Kapitel 4: Der Hoffnung unter die Arme greifen
Förmlich seelenlos saß Nia in ihrem Bett und starrte einen undefinierbaren Punkt in der Luft an. Ihre Augen wirkten verquollen und ihre sonst so einwandfreien Haare standen stumpf und ungepflegt in alle Richtungen ab. Alle paar Sekunden entfleuchte dem jungen Mädchen ein steinerweichender Seufzer.
Die letzten beiden Tage waren die reinste Achterbahnfahrt gewesen. Erst himmelhochjauchzend und danach zutode betrübt. Im Grunde ihres Herzens hatte sie keinen Bedarf herauszufinden, wie der heutige Tag werden würde. Nia schämte sich so sehr dafür, in der Öffentlichkeit geweint zu haben, dass sie es am liebsten wieder getan hätte. Wie zur Bestätigung bildete sich sofort ein dicker Kloß im Hals, als sie nur an die Ereignisse von gestern dachte. Und nicht nur das – sie hatte auch noch vor ihrem verhassten Mitschüler Cedric Urs ihre Tränen gezeigt! Lieber hätte die ganze Welt sie sehen können, aber doch nicht er! Er war ein hochnäsiger, grummeliger, dummer Eigenbrödler ohne soziale Kompetenzen und Mitgefühl. Sie geriet immer in Rage, wenn sie an ihn dachte und verdrängte die winzig kleine Stimme in ihrem Kopf, die leise flüsterte: "Aber gestern hat er dir doch geholfen!"
Seufzend und ermattet umschlang Nia ihre noch zugedeckten Beine. Wenn doch bloß Katja wieder da wäre! Aber so wie es sonst immer war würde sie wie so oft um Punkt acht Uhr im Klassenzimmer sitzen, da sie davor probte oder irgendwelche Vorspiele an anderen Schulen hatte. So sehr sie Katja den Erfolg auch gönnte – so sehr wünschte sich Nia auch, dass sie noch ein wenig mehr Zeit miteinander verbringen könnten. Die Abschlussprüfungen waren kommende Woche und danach würden sich ihre Wege vielleicht für immer trennen... Sie wollte gar nicht daran denken.
Nia konnte sich kein Leben außerhalb dieser Wände vorstellen. Wie lange war sie jetzt hier? Mühselig ging sie die Jahre durch. Es müssten insgesamt sechs Jahre gewesen sein, wobei sie nur ein oder zweimal zu Hause gewesen war. "Zu Hause", lachte sie in sich hinein. Konnte man etwas zu Hause nennen, wenn man seit Jahren nicht mehr dort war? Klar, der Campus war riesig und das Mädchenwohnheim für Leute wie Nia war perfekt... Aber... Ihr eigentliches zu Hause war... hier. Nias melancholischer Blick schweifte über die himmelblaue, mit weißen Punkten verzierte Bettdecke und wanderte nach oben, wo sie die Unterseite von Katjas Matratze sehen konnte. Um das ganze zu verschönern hatte Katja jede Menge Fotos zwischen die Latten gestopft und Katjas und Nias der verschiedenen Jahrgangsstufen lächelten dem im Bett liegenden Mädchen entgegen. Zudem hatte Katja eine kaputte Lichterkette kreuz und quer unter ihrem Bett gespannt. Mit kleinen Wäscheklammern hatte Nia alles mögliche daran befestigt. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie die Überreste des Freundschaftsarmbandes sah, welches Katja ihr in der 5. Klasse feierlich geschenkt hatte. Oder direkt dahinter... Dort hing eine ursprünglich zerknüllte und wieder feinsäuberlich geglättete Teilnehmerurkunde für das Sportfest. Nia war damals unglaublich wütend auf sich gewesen, dass sie so einen schlechten Tag gehabt hatte. Katja hatte sie ermuntert, die Urkunde aufzuheben und als Ansporn zu nehmen, nie wieder so schlecht zu sein. Die Methode trug Früchte, denn Nia joggte leidenschaftlich gerne und war auch sonst in Sport keine Niete. Zu schade, dass sie für Mathe nie eine solche Urkunde erhalten hatte... Wobei sie nicht glaubte, dass ihre Motivation dadurch sonderlich gesteigert worden wäre. Das Mädchen starrte nacheinander Zeitungsausschnitte von Salvatore, ein viel zu lautes Glöckchen, ein japanisches Windspiel und ausgeschnittene Bilder ihrer Lieblingsklamotten an. Direkt neben ihrem Bett stand der weinrote, hölzerne Schreibtisch, der über und über voll mit Stiften und Marmeladengläser war. Marmeladengläser gefüllt mit Murmeln. Es gab keine schönere Ablenkung für Nia als zu beobachten, wie sich das Licht der Sonne in den gläsernen Kugeln brach und ein buntes Lichtspiel auf den Tisch zauberte. Katja hatte dagegen die ganze Fensterbank voller Notenbücher geparkt. Ein zusammengefalteter Notenständer befand sich direkt neben ihrem Schreibtisch und auch sonst war alles voller Noten... Waren es Lesezeichen, Post-It's oder Bucheinbände. Nia schmunzelte. Katja liebte nicht Musik, sie atmete sie.
Als ihr Wecker klingelte, schreckte sie hoch und schwang sich aus dem Bett. Nicht mehr lange und sie musste dieses kleine Paradies zurücklassen, um einen Beruf zu beginnen... Oder in ein anderes Wohnheim ziehen – ohne Katja.
Nia streckte sich in ihrem rosa-weiß gestreiften Pyjama und begab sich ins Bad. Noch war nicht aller Tage Abend und es gab noch viel zu tun. Auf in den Kampf!
