Kapitel 11 - "I'll try again tomorrow!"
Das
Erste was er wahrnahm war ein leicht süßlicher Geruch. Gedämpfte
Strahlen des Sonnenuntergangs drangen durch die Fenster und tauchten
alles in ein orangerotes Licht.
Kein Ton war zu hören.
Er kannte diesen Ort. Schon hunderte Male war er hier gewesen. In seinen Träumen. Immer und immer wieder. Nichts hatte sich verändert seit damals.
Langsam sog er die Luft ein und schloss die Augen, bevor er sie wieder aufschlug und seine Hände betrachtete.
Blut.
Überall.
Warmes, frisches Blut.
Zu seinen Füßen lagen zerfetzte Gedärme. Haare. Ein zersplitterter Krug. Kaum noch erkennbare Organe.
Und Blut.
Überall.
Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren diese Augen.
Stechend.
Hasserfüllt.
"Du Missgeburt hättest nie das Licht der Welt erblicken dürfen!", keuchte die Person am Boden mit allerletzter Kraft.
Er holte aus und hackte ihm in die Augen.
Schweißgebadet wachte Salvatore auf. Sein Atem ging stoßweise.
Schon wieder.
Immer wieder.
Insgeheim hatte er gehofft, dass sich endlich etwas ändern würde, sobald er offiziell Nias Huan wäre und er seinem Ziel einen Schritt näher kam. Aber dem war anscheinend nicht so.
Außerdem war das etwas, mit dem sie alle fertig werden mussten. Und nicht nur er.
Langsam setzte er sich auf und fuhr sich durch die Haare. Der Luftzug ließ seinen nackten Oberkörper frösteln. Nur noch eine Minute... Noch eine Minute und er würde sich wieder gefangen haben, um der perfekte Gentleman zu sein. Noch eine Minute, bevor er seinen stockenden Atem und seine zitternden Hände wieder unter Kontrolle gebracht hatte... Stumpf betrachtete er das Armband an seiner linken Hand. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das waren die Früchte seiner harten Arbeit! Und so schnell würde er sie sich nicht wieder entreißen lassen...
~*~
Als Nia die Augen aufschlug, wusste sie zunächst nicht, wo sie sich befand. Gelbe Wände. Ein Himmelbett.
Die Realität sickerte erst langsam durch ihr Bewusstsein. Gestern war ein verrückter Tag gewesen.
Cedric. Salvatore.
Huans.
Der Kampf gegen Anita.
Die Niederlage.
Das schwarzhaarige Mädchen hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Alles war so schnell gegangen, sie hatte gar keine Zeit, irgendetwas zu verarbeiten oder zu realisieren.
Nun war sie also in der Welt der "Huans". Menschen, die sich in Tiere verwandeln konnten. Wie alle anderen Ruler hatte sie zwei: Salvatore und Cedric. Das war wie Zuckerbrot und Peitsche. Zu allem Übel war sie die Ausnahme der Regel, indem sie zwei offensive Huans hatte. Das schien die Kämpfe noch deutlich schwieriger zu machen als sie ohnehin schon waren. Ihre Gedanken überschlugen sich. Es war unabdinglich, dass sie eine Struktur in all diese chaotischen Erlebnisse hineinbrachte.
Nia rieb sich die Augen. Mit diesem mysteriösen Brief hatte alles angefangen. Im nachhinein erkannte sie den Köder. Warum um alles in der Welt hatte sie angebissen? Lag es an den zahlreichen, kryptischen Nachrichten von ihrem Vater, die ihre Neugierde geweckt hatten? Eine Neugierde, die so groß war, dass sie unbedingt gestillt werden musste? Was, wenn sie dem Brief nicht Folge geleistet hätte und gar nicht gegangen wäre oder womöglich jemanden mitgenommen hätte? Wäre die Tür dann auch aufgegangen?
Mürrisch drehte sie sich im Bett herum. Es brachte nichts, über die 'was wäre wenns' der ganzen Geschichte nachzudenken.
