Sofort verharrte Salvatore in seiner Bewegung. Mit grimmiger Entschlossenheit warf Lais das Kleidungsstück über ihn. Es roch nach verkohlten Haaren. Einige Federn kräuselten sich unter der Hitze und wurden schwarz. Sowohl die normale Federfläche als auch der Federkiel brannten. Manche schlugen Blasen in den Flammen.
Lais erstickte das Feuer. Ihre Gesichtsmuskulatur war angespannt und sie schwitzte stark. Doch sie schien alles unter Kontrolle zu haben.
"Verwandel ihn zurück!", befahl das Mädchen. Nia nickte schwach. "Salvatore, disconnect!"
Binnen eines Augenblicks hatte der Frauenschwarm wieder seine menschliche Gestalt zurück. Einzelne Stellen seiner Uniform waren komplett zerstört. Seine Haut war voller Ruß. Lais lief zu ihrer Umhängetasche, die unweit von ihr entfernt lag. Mit einem Ruck entleerte sie den gesamten Inhalt neben Salvatore und schnappte sich ihre Wasserflasche und Taschentücher. Blitzschnell tränkte sie es damit.
"Salvatore, wie fühlst du dich?", fragte sie in einem sanften, aber geschäftsmäßigen Ton. "Hast du irgendwo besonders große Schmerzen?"
Der Frauenschwarm hustete. "Ganz OK. Stirn...", brachte er bruchstückhaft heraus.
Behutsam aber mit geübten Handgriffen wischte Lais seine Stirn mit dem Taschentuch ab. Eine kleinere, verbrannte Stelle kam zum Vorschein. "Erzähl ruhig weiter und schau mir dabei in die Augen.", dirigierte Lais ihn und wickelte ihren Mitschüler in die Jacke. Er durfte nach dem Schock nicht zu schnell auskühlen. "Es ist nur eine kleine Brandblase auf der Stirn.", beruhigte Lais ihn. "Ah ja", krächzte der Schüler noch benommen. Mit diesen Worten schmierte sie ihm Brandsalbe auf die Stirn. Vorsichtig krempelte das Mädchen seinen Ärmel nach oben. Leichte Rötung der Haut, aber keine Verbrennung ersten Grades. Lais seufzte erleichtert. "Schmier dich später mit Feuchtigkeitscreme ein. Falls es nicht besser wird oder du stärkere Verbrennungen entdeckst, kannst du dich mit deinem Busshitsu heilen." Lais machte eine kurze Pause. "Bitte bleib so liegen und entspann dich. Dir passiert nichts mehr, das verspreche ich dir."
Mit diesen Worten ging sie zu Cedric, den sie in die stabile Seitenlage brachte. Vorsichtig betrachtete sie sein Genick und ließ etwas Wasser den Nacken hinunter laufen.
"Was soll... die Scheiße?", knurrte Cedric benommen und öffnete langsam die Augen. Lais legte ihm ein wasserdurchtränktes Tuch in den Nacken und ein Weiteres auf die Stirn. "Wie fühlst du dich?", erkundigte sie sich vorsichtig.
"Pfff... Wie man sich halt so fühlt, wenn man fast von einem Schild enthauptet wird!", keifte der Blonde säuerlich.
"Oho? Stand vorhin nicht in Leuchtbuchstaben auf deiner Stirn, dass 'dieser laufende Meter mit seinem lächerlichen Schild dir nichts anhaben'?", konterte Lais und griff nach einer Dose. Cedric schnaubte verächtlich. "Was ist das?"
"Kältespray, um dein Schmerzempfinden vorübergehend auszuschalten oder zumindest zu mindern.", mit diesen Worten sprühte sie das Spray direkt auf seinen Hals. "Woah ist das scheißkalt!", fluchte er lauthals und Lais meinte trocken: "Der Name kommt nicht von ungefähr!"
Nun begab sich das Mädchen endlich zu Nia. "Tut es sehr weh?", fragte sie bekümmert und rückte Nias Hand mit sanfter Gewalt beiseite, um sich den Bauch näher anzusehen. "Es... geht...", keuchte die Angesprochene und wehrte sich nicht, als Lais ihre Uniform nach oben zog, um die Wunde genauer anzusehen. "Lass das später auf alle Fälle von deinen Huans heilen. Es sieht nach einer schwachen Prellung aus...", analysierte Lais, während sie nebenbei das Eisspray schüttelte. "Nicht erschrecken..." Nia zuckte zusammen, als sie die klirrend kalte Flüssigkeit auf ihrer Haut spürte, doch der Schmerz schwand sofort. "Meinem Kopf geht es gut.", beschwichtigte das lädierte Mädchen, um einer weiteren Behandlung zu entgehen.
Lais stand auf.
"Das ist mein zweiter Sieg.", setzte sie an. Das Trio biss sich auf die Unterlippe. Obwohl sie zu dritt waren... Obwohl Salvatore sich verwandelte hatte... hatten sie gegen Lais mit drei Schlüsseln verloren. Ein Schild, Haarspray und Feuerzeug. Es war wirklich lachhaft, aber bittere, peinliche Realität.
"Ich hoffe, dass du begreifst, worum es hier eigentlich geht, Nia Toshiki." Die Angesprochene horchte auf.
"Du magst zwar die mächtigsten Huans haben, aber in deinen Händen sind sie nichts weiter als Spielzeug."
"Wenn du nicht schnell lernst, mit deinen Huans umzugehen...
Dann wird niemand für deine Sicherheit garantieren können."