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Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es 7:15 Uhr war. Perfekt. Weit und breit war kein Schüler und kein Lehrer zu sehen, sodass er mit großen Schritten die Gänge entlangeilte. Die hüfthohe Holztäfelung wirkte in der morgendlichen Sonne noch edler als ohnehin schon. Dagegen wirkte der blassgrüne, ausgeblichene Laminatboden richtig schäbig. Sicher bog der blonde Junge mit der offenen Schuluniform um die Ecke in Richtung Schließfächer. Vor Spindnummer 3107 blieb er ruckartig stehen und atmete hörbar aus. Ohne zu zögern zauberte Cedric eine Karteikarte aus seiner Hosentasche, die er kurz betrachtete. Mit schweißfeuchten Händen zwirbelte er die Karte in seiner Hand herum. Schöpfte sie bereits verdacht? Brachte die ganze Aktion überhaupt etwas? Nächste Woche waren bereits die Abschlussprüfungen... Reichte eine Karte für heute? Oder sollte er jede Stunde eine weitere hineinschmuggeln? Das war reichlich riskant, wenn man an die vielen Schüler dachte, die in weniger als einer Stunde die Flure fluten würden... Es wäre geschickter, jetzt mehrere Karteikarten in den Spind zu stecken. Cedric ließ den Blick über die Fragen gleiten, die er parat hatte... Sein Augenmerk lag auf den wesentlichen Dingen, die seiner Meinung ganz sicher in der Prüfung drankamen. Da waren Polarkoordinaten... Vektoren... und der Sinus- und Kosinussatz. Wie zur eigenen Bestätigung nickte er und schob die Karten in den schmalen Seitenschlitz von Nia Toshikis Schließfach.
"Was tust du da?"
Cedrics Atem stockte. Er wirbelte herum und blickte in zwei braune Augen, die ihn wie kupferfarbene Speerspitzen anfunkelten.
Katja Müller!
Wo kam sie her? Warum hatte er sie nicht gehört? Hatte sie alles beobachtet?
Geschmeidig wie eine Katze kam Katja aus dem Halbschatten der Ecke hervor. Noch immer ließ sie Cedric nicht aus den Augen, als wäre er ein Staatsfeind, der elminiert gehörte. Innerlich jaulte er auf. Warum ausgerechnet Katja Müller, die "Mutter" von Nia Toshiki, wie man hinter vorgehaltener Hand flüsterte? Die meisterhafte Geigenspielerin, die auch ohne Zeitaufwand Bestnoten erzielte?
Dumm stellen war keine Option.
"Du meinst die Karteikarten?", murrte Cedric fragend. Herumgeplänkel und leugnen war zwecklos. Außerdem war er noch nie der Typ für so etwas gewesen.
"Genau die.", lautete ihre knappe Antwort des braunen Lockenkopfes.
Die Gedanken des Jünglings rasten. "Nia hat mir ein paar Karteikarten zum Lernen ausgeborgt und ich wollte sie ihr zurückgeben."
"Lügner." Cedric zuckte innerlich bei dem Wort zusammen. Äußerlich blieb er cool und hielt dem Blick der Brünetten stand. "Nia schreibt auf rosafarbenen Karteikarten und nicht auf weißen. Und zudem sitzt du zufällig neben ihr... warum solltest du sie ihr nicht persönlich geben?"
Lässig steckte er die Hände in die Hosentasche und ballte sie zu Fäusten. "Weißt du, Müller", setzte er an, "das geht nur mich und Nia etwas an."
Katjas Augen verengten sich. Versuchte er tatsächlich, sie auf den Arm zu nehmen? Entschlossen verschränkte sie die Arme. "Nia hasst dich wie die Pest. Niemals würde sie mit dir reden oder gar Karteikarten ausleihen – wobei diese übrigens nicht von ihr stammen. Nia hat keine Computerhandschrift, so viel ist nämlich sicher."
Autsch. Hatte sie so gute Augen, dass sie sogar das hinter der Ecke sehen konnte?
Abwehrend hob Cedric die Hände. "Hör mal-"
"Es ist ein Streich, stimmts?", bohrte das Mädchen und trat einen Schritt näher. Sie wirkte wie ein Krokodil, welches seine frisch gelegten Eier in Gefahr sah.
"Du Müller... Ich bekomme Ärger, wenn ich das nicht mache."
"So ein Mumpitz!", donnerte sie und von weit her hörte man die ersten Schüler, die in das Gebäude trotteten. "Es wirkt wie ein Streich nach dem Motto: Was sich liebt, das neckt sich!"
Was sich liebt, das neckt sich? Anscheinend hatte er sich verhört! Jetzt reichte es wirklich.
"Hörst du mir nicht zu?", knurrte der hochgewachsene Blonde zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Ich bekomme Probleme, wenn Nia nicht besteht." Seine Gedanken überschlugen sich. Es stimmte zwar, was er sagte, aber Cedric konnte ihr nicht die Wahrheit für seine Aktion sagen! Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihm eine Ausrede abkaufte war äußerst gering... Es lag nicht an seiner "Kunst" zu lügen, sondern eher an der sehr hinderlichen und äußerst präzisen weiblichen Intuition von Katja Müller.
Um Zeit zu gewinnen seufzte er und schaute aus dem Fenster in den Schulhof. Er hatte keinerlei Lust, in einem solchen Gespräch von anderen ertappt zu werden. Allgemein wollte er eigentlich mit niemandem reden, verdammt noch mal!
Katja folgte seinem Blick. Beide erstarrten.
Waren das Nia und Salvatore, die sich da am Malvenbeet unterhielten?!
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Natürlich war Nia wieder zu spät aus dem Wohnheim rausgekommen! Aber sie hatte einen guten Grund gehabt: Ihr ganzer Stolz, ihre glänzenden, seidigen Haare, waren heute morgen weder seidig und glänzend gewesen. Und anscheinend wollten sie das auch bis zum Ausbruch des 3. Weltkriegs nicht tun, so viel Energie wie Nia heute morgen für ein einigermaßen passables Ergebnis aufgewendet hatte. Als sie herausgestürmt war, beschlich sie das Gefühl ihre Uniform sei fleckig, die Schleife schief und auch sonst alles einfach nur verkehrt. Kurzum: Die ganz gewöhnlichen Morgentoilettenprobleme eines weiblichen Teenagers, der innerlich zu Gott flehte, seinem Schwarm heute nicht zu begegnen.
Leider wurden Nias Stoßgebete nicht erhört, denn als sie am Malvenbeet vorbeihechtete, hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich.