Dieser Mann, dem sie im Wald begegnet war... Wie viel wusste er? Schließlich hatte er etwas von einer "Sackgasse" gesagt – und wie könnte er so etwas sagen, wenn er nicht genau wusste, was Sache war? Wollte er sie aufhalten oder nur in die richtige Richtung laufen lassen?
Es frustrierte Nia immer mehr, dass sie nicht wusste, wo sie sich befand. Auf alle Fälle war sie noch auf dem Campus... oder? Schließlich war es nicht möglich, die schützenden Mauern zu verlassen, ohne sich bei einem Pförtner abzumelden... Oder? Hatte Miguel sie bei diesem langen Gang außerhalb des Campus geführt oder nicht? War Miguel auch ein Ruler oder gar ein Huan? Nachdem sie alle die Räume gewechselt hatten, um die Huans zu erwecken, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Hieß das, dass er schon erweckt worden war oder schon seine Huans erweckt hatte? Allein während der Einführung von Frau Wood wirkte er überhaupt nicht überrascht... Ganz so, als wäre er bereits mit der Materie vertraut gewesen...
Wenn Nia ihn das nächste Mal sah, musste sie ihn unbedingt fragen. Das brannte ihr regelrecht auf der Seele und wenigstens eines der ganzen Rätsel wollte sie gelöst haben!
Was war noch... Dieser Wakevorgang von Cedric war doch mehr als seltsam. Und damit meinte sie nicht die Sache mit den Huans an und für sich. Woher war diese plötzliche Erinnerung gekommen? Es wirkte ganz so, als sei sie für den geeigneten Moment versiegelt worden, oder etwa nicht?
Und mehr noch: Cedric hatte davon gewusst.
Diente das Schutz vor einem weiteren, voreiligen Wakevorgang oder steckte vielleicht mehr dahinter?
Fragen über Fragen, auf die Nia keine Antwort hatte. Nervös knabberte sie an ihrer Unterlippe. Cedric und Salvatore hassten sich wirklich und sehr offensichtlich. Woran lag das wohl? Die beiden schienen sich zu kennen, obwohl Nia nie zuvor gesehen hatte, wie sie sich unterhielten – zumindest nicht bis zu dem Vorfall, wo Cedric Nia geküsst hatte. Natürlich hätte Salvatore auch instinktmäßig handeln können und Cedric angreifen können, wenn er ihn nicht gekannt hatte... Aber ihr Schwarm war so wütend und außer sich gewesen, dass Nia nicht glaubte, dass die beiden sich nicht doch vorher kannten. Zumal Salvatore so heftig reagiert hatte! Der sonst so friedliche Frauenschwarm sah mit einem mal so erbarmungslos aus...
Salvatore... Allein beim Gedanken an ihm glühten ihre Wangen. Er war tatsächlich ihr Huan! Irgendwie schien er das geahnt zu haben, aber woher? So wie sie es bei den anderen Wakevorgängen mitbekommen hatte, war es doch eher ein Herumprobieren, bevor sich der tatsächliche Huan und sein Ruler gefunden hatten? Was hatte Salvatore so sicher gemacht, dass Nia sein Ruler war? Anders als bei Cedric gab es keine plötzlich zurückkehrende Erinnerung, die ihr auf die Sprünge geholfen hätte. Und dann war da dieser Blick, den ihr Schwarm Cedric zugeworfen hatte... Es wirkte wie eiskalte Berechnung. Am liebsten hätte das schwarzhaarige Mädchen diesen Gedanken von der Hand gewiesen, aber es ging ihr einfach nicht aus dem Kopf.
Nia seufzte schwer. Wenn sie noch länger im Bett liegen bleiben würde, würde sie bestimmt festwachsen! Und die Fragen ließen sich allein durch nachdenken auch nicht lösen. Grimmig warf sie die Bettdecke zurück und schlüpfte in ihre weißen Puschen. Dabei fiel er Blick auf die drei kleinen Gegenstände, die ihr Cedric gestern während des Kampfes in die Hand gedrückt hatte. Es waren drei kleine rostige Schlüssel. Was um alles in der Welt hätte sie seiner Meinung danach machen sollen? Das ergab doch keinen Sinn!