"Einen schönen guten Morgen!", lachte Salvatore und hob die Hand zum Gruße. Am liebsten wäre Nia zu Stein geworden. Oder sich theatralisch in das nächste, dichbewachsene Blumenbeet geworfen und zu einer Blume geworden. Oder einem Blatt. Oder einem Stängel. Egal was.
Chaotische Haare. Schiefe Schleife. Fleckige Uniform.
Was für ein wundervoller Tag, seinem Schwarm zu begegnen, vor dem man auch im makellosen Zustand kaum ein Wort herausbringt.
"Warum läufst du denn so? Wir haben doch noch jede Menge Zeit!", meinte der dunkelhäutige Junge und schaute zur Bestätigung etwas verwirrt auf seine Uhr. "Jawohl, wir haben es erst 7:27!"
"W-Wirklich?", seufzte Nia und fragte sich, warum sie sich so beeilt hatte. Hatte Katja ihren Wecker präpariert, damit sie nicht mehr zu spät kam? Möglich war alles, wenn sie an ihre beste Freundin dachte. Vorsichtig schaute sie Salvatore ins Gesicht, nur um sogleich mit Lichtgeschwindigkeit ihren Blick auf ihre hochinteressanten Schuhspitzen zu richten. Die Erinnerungen der letzten beiden Tage kochten in ihr hoch. Erst das zufällige, wundervolle Treffen auf Katjas Geigenkonzert und gestern das unglaubliche Mobbing... Mobbing aufgrund dessen, dass sie mit Salvatore geredet hatte!
Oh du meine Güte.
Panisch drehte sie sich in alle Richtungen, aber sie konnte niemanden entdecken. Fasziniert folgte Salvatore ihrem Blick und beobachtete, wie sie tonlos und erleichtert ausatmete. "Es tut mir leid.", stieß er unvermittelt aus. Nias meerblaue Augen weiteten sich, als sie seine Worte vernahm. Bevor sie mit hektischem Herumfuchteln etwas erwidern konnte, fuhr er fort:
"Es tut mir aufrichtig leid, dass ein gefälschtes Foto von uns beiden in der Gerüchteküche war. Ich war mir so sicher, dass niemand aus dem Fanclub mir gefolgt ist, sodass ich nicht damit gerechnet habe..."
Seine Stimme erstarb, als er daran dachte, was Nia deswegen bestimmt erdulden musste.
"N-Niemand konnte das ahnen, dass die Gerüchteküche so weit gehen würde...", flüsterte Nia bestürzt und umklammerte sich, während sie Salvatores Blick auswich. Die Wunden waren noch zu frisch, um sie gänzlich abzutun.
"Du bist eben ein Star auf dem Campus, das kann man das schon verstehen..."
"Gar nichts bin ich!", brauste Salvatore wütend auf und beide erschraken zu gleichen Teilen. Nia nestelte nervös an ihrem Rock herum, während der Frauenschwarm sich verlegen den Nacken kratzte. "Entschuldige, es ist nur... Es ist einfach seltsam für mich, dass ich nicht mal auf das Konzert einer Mitschülerin gehen kann, ohne dass gleich ein Skandal für jemanden entsteht, dem ich nichts Böses will. Ich konnte dir gestern nicht helfen, weil ich sonst die Gerüchte nur noch bekräftigt und dem Redakteurtrio mehr Futter für ihr Schmierblatt gegeben hätte..." Verschämt blickte er zu Boden und fuhr sich mit dem Finger über die Nase.
Nias ganze Haut prickelte, als sie hörte, dass er ihr nichts Böses wollte. Einerseits war das ja klar, aber nach alldem, was am Vortrag passiert war, tat es ihrer kleinen Seele gut, so etwas zu hören. Tränen stiegen ihr in die Augen und als Salvatore wieder aufsah, geriet er sichtbar in Panik.
"E-Entschuldigung, ich muss was falsches gesagt haben!", meinte er und suchte hektisch nach einem Taschentuch all seine Taschen ab.
Mit einem kleinen Lächeln schüttelte Nia den Kopf, obwohl sie dankbar das Taschentuch an sich drückte. Jetzt musste auch Salvatore unwillkürlich lächeln, auch wenn er den Grund für ihre gebildeten Tränen nicht durchschaute.
Plötzlich wurde er ruhig und ernst und schaute das schwarzhaarige Mädchen an. Nias Herz setzte aus, als sie tief in seine mossgrünen Augen blickte. An einigen Stellen waren sie sogar so hell, dass sie fast gelblich erschienen... Allgemein hatte sie das Gefühl, er könnte bis auf den Grund ihrer Seele schauen.
"Nia, als du mir letztens in der Bibliothek geholfen hast... Ähm... Dafür wollte ich mich bedanken und fragen, ob du...", er stockte. Innerlich schalte er sich einen Vollidioten, aber das war das erste Mal, dass er etwas derartiges fragte. "Hast du vielleicht Zeit und Lust, in eine öffentliche Vorlesung an der Uni zu gehen?"
Nias große Augen blinzelten ihn wortlos und verständnislos an. Vorlesung an der Uni?
"D-Du hast an dem Tag ein Buch über die japanische Geschichte gelesen und na ja... es ist bald Tag der offenen Tür und es gibt zufällig eine Vorlesung über die japanische Mythologie...", erklärte er hastig und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die der Wind hineingeblasen hatte.
Da Nia nicht sofort antwortete, setzte er noch hinzu: "Wenn du nicht willst, kann ich das natürlich völlig verstehen!"
Doch Nia konnte nicht so schnell reagieren, weil sie weder ihren Augen noch ihren Ohren traute. Stand ernsthaft der Salvatore Zefalus vor ihr, der begehrteste Junggeselle des Campus und fragte sie nach... nach... nach einem Date?! Ihre Gedanken überschlugen sich und mit ihnen die Schmetterlinge in ihrem Bauch. Es war so, als wäre ihre Haut elektrisiert und vor lauter Freude schnürte es ihr die Kehle zu. Anscheinend hatte sie das Atmen vergessen, denn als die Schnappatmung einsetzte, antwortete sie: "Aber natürlich!" Vergessen waren die Drangseleien von gestern, als sie ganz aufgeregt ihre Schultasche mit einem eisernen Griff umklammerte.
Salvatore entspannte sich und ein breites Lächeln erhellte seine feinen Gesichtszüge. "Also gut, abgemacht. Es wäre kommende Woche Mittwoch um 17:00 Uhr... Wollen wir uns am Eingang der Uni treffen?"
Nia nickte eifrig und jedes seiner Worte wurde in ihr Hirn eingraviert... ganz so wie ein antiker Text auf einer Steintafel, die zu groß, schwer und unkaputtbar war, als dass ihr die kommenden Jahrtausende etwas anhaben konnten.
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Cedric Urs knirschte deutlich hörbar mit den Zähnen, als er die beiden so vertraut plaudern sah. Was gab es zu besprechen? Warum sprach sie überhaupt mit ihm, nachdem er sie gestern so hat hängen lassen? Er, Cedric Urs, hatte ihr geholfen und dem Mobbing ein Ende bereitet – nicht der schmierige Lackaffe! Kalte Wut stieg in ihm auf und seine Fingerknöchel traten weiß hervor, als er die Fensterbank umklammerte. Er drehte sich ruckartig zu Katja, die er anfunkelte. Seine Augen erschienen wie erkaltete Lava so dunkel und undurchdringlich.
"Müller, die Mathelehrerin hat mich beauftragt, das mit den Karteikarten zu tun, damit Nia nicht durchfällt. Auf den Karten sind Matheaufgaben drauf, die sie Lösen muss. Da ich ihr Sitznachbar bin, ist mir die Aufgabe zuteil geworden."
Mit diesen Worten stürzte er den Gang entlang. "Verfluchte Scheiße!", konnte die Brünette noch hören, als er förmlich die Treppe hinunterflog.
Dieser Morgen war ja wirklich sehr ereignisreich gewesen... Nia hatte ein längeres Gespräch mit ihrem Schwarm Salvatore und Cedric steckte kleine Liebesbot- äh Karteikarten in Nias Spind, weil er damit "beauftragt worden war".
"Lügen haben kurze Beine, Cedric Urs.", flötete sie und wandte sich in Richtung Lehrerzimmer. Nia konnte sie den ganzen Tag zu dem Gespräch befragen, zumal sie wahrscheinlich eh erst von Wolke 100 auf die Erde zurückgeholt werden musste, bevor sie ansprechbar war.
Flugs steckte Katja ihren Kopf in das moderne, lichtdurchflutete und hellgelbe Lehrerzimmer mit weißem Mobiliar. Schnell hatte sie gefunden, wen sie suchte: "Frau Lehrerin!", rief sie putzmunter und winkte fröhlich. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen kam die Angesprochene zur Türe. "Katja, schön, dass du wieder da bist!", wurde sie herzlichst begrüßt. "Ich hoffe die Vorspiele waren ebenso erfolgreich wie das Konzert letztens!"
Katja setzte ihr geschäftsmäßiges Lächeln auf. "Sie schmeicheln mir, vielen herzlichen Dank. Bei den Vorspielen habe ich allgemein ein durchschnittliches Gefühl... Es gibt noch so viel, was ich lernen muss..."
Bevor die Lehrerin sie weiter mit leeren Platitüden vollsülzen konnte, senkte die Brünette theatralisch ihre Stimme. "Ich habe eher ein anderes Problem, nein... eher... eine andere Sorge." Sofort war ihr Gegenüber ganz Ohr. Eine Musterschülerin mit Aussicht auf Welterfolg hatte Sorgen und kam zu ihr?! Das musste wirklich etwas dringendes sein!
"Was gibt es denn, mein Kind?"
"Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie Cedric Urs gebeten haben, Nia ein wenig... unter die Arme zu greifen, was Mathe betrifft."
Katja erntete einen verwirrten Blick, also erklärte sie weiter. "Cedric Urs meinte, dass sie ihn gebeten hatten, Karteikarten mit Mathefragen Nia Toshiki zukommen zu lassen, damit sie diese lösen und dadurch besser werden kann."
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Lehrerin diese Information verarbeitet hatte und schließlich brach sie in schallendes Gelächter aus.
"Wie bitte, was soll ich getan haben? Bestimmt nicht, dazu ist mir meine Zeit zu kostbar!", eine Lachsalve unterbrach ihren Redefluss. "Weder Nia Toshiki noch sonst ein Schüler erhalten eine Sonderbehandlung von mir – und schon gar nicht so geheimniskrämerisch! Nia weiß ganz genau, dass sie keine Leuchte in Mathe ist und etwas tun muss... Warum sollte ich jemanden zu so etwas... unsinnigem beauftragen?"
Oh, wie sie es geahnt hatte! So ein dreister Lügner! Aber noch war seine Schuld nicht ganz bewiesen.
"Ist es möglich, dass ein anderer Lehrer das für Sie in Auftrag gegeben hat?", fragte Katja und fügte hinzu: "Es geht nur darum, dass ich nicht verstehe, dass man nicht an mich herangetreten ist, da ich ja Nias Mitbewohnerin bin... Ich bin zwar viel unterwegs, aber dennoch wäre das der nächste Weg gewesen."
Die Lehrerin nickte und ereiferte sich. "Ich werde gleich mal nachfragen!" Damit war sie auch für ein paar Minuten hinter den gläsernen Scheiben verschwunden und man sah, wie sie die allgemeine Kaffeerunde nach dem Fall fragte. Einer nach dem anderen schüttelte den Kopf und musste ebenfalls über die abstruse Idee lachen. Von demher war es auch keine Überraschung, was Katja letztlich für eine Antwort erhielt:
"Ich habe neben den Mathelehrern auch noch die anderen Kollegen gefragt, aber niemand hat das in die Wege geleitet..."
"Ich verstehe... Vielen lieben Dank, dass sie sich die Umstände gemacht haben!", lächelte Katja und ging den Gang zurück zum Klassenzimmer entlang.