Der Kampf. Nias Magen verkrampfte sich. Wie tief musste der Hass der Gerüchteküche-Crew sein, wenn sie sie sofort angriffen und ohne Rücksicht auf Verluste niedermetzelten? Nicht einmal die Tatsache, dass sie einen Wakevorgang der Huans durchgeführt hatten, hatte Tonia davon abgebracht, Nia wütende Blicke zuzuwerfen.
Ihr Gesichtsausdruck verdunkelte sich. War der Grund des Hasses etwa ihr Charakter? Nia war nunmal nicht die Extrovertierteste... Und dementsprechend hatte sie auch Schwierigkeiten, Freundschaften zu knüpfen. Aber dafür jemanden gleich zu verachten und zu mobben? So zu demütigen wie Anita es beim Kampf gemacht hatte? Das hatte sie gewiss nicht verdient! Letzten Endes wollte sie nur allein gelassen werden und nichts weiter.
Erneut spürte Nia einen aufkeimenden Kampfeswillen. Gestern war sie so gedemütigt worden, dass wollte selbst die schüchterne Schülerin nicht auf sich sitzen lassen. Vor allem nicht aus solchen Gründen!
Entschlossen öffnete sie die Zimmertüre und stand einem zerstrubbelten Cedric gegenüber, der gerade sein Hemd zuknöpfte.
"K-kannst du das nicht in deinem Zimmer machen?", platzte es aus Nia heraus, als sie seine halbnackte Brust sah.
"Na dir wünsch ich auch einen guten Morgen.", entgegnete der blonde Unsympath ungerührt und nestelte an seinem Armband herum. Es bestand aus ein paar schwarzen und viele weißen Perlen. Nia blinzelte überrascht.
"Ich wusste gar nicht, dass du Armbänder trägst...", nuschelte sie perplex und beäugte das Schmuckstück akribisch. Cedric schnaubte und zog verlegen weg, als Nia es berühren wollte.
"Das ist auch nicht irgendein Armband...", setzte der Blonde an.
"Sondern das Armband, das unsere Kräfteverteilung visualisiert.", vollendete Salvatore den Satz, der soeben aus seinem Zimmer getreten war. Er war bereits in seiner Schuluniform und schenkte Nia ein aufmunterndes Lächeln. "Guten Morgen."
"G-Guten Morgen!", erwiderte Nia und wurde bis in die Haarspitzen rot. Warum stand sie im Pyjama vor Salvatore? Warum um alles in der Welt hatte sie sich nicht schon im Zimmer umgezogen? Am liebsten wollte sie im Erboden versinken, wäre da nicht...
"K-Kräfteverteilung?", wiederholte sie stotternd und bemerkte just in diesem Moment, dass auch Salvatore ein ähnlihches Armband wie Cedric trug. Allerdings besaß seines deutlich mehr schwarze als weiße Perlen.
"Diese Armbänder dienen dazu, dem Ruler und den Huans zu zeigen, wer mehr Kraft besitzt. Je mehr schwarze Perlen, desto mehr Macht hat der Huan im Kampf.", erläuterte Nias Schwarm geduldig lächelnd und deutete dabei auf seinen Armschmuck.
"Das heißt...", setzte Nia nachdenklich an, "Dass du im Kampf der stärkere bist, richtig, Salvatore?" Wie zur Antwort knurrte Cedric und knirschte mit den Zähnen. Ihr Schwarm nickte zustimmend. "Worauf basiert das überhaupt? Also... Wie wird bestimmt, wer wie viel Kraft hat? Ist das Zufall oder orientiert sich das an der Kraft, die eure... tierische Seite hat?", bombardierte das schwarzhaarige Mädchen die Jungs mit Fragen.
"Weder noch." Cedric kratzte sich am Hinterkopf, bevor er fortfuhr. "Das Armband visualisiert quasi, wie gern du deine Huans hast. Je mehr schwarze Kugeln, desto mehr magst du den einen und hasst den anderen."
Ein langes, gedehntes Schweigen trat ein.
Nia wurde heiß und kalt zugleich. Langsam und unsicher öffnete sie ihren staubtrockenen Mund. Mit einer ruckartigen Bewegung riss Cedric Salvatores linken Arm hoch und hielt ihn zusammen mit seinem eigenen Arm vor Nias Nase.
Der Blick des Frauenschwarms wurde binnen einer Sekunde düster. Es kostete ihn sichtbar Kraft, nichts zu sagen und nicht handgreiflich zu werden.
"Sieh genau hin! Was siehst du?", befahl Cedric im donnernden Tonfall, sodass sich Nias Nackenhaare sträubten.
"I-ich sehe sechs schwarze Perlen bei dir und... sehr sehr viele bei Salvatore.", antworte sie wie betäubt.
"Es sind 94 Stück, um ganz genau zu sein." Die Stimme des blonden Hünen peitschte durch die Luft. Schuldbewusst zuckte Nia zusammen. "Die Perlen entsprechen den Prozent an Kraft, die du als Ruler zu vergeben hast. Sinkt die Prozentzahl eines Huans unter 5%..." Seine Stimme erstarb und er starrte mit einem komplizierten Gesichtsausdruck zu Boden.
"... so stirbt der Huan." Vollendete Nias Schwarm galant den Satz, als hätte er soeben die Wettervorhersage von morgen verkündet. Salvatore entzog seine Hand Cedrics gelockertem Griff.
Nias Denken setzte aus.
Hatte sie das eben richtig gehört? Der Huan würde... sterben? Ihr Magen drehte sich bei dem Gedanken um. Auch wenn sie den Speckkopf nicht mochte... das... das war doch...!
Ohne nachzudenken ergriff sie Cedrics Hand und schloss seine geballte Faust in ihre kleinen Hände. "D-das werde ich nicht zulassen!", fiepste sie und Cedrics Augen wurden merklich größer. Auch Salvatore starrte Nia ungläubig an. Was um alles in der Welt...? Erschrocken schaute der Eisbär-Huan sie an. Binnen weniger Sekunden glühten seine Ohren, sodass Nia verlegen hinzufügte: "I-ich hasse dich zwar, aber sterben will ich dich nicht sehen! Schließlich bist du mein Huan! Du musst für mich kämpfen! Ich habe Verantwortung für dich, oder nicht?"
Cedric schluckte hart und wandte sich aus ihrem Griff. Wortlos kratzte er sich den Nacken. Man konnte nicht sagen, ob er von Nias Worten überrascht, wütend oder verlegen war. Zumindest konnte das schwarzhaarige Mädchen nicht erraten, was in ihm vorging. Doch Salvatore verstand es nur zu gut. Kalte Wut stieg in ihn auf. Das durfte doch nicht wahr sein? Er atmete tief ein und brach die seltsame Stille.
"Eine kurzzeitige Unterschreitung der 5% Hürde ist ungefährlich. Man nennt das 'anreißen'... Der Huan erleidet zwar Schmerzen, aber es besteht keine Lebensgefahr."
Erleichtert atmete Nia auf, doch sie erschrak zugleich. Hatte sie sich ernsthaft Sorgen um den Speckkopf gemacht? Die junge Schülerin war vollkommen von sich selbst entsetzt. Und dann hatte sie vor Salvatores Augen Cedrics Hand ergriffen! Was sollte ihr Schwarm nur davon halten?! Geistesabwesend griff sie sich an den hochroten Kopf. Angestrengt schloss Cedric die Augen und drehte sich weg.
"Ich geh schon mal vor.", waren seine letzten Worte, bevor er die Tür hinter sich schloss.
"Ich werde auch gleich gehen, Nia.", lächelte ihr Schwarm sie aufmunternd an. "Du solltest dich vielleicht ein wenig beeilen, da..." Schweigend und etwas verlegen blickte er an Nia herunter und betrachtete ihren rosafarbenen Häschen-Schlafanzug.