"So so, Cedric Urs, du hast mich eiskalt angelogen...", dachte sie bei sich. Doch die eigentliche Frage war:
Was war der wahre Beweggrund hinter der Aktion und dieser leicht aufdeckbaren Lüge?
Die letzten beiden Tage waren die reinste Achterbahnfahrt gewesen. Erst himmelhochjauchzend und danach zutode betrübt. Im Grunde ihres Herzens hatte sie keinen Bedarf herauszufinden, wie der heutige Tag werden würde. Nia schämte sich so sehr dafür, in der Öffentlichkeit geweint zu haben, dass sie es am liebsten wieder getan hätte. Wie zur Bestätigung bildete sich sofort ein dicker Kloß im Hals, als sie nur an die Ereignisse von gestern dachte. Und nicht nur das – sie hatte auch noch vor ihrem verhassten Mitschüler Cedric Urs ihre Tränen gezeigt! Lieber hätte die ganze Welt sie sehen können, aber doch nicht er! Er war ein hochnäsiger, grummeliger, dummer Eigenbrödler ohne soziale Kompetenzen und Mitgefühl. Sie geriet immer in Rage, wenn sie an ihn dachte und verdrängte die winzig kleine Stimme in ihrem Kopf, die leise flüsterte: "Aber gestern hat er dir doch geholfen!"
Seufzend und ermattet umschlang Nia ihre noch zugedeckten Beine. Wenn doch bloß Katja wieder da wäre! Aber so wie es sonst immer war würde sie wie so oft um Punkt acht Uhr im Klassenzimmer sitzen, da sie davor probte oder irgendwelche Vorspiele an anderen Schulen hatte. So sehr sie Katja den Erfolg auch gönnte – so sehr wünschte sich Nia auch, dass sie noch ein wenig mehr Zeit miteinander verbringen könnten. Die Abschlussprüfungen waren kommende Woche und danach würden sich ihre Wege vielleicht für immer trennen... Sie wollte gar nicht daran denken.
Nia konnte sich kein Leben außerhalb dieser Wände vorstellen. Wie lange war sie jetzt hier? Mühselig ging sie die Jahre durch. Es müssten insgesamt sechs Jahre gewesen sein, wobei sie nur ein oder zweimal zu Hause gewesen war. "Zu Hause", lachte sie in sich hinein. Konnte man etwas zu Hause nennen, wenn man seit Jahren nicht mehr dort war? Klar, der Campus war riesig und das Mädchenwohnheim für Leute wie Nia war perfekt... Aber... Ihr eigentliches zu Hause war... hier. Nias melancholischer Blick schweifte über die himmelblaue, mit weißen Punkten verzierte Bettdecke und wanderte nach oben, wo sie die Unterseite von Katjas Matratze sehen konnte. Um das ganze zu verschönern hatte Katja jede Menge Fotos zwischen die Latten gestopft und Katjas und Nias der verschiedenen Jahrgangsstufen lächelten dem im Bett liegenden Mädchen entgegen. Zudem hatte Katja eine kaputte Lichterkette kreuz und quer unter ihrem Bett gespannt. Mit kleinen Wäscheklammern hatte Nia alles mögliche daran befestigt. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie die Überreste des Freundschaftsarmbandes sah, welches Katja ihr in der 5. Klasse feierlich geschenkt hatte. Oder direkt dahinter... Dort hing eine ursprünglich zerknüllte und wieder feinsäuberlich geglättete Teilnehmerurkunde für das Sportfest. Nia war damals unglaublich wütend auf sich gewesen, dass sie so einen schlechten Tag gehabt hatte. Katja hatte sie ermuntert, die Urkunde aufzuheben und als Ansporn zu nehmen, nie wieder so schlecht zu sein. Die Methode trug Früchte, denn Nia joggte leidenschaftlich gerne und war auch sonst in Sport keine Niete. Zu schade, dass sie für Mathe nie eine solche Urkunde erhalten hatte... Wobei sie nicht glaubte, dass ihre Motivation dadurch sonderlich gesteigert worden wäre. Das Mädchen starrte nacheinander Zeitungsausschnitte von Salvatore, ein viel zu lautes Glöckchen, ein japanisches Windspiel und ausgeschnittene Bilder ihrer Lieblingsklamotten an. Direkt neben ihrem Bett stand der weinrote, hölzerne Schreibtisch, der über und über voll mit Stiften und Marmeladengläser war. Marmeladengläser gefüllt mit Murmeln. Es gab keine schönere Ablenkung für Nia als zu beobachten, wie sich das Licht der Sonne in den gläsernen Kugeln brach und ein buntes Lichtspiel auf den Tisch zauberte. Katja hatte dagegen die ganze Fensterbank voller Notenbücher geparkt. Ein zusammengefalteter Notenständer befand sich direkt neben ihrem Schreibtisch und auch sonst war alles voller Noten... Waren es Lesezeichen, Post-It's oder Bucheinbände. Nia schmunzelte. Katja liebte nicht Musik, sie atmete sie.
Als ihr Wecker klingelte, schreckte sie hoch und schwang sich aus dem Bett. Nicht mehr lange und sie musste dieses kleine Paradies zurücklassen, um einen Beruf zu beginnen... Oder in ein anderes Wohnheim ziehen – ohne Katja.
Nia streckte sich in ihrem rosa-weiß gestreiften Pyjama und begab sich ins Bad. Noch war nicht aller Tage Abend und es gab noch viel zu tun. Auf in den Kampf!