Das Mädchen machte einen Satz und quietschte. "I-ich bin dann mal weg!"
Was war das eben? Cedric musste sich an der nächstbesten Ecke erst einmal gegen die Wand lehnen. Vor wenigen Augenblicken war er noch unglaublich wütend gewesen, als er erneut sein Armband betrachtete... Nur 6%... Das war mehr oder weniger ein Todesurteil für ihn. Salvatore hatte sich seit langem in ihr Herz geschlichen und das zahlte sich jetzt auch aus. Er selbst dagegen...
Aber Nias Reaktion war so anders gewesen als das, was er erwartet hatte. Er wurde förmlich von ihr überrumpelt, als sie seine Hand nahm. Selbst jetzt konnte er noch ihre kalten Fingerspitzen auf seiner Haut spüren...
Cedric knirschte mit den Zähnen. Er durfte sich auf keinen Fall von seinen Gefühlen leiten lassen, egal was er für Nia empfand...
Was war das denn eben? Nias Herz klopfte immer noch, als sie die Badezimmertür hinter sich zugeworfen hatte und eiligst in ihre Schuluniform schlüpfte. Gleichzeitig versuchte sie sich die zotteligen, widerspenstigen Haare zu kämmen.
Sie mochte Cedric gar nicht! Selbst wenige Minuten später hatte sie wieder so einen Hass auf ihn, dass die sonst so schüchterne und zurückhaltende Schülerin ihn am liebsten angeschrien hätte. Und dennoch... sie hatte nicht nur ihre beiden Huans sondern vor allem sich selbst mit ihrer Reaktion überrascht.
So etwas würde niemals wieder vorkommen, das schwor sich Nia. Kalter Hass tobte in ihrer schmalen Brust.
Was war das denn eben? Hatte Salvatore nicht lange genug und hart gearbeitet? Wie Nia die Hand von diesem blassen Widerling genommen hatte... Am liebsten hätte der beliebte Frauenschwarm auf den Boden gespuckt, wenn er nur daran dachte. Es war logisch, dass die schüchterne Rulerin nicht in Freudentänze ausbrechen würde, wenn sie davon erfuhr, dass einer ihrer Huans sterben könnte...
Finster starrte er auf sein Armband. Seine Sorgen waren unbegründet, denn nach wie vor schillerten ihn 94 schwarze Perlen an. Und so schnell würde sich das auch gewiss nicht ändern, dafür würde Salvatore höchstpersönlich sorgen.
~*~
Nach altbekannter Manier war Nia wieder im letzten Moment in das Klassenzimmer gerauscht. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt pünktlich gekommen war, da sie den Weg nicht wusste. Deshalb war sie diverse Gänge hoch und runter gerast und hatte zahlreiche Schüler gefragt, wo es eigentlich langging. Salvatore hatte ihr freundlicherweise zuvor einen Stundenplan zukommen lassen, auf dem glücklicherweise die Räume vermerkt waren.
Vollkommen erschöpft ließ sie sich auf ihren Platz zwischen Salvatore und Cedric fallen. Es gab Dinge, die würden sich wohl nie ändern. Keuchend zog sie ihr Federmäppchen aus der Schultasche und warf es achtlos auf den Tisch.
Der blonde Hüne, der mit verschränkten Armen neben ihr saß, schaute noch finsterer. Bei näherem Betrachten sah Nia eine dünne Bleistiftlinie, die seine Seite des Tisches markierte. Beide schnaubten synchron.
Wie kindisch war das bitte? Sie waren jetzt nicht einfach nur 'Klassenkameraden' sondern Ruler und Huan! So wie es aussah würden sie in Zukunft noch einige Kämpfe bestreiten – da wirkte eine solche Linie nicht gerade förderlich für ihre Zusammenarbeit.
Noch bevor Nia wütend lospoltern konnte, trat Frau Wood in den Raum. Mit ihr ertönte der Gong.
"Setzt euch und schweigt", eröffnete sie die Stunde ohne Umschweife. "Jeder von euch besitzt nun einen offensiven und einen defensiven Huan." Bei diesen Worten wurde Nia ein bedeutungsschwangerer Blick zugeworfen. Das Mädchen zuckte zusammen, als wäre sie persönlich Schuld daran. Nervös schaute sie sich um und bemerkte, dass alle in der gleichen Ordnung saßen: Der Ruler wird von seinen beiden Huans flankiert. Die Gerüchteküche-Chefin Tonia saß mit ihrem aufmüpfigen Huan Akuma mit verbittertem Gesicht an einem Tisch. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und kippelte lässig mit dem Stuhl. Links von ihr musste ihr anderer Huan sein. Optisch war er das komplette Gegenteil von Akuma: Zwar hatte er markante Gesichtszüge und hohe Wangenknochen, aber seine rostbraunen, seidigen Haare waren gepflegt und durchgestylt. Sein langer Pony fiel ihm ins Gesicht und er spielte geistesabwesend mit einer Strähne, die er sich letztlich galant hinters Ohr strich.
Nia ließ ihren Blick weiter schweifen und blieb bei einem der Armbänder haften. Auf den ersten Blick sah es aus, als wären es exakt gleich viele schwarze wie weiße Perlen! Das schwarzhaarige Mädchen brach in kalten Schweiß aus. War das etwa normal, dass man seine beiden Huans relativ gleich gern mochte? Nia wurde schlecht.
Als sie aufsah, traf sich ihr Blick mit dem von Anita. Verängstigt schloss Nia sofort die Augen. Daraufhin hörte sie das leicht belustigte schnaufen ihrer Klassenkameradin. Noch immer spürte Nia den schmerzhaften Druck der Verletzung. Mutig öffnete sie ihre meerblauen Augen und starrte Anita an. Wenn sie wirklich das nächste Mal gegen sie gewinnen wollte, durfte Nia nicht weglaufen! Und bei einem Blickkontakt zu triumphieren war ein erster Anfang für das schüchterne Mädchen. Mit schweißnassen Händen hielt sie den Blick gegen Anita aufrecht. Egal was für ein Mensch Nia war – schüchtern, introvertiert und verängstigt – sie wollte sich nicht mobben lassen!
Und sie war nicht allein. Ihre Huans waren bei ihr, nicht wahr?
Die Zeit schien stillzustehen.
Nach schier endlosen Momenten heftete das Albinomädchen ihren Blick wieder an die Tafel. Ein ungeahntes Glücksgefühl durchströmte Nia. Hatte sie soeben gegen Anita gewonnen? Mit zitternden Händen atmete sie lange aus und richtete ihre Aufmerksamkeit ebenfalls wieder auf Frau Wood.
"Wo fang ich am Besten an, dass es auch jeder von euch in den Quadratschädel bekommt...", murmelte die Pädagogin laut und vernehmlich. Doch scheinbar musste sie gar nicht überlegen, denn unbeirrt fuhr sie fort. "Bestimmt wollt ihr wissen, was Huans überhaupt sind." Wie zur Bestätigung nickten alle anwesenden Ruler eifrig. Anscheinend war nicht nur Nia diese Frage durch den Kopf geschossen.
"Wie ihr vermutet habt, handelt es sich nicht um possierliche Haustierchen."
"Huans sind ein Produkt beschleunigter Evolution."
Frau Wood machte eine lange Pause, damit diese Worte sacken konnten. Nia schnappte hörbar nach Luft. Evolution? Man hatte die Evolution beschleunigt, die sonst viele Millionen Jahre benötigen würde? Alle Schüler starrten entgeistert und atemlos die Lehrerin an.
Nur die Huans schwiegen. Einige hatten die Lippen zusammengepresst. Cedric schaute nicht einmal nach vorne, sondern hatte einen imaginären Punkt auf der Tischplatte fixiert.