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Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es 7:15 Uhr war. Perfekt. Weit und breit war kein Schüler und kein Lehrer zu sehen, sodass er mit großen Schritten die Gänge entlangeilte. Die hüfthohe Holztäfelung wirkte in der morgendlichen Sonne noch edler als ohnehin schon. Dagegen wirkte der blassgrüne, ausgeblichene Laminatboden richtig schäbig. Sicher bog der blonde Junge mit der offenen Schuluniform um die Ecke in Richtung Schließfächer. Vor Spindnummer 3107 blieb er ruckartig stehen und atmete hörbar aus. Ohne zu zögern zauberte Cedric eine Karteikarte aus seiner Hosentasche, die er kurz betrachtete. Mit schweißfeuchten Händen zwirbelte er die Karte in seiner Hand herum. Schöpfte sie bereits verdacht? Brachte die ganze Aktion überhaupt etwas? Nächste Woche waren bereits die Abschlussprüfungen... Reichte eine Karte für heute? Oder sollte er jede Stunde eine weitere hineinschmuggeln? Das war reichlich riskant, wenn man an die vielen Schüler dachte, die in weniger als einer Stunde die Flure fluten würden... Es wäre geschickter, jetzt mehrere Karteikarten in den Spind zu stecken. Cedric ließ den Blick über die Fragen gleiten, die er parat hatte... Sein Augenmerk lag auf den wesentlichen Dingen, die seiner Meinung ganz sicher in der Prüfung drankamen. Da waren Polarkoordinaten... Vektoren... und der Sinus- und Kosinussatz. Wie zur eigenen Bestätigung nickte er und schob die Karten in den schmalen Seitenschlitz von Nia Toshikis Schließfach.
"Was tust du da?"
Cedrics Atem stockte. Er wirbelte herum und blickte in zwei braune Augen, die ihn wie kupferfarbene Speerspitzen anfunkelten.
Katja Müller!
Wo kam sie her? Warum hatte er sie nicht gehört? Hatte sie alles beobachtet?
Geschmeidig wie eine Katze kam Katja aus dem Halbschatten der Ecke hervor. Noch immer ließ sie Cedric nicht aus den Augen, als wäre er ein Staatsfeind, der elminiert gehörte. Innerlich jaulte er auf. Warum ausgerechnet Katja Müller, die "Mutter" von Nia Toshiki, wie man hinter vorgehaltener Hand flüsterte? Die meisterhafte Geigenspielerin, die auch ohne Zeitaufwand Bestnoten erzielte?
Dumm stellen war keine Option.
"Du meinst die Karteikarten?", murrte Cedric fragend. Herumgeplänkel und leugnen war zwecklos. Außerdem war er noch nie der Typ für so etwas gewesen.
"Genau die.", lautete ihre knappe Antwort des braunen Lockenkopfes.
Die Gedanken des Jünglings rasten. "Nia hat mir ein paar Karteikarten zum Lernen ausgeborgt und ich wollte sie ihr zurückgeben."
"Lügner." Cedric zuckte innerlich bei dem Wort zusammen. Äußerlich blieb er cool und hielt dem Blick der Brünetten stand. "Nia schreibt auf rosafarbenen Karteikarten und nicht auf weißen. Und zudem sitzt du zufällig neben ihr... warum solltest du sie ihr nicht persönlich geben?"
Lässig steckte er die Hände in die Hosentasche und ballte sie zu Fäusten. "Weißt du, Müller", setzte er an, "das geht nur mich und Nia etwas an."
Katjas Augen verengten sich. Versuchte er tatsächlich, sie auf den Arm zu nehmen? Entschlossen verschränkte sie die Arme. "Nia hasst dich wie die Pest. Niemals würde sie mit dir reden oder gar Karteikarten ausleihen – wobei diese übrigens nicht von ihr stammen. Nia hat keine Computerhandschrift, so viel ist nämlich sicher."
Autsch. Hatte sie so gute Augen, dass sie sogar das hinter der Ecke sehen konnte?
Abwehrend hob Cedric die Hände. "Hör mal-"
"Es ist ein Streich, stimmts?", bohrte das Mädchen und trat einen Schritt näher. Sie wirkte wie ein Krokodil, welches seine frisch gelegten Eier in Gefahr sah.
"Du Müller... Ich bekomme Ärger, wenn ich das nicht mache."
"So ein Mumpitz!", donnerte sie und von weit her hörte man die ersten Schüler, die in das Gebäude trotteten. "Es wirkt wie ein Streich nach dem Motto: Was sich liebt, das neckt sich!"
Was sich liebt, das neckt sich? Anscheinend hatte er sich verhört! Jetzt reichte es wirklich.
"Hörst du mir nicht zu?", knurrte der hochgewachsene Blonde zwischen zusammengebissenen Zähnen. "Ich bekomme Probleme, wenn Nia nicht besteht." Seine Gedanken überschlugen sich. Es stimmte zwar, was er sagte, aber Cedric konnte ihr nicht die Wahrheit für seine Aktion sagen! Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihm eine Ausrede abkaufte war äußerst gering... Es lag nicht an seiner "Kunst" zu lügen, sondern eher an der sehr hinderlichen und äußerst präzisen weiblichen Intuition von Katja Müller.
Um Zeit zu gewinnen seufzte er und schaute aus dem Fenster in den Schulhof. Er hatte keinerlei Lust, in einem solchen Gespräch von anderen ertappt zu werden. Allgemein wollte er eigentlich mit niemandem reden, verdammt noch mal!
Katja folgte seinem Blick. Beide erstarrten.
Waren das Nia und Salvatore, die sich da am Malvenbeet unterhielten?!
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Natürlich war Nia wieder zu spät aus dem Wohnheim rausgekommen! Aber sie hatte einen guten Grund gehabt: Ihr ganzer Stolz, ihre glänzenden, seidigen Haare, waren heute morgen weder seidig und glänzend gewesen. Und anscheinend wollten sie das auch bis zum Ausbruch des 3. Weltkriegs nicht tun, so viel Energie wie Nia heute morgen für ein einigermaßen passables Ergebnis aufgewendet hatte. Als sie herausgestürmt war, beschlich sie das Gefühl ihre Uniform sei fleckig, die Schleife schief und auch sonst alles einfach nur verkehrt. Kurzum: Die ganz gewöhnlichen Morgentoilettenprobleme eines weiblichen Teenagers, der innerlich zu Gott flehte, seinem Schwarm heute nicht zu begegnen.
Leider wurden Nias Stoßgebete nicht erhört, denn als sie am Malvenbeet vorbeihechtete, hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich.
"Einen schönen guten Morgen!", lachte Salvatore und hob die Hand zum Gruße. Am liebsten wäre Nia zu Stein geworden. Oder sich theatralisch in das nächste, dichbewachsene Blumenbeet geworfen und zu einer Blume geworden. Oder einem Blatt. Oder einem Stängel. Egal was.
Chaotische Haare. Schiefe Schleife. Fleckige Uniform.
Was für ein wundervoller Tag, seinem Schwarm zu begegnen, vor dem man auch im makellosen Zustand kaum ein Wort herausbringt.
"Warum läufst du denn so? Wir haben doch noch jede Menge Zeit!", meinte der dunkelhäutige Junge und schaute zur Bestätigung etwas verwirrt auf seine Uhr. "Jawohl, wir haben es erst 7:27!"
"W-Wirklich?", seufzte Nia und fragte sich, warum sie sich so beeilt hatte. Hatte Katja ihren Wecker präpariert, damit sie nicht mehr zu spät kam? Möglich war alles, wenn sie an ihre beste Freundin dachte. Vorsichtig schaute sie Salvatore ins Gesicht, nur um sogleich mit Lichtgeschwindigkeit ihren Blick auf ihre hochinteressanten Schuhspitzen zu richten. Die Erinnerungen der letzten beiden Tage kochten in ihr hoch. Erst das zufällige, wundervolle Treffen auf Katjas Geigenkonzert und gestern das unglaubliche Mobbing... Mobbing aufgrund dessen, dass sie mit Salvatore geredet hatte!
Oh du meine Güte.
Panisch drehte sie sich in alle Richtungen, aber sie konnte niemanden entdecken. Fasziniert folgte Salvatore ihrem Blick und beobachtete, wie sie tonlos und erleichtert ausatmete. "Es tut mir leid.", stieß er unvermittelt aus. Nias meerblaue Augen weiteten sich, als sie seine Worte vernahm. Bevor sie mit hektischem Herumfuchteln etwas erwidern konnte, fuhr er fort:
"Es tut mir aufrichtig leid, dass ein gefälschtes Foto von uns beiden in der Gerüchteküche war. Ich war mir so sicher, dass niemand aus dem Fanclub mir gefolgt ist, sodass ich nicht damit gerechnet habe..."
Seine Stimme erstarb, als er daran dachte, was Nia deswegen bestimmt erdulden musste.
"N-Niemand konnte das ahnen, dass die Gerüchteküche so weit gehen würde...", flüsterte Nia bestürzt und umklammerte sich, während sie Salvatores Blick auswich. Die Wunden waren noch zu frisch, um sie gänzlich abzutun.
"Du bist eben ein Star auf dem Campus, das kann man das schon verstehen..."
"Gar nichts bin ich!", brauste Salvatore wütend auf und beide erschraken zu gleichen Teilen. Nia nestelte nervös an ihrem Rock herum, während der Frauenschwarm sich verlegen den Nacken kratzte. "Entschuldige, es ist nur... Es ist einfach seltsam für mich, dass ich nicht mal auf das Konzert einer Mitschülerin gehen kann, ohne dass gleich ein Skandal für jemanden entsteht, dem ich nichts Böses will. Ich konnte dir gestern nicht helfen, weil ich sonst die Gerüchte nur noch bekräftigt und dem Redakteurtrio mehr Futter für ihr Schmierblatt gegeben hätte..." Verschämt blickte er zu Boden und fuhr sich mit dem Finger über die Nase.
Nias ganze Haut prickelte, als sie hörte, dass er ihr nichts Böses wollte. Einerseits war das ja klar, aber nach alldem, was am Vortrag passiert war, tat es ihrer kleinen Seele gut, so etwas zu hören. Tränen stiegen ihr in die Augen und als Salvatore wieder aufsah, geriet er sichtbar in Panik.
"E-Entschuldigung, ich muss was falsches gesagt haben!", meinte er und suchte hektisch nach einem Taschentuch all seine Taschen ab.
Mit einem kleinen Lächeln schüttelte Nia den Kopf, obwohl sie dankbar das Taschentuch an sich drückte. Jetzt musste auch Salvatore unwillkürlich lächeln, auch wenn er den Grund für ihre gebildeten Tränen nicht durchschaute.
Plötzlich wurde er ruhig und ernst und schaute das schwarzhaarige Mädchen an. Nias Herz setzte aus, als sie tief in seine mossgrünen Augen blickte. An einigen Stellen waren sie sogar so hell, dass sie fast gelblich erschienen... Allgemein hatte sie das Gefühl, er könnte bis auf den Grund ihrer Seele schauen.
"Nia, als du mir letztens in der Bibliothek geholfen hast... Ähm... Dafür wollte ich mich bedanken und fragen, ob du...", er stockte. Innerlich schalte er sich einen Vollidioten, aber das war das erste Mal, dass er etwas derartiges fragte. "Hast du vielleicht Zeit und Lust, in eine öffentliche Vorlesung an der Uni zu gehen?"
Nias große Augen blinzelten ihn wortlos und verständnislos an. Vorlesung an der Uni?
"D-Du hast an dem Tag ein Buch über die japanische Geschichte gelesen und na ja... es ist bald Tag der offenen Tür und es gibt zufällig eine Vorlesung über die japanische Mythologie...", erklärte er hastig und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die der Wind hineingeblasen hatte.
Da Nia nicht sofort antwortete, setzte er noch hinzu: "Wenn du nicht willst, kann ich das natürlich völlig verstehen!"
Doch Nia konnte nicht so schnell reagieren, weil sie weder ihren Augen noch ihren Ohren traute. Stand ernsthaft der Salvatore Zefalus vor ihr, der begehrteste Junggeselle des Campus und fragte sie nach... nach... nach einem Date?! Ihre Gedanken überschlugen sich und mit ihnen die Schmetterlinge in ihrem Bauch. Es war so, als wäre ihre Haut elektrisiert und vor lauter Freude schnürte es ihr die Kehle zu. Anscheinend hatte sie das Atmen vergessen, denn als die Schnappatmung einsetzte, antwortete sie: "Aber natürlich!" Vergessen waren die Drangseleien von gestern, als sie ganz aufgeregt ihre Schultasche mit einem eisernen Griff umklammerte.
Salvatore entspannte sich und ein breites Lächeln erhellte seine feinen Gesichtszüge. "Also gut, abgemacht. Es wäre kommende Woche Mittwoch um 17:00 Uhr... Wollen wir uns am Eingang der Uni treffen?"
Nia nickte eifrig und jedes seiner Worte wurde in ihr Hirn eingraviert... ganz so wie ein antiker Text auf einer Steintafel, die zu groß, schwer und unkaputtbar war, als dass ihr die kommenden Jahrtausende etwas anhaben konnten.
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Cedric Urs knirschte deutlich hörbar mit den Zähnen, als er die beiden so vertraut plaudern sah. Was gab es zu besprechen? Warum sprach sie überhaupt mit ihm, nachdem er sie gestern so hat hängen lassen? Er, Cedric Urs, hatte ihr geholfen und dem Mobbing ein Ende bereitet – nicht der schmierige Lackaffe! Kalte Wut stieg in ihm auf und seine Fingerknöchel traten weiß hervor, als er die Fensterbank umklammerte. Er drehte sich ruckartig zu Katja, die er anfunkelte. Seine Augen erschienen wie erkaltete Lava so dunkel und undurchdringlich.
"Müller, die Mathelehrerin hat mich beauftragt, das mit den Karteikarten zu tun, damit Nia nicht durchfällt. Auf den Karten sind Matheaufgaben drauf, die sie Lösen muss. Da ich ihr Sitznachbar bin, ist mir die Aufgabe zuteil geworden."
Mit diesen Worten stürzte er den Gang entlang. "Verfluchte Scheiße!", konnte die Brünette noch hören, als er förmlich die Treppe hinunterflog.
Dieser Morgen war ja wirklich sehr ereignisreich gewesen... Nia hatte ein längeres Gespräch mit ihrem Schwarm Salvatore und Cedric steckte kleine Liebesbot- äh Karteikarten in Nias Spind, weil er damit "beauftragt worden war".
"Lügen haben kurze Beine, Cedric Urs.", flötete sie und wandte sich in Richtung Lehrerzimmer. Nia konnte sie den ganzen Tag zu dem Gespräch befragen, zumal sie wahrscheinlich eh erst von Wolke 100 auf die Erde zurückgeholt werden musste, bevor sie ansprechbar war.
Flugs steckte Katja ihren Kopf in das moderne, lichtdurchflutete und hellgelbe Lehrerzimmer mit weißem Mobiliar. Schnell hatte sie gefunden, wen sie suchte: "Frau Lehrerin!", rief sie putzmunter und winkte fröhlich. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen kam die Angesprochene zur Türe. "Katja, schön, dass du wieder da bist!", wurde sie herzlichst begrüßt. "Ich hoffe die Vorspiele waren ebenso erfolgreich wie das Konzert letztens!"
Katja setzte ihr geschäftsmäßiges Lächeln auf. "Sie schmeicheln mir, vielen herzlichen Dank. Bei den Vorspielen habe ich allgemein ein durchschnittliches Gefühl... Es gibt noch so viel, was ich lernen muss..."
Bevor die Lehrerin sie weiter mit leeren Platitüden vollsülzen konnte, senkte die Brünette theatralisch ihre Stimme. "Ich habe eher ein anderes Problem, nein... eher... eine andere Sorge." Sofort war ihr Gegenüber ganz Ohr. Eine Musterschülerin mit Aussicht auf Welterfolg hatte Sorgen und kam zu ihr?! Das musste wirklich etwas dringendes sein!
"Was gibt es denn, mein Kind?"
"Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie Cedric Urs gebeten haben, Nia ein wenig... unter die Arme zu greifen, was Mathe betrifft."
Katja erntete einen verwirrten Blick, also erklärte sie weiter. "Cedric Urs meinte, dass sie ihn gebeten hatten, Karteikarten mit Mathefragen Nia Toshiki zukommen zu lassen, damit sie diese lösen und dadurch besser werden kann."
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Lehrerin diese Information verarbeitet hatte und schließlich brach sie in schallendes Gelächter aus.
"Wie bitte, was soll ich getan haben? Bestimmt nicht, dazu ist mir meine Zeit zu kostbar!", eine Lachsalve unterbrach ihren Redefluss. "Weder Nia Toshiki noch sonst ein Schüler erhalten eine Sonderbehandlung von mir – und schon gar nicht so geheimniskrämerisch! Nia weiß ganz genau, dass sie keine Leuchte in Mathe ist und etwas tun muss... Warum sollte ich jemanden zu so etwas... unsinnigem beauftragen?"
Oh, wie sie es geahnt hatte! So ein dreister Lügner! Aber noch war seine Schuld nicht ganz bewiesen.
"Ist es möglich, dass ein anderer Lehrer das für Sie in Auftrag gegeben hat?", fragte Katja und fügte hinzu: "Es geht nur darum, dass ich nicht verstehe, dass man nicht an mich herangetreten ist, da ich ja Nias Mitbewohnerin bin... Ich bin zwar viel unterwegs, aber dennoch wäre das der nächste Weg gewesen."
Die Lehrerin nickte und ereiferte sich. "Ich werde gleich mal nachfragen!" Damit war sie auch für ein paar Minuten hinter den gläsernen Scheiben verschwunden und man sah, wie sie die allgemeine Kaffeerunde nach dem Fall fragte. Einer nach dem anderen schüttelte den Kopf und musste ebenfalls über die abstruse Idee lachen. Von demher war es auch keine Überraschung, was Katja letztlich für eine Antwort erhielt:
"Ich habe neben den Mathelehrern auch noch die anderen Kollegen gefragt, aber niemand hat das in die Wege geleitet..."
"Ich verstehe... Vielen lieben Dank, dass sie sich die Umstände gemacht haben!", lächelte Katja und ging den Gang zurück zum Klassenzimmer entlang.
"So so, Cedric Urs, du hast mich eiskalt angelogen...", dachte sie bei sich. Doch die eigentliche Frage war:
Was war der wahre Beweggrund hinter der Aktion und dieser leicht aufdeckbaren Lüge?