"Die Zustände auf der Erde ändern sich. Der rasche Klimawandel hat ebenso rasche Gegenmaßnahmen benötigt, sodass letztlich Huans aus diesem Projekt entstanden sind. Sie sind besser an die Umwelt angepasste Menschen.
Huans sind die Zukunft.
Nicht angepasste Menschen können von ihnen beschützt werden. Und das seid ihr Ruler. Es ist also eine Art Pilotprojekt, ob Huans Ruler beschützen können... Im Kampf oder unter extremen Bedingungen."
Nia musste sich anlehnen. Das war ein bisschen viel auf einmal. Zwar hatte nicht nur sie eine Antwort auf diese brennenden Fragen herbeigesehnt, aber... Das war unerwartet. Beschleunigte Evolution? Schutz der Menschen oder gar der Menschheit, wenn man diesen Gedanken weitersponn?
"Wie dem auch sei.", meinte Frau Wood und machte eine wegwerfende Handbewegung, als handelte es sich um nichts Weltbewegendes. Lässig nahm sie ihre Brille ab und putzte sie mit dem Saum ihres Blazers. "Um diese Situationen zu testen, kämpft ihr mit euren Huans gegeneinander. Einige haben bereits gestern die ein oder andere Erfahrung gestern sammeln können..." Dabei ließ sie den Blick über die Klasse gleiten. Nia folgte ihren Augen und entdeckte dabei auch Miguel, der völlig unberührt dasaß.
Alleine.
Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Das war doch eine Schule voller Ruler und Huans... Warum war er alleine? Hieß das, er war ein Huan ohne Ruler?
Frau Woods Worte rissen Nia aus ihren Gedanken. "Um einen Kampf zu beginnen, müsst ihr euch mit euren Huans 'verbinden'. Dabei kann es zu Schwächeanfällen und Übelkeit kommen, da ihr physisch so viel Macht aushalten müsst. Dieser Vorgang funktioniert mit den einfachen Worten 'Blablabla connect!'. Blablabla steht selbstredend für einen eurer schnuckeligen Huans." Belustigt sah die Lehrerin dabei zu Akuma, der sich mit dem kleinen Finger gerade im Ohr bohrte.
"Jeder Kampf kann spezielle Regeln haben. Diese hängen von eurer Ausrüstung ab, wenn man das mal so formulieren kann." Mit diesen Worten zog sie einen Schlüssel aus der Tasche ihres Sakkos. Es war ein ähnliches Exemplar wie die, die Nia gestern bekommen hatte! Und damit war sie scheinbar nicht die Einzige, wenn sie das aufgeregte Gemurmel der anderen Ruler wahrnahm.
"Das ist nicht einfach nur ein hässlicher, rostiger und alter Schlüssel." Wie zur Bestätigung verwandelte er sich vor den Augen der Anwesenden in einen kaputten Baseballschläger. "Schlüssel sind eure Helferchen beim Kampf. Ihr Ruler seid 'gewöhnliche' Menschen, sodass ihr etwas braucht, um euch zu verteidigen oder gar anzugreifen. Diese Schlüssel helfen euch dabei. Alle Schlüssel sind unterschiedlich und können Gegenstände sein oder eine andere... Funktion haben. Je älter, rostiger und wertloser ein Schlüssel erscheint, desto unnützer ist in der Regel der Gegenstand. Was er überhaupt beinhaltet erfahrt ihr in der Regel erst, wenn ihr ihn einsetzt. Falls ihr jemals je gut im Kampf werdet, könnt ihr es... erfühlen."
Bei diesen Worten war die Lehrerin durch die Reihen der Schüler gegangen.
Mit einer ruckartigen, heftigen Bewegung zerschmetterte sie den Baseballschläger auf Akumas Tisch. Der Schläger barst und Splitter flogen. Erschrocken kreischten einige auf.
"Setz dich richtig hin, bevor ich mich vergesse." Frau Woods Stimme war wie Eis. Kommentarlos und mit rebellischem Blick setzte sich der rebellische Schüler korrekt hin. "Ist es so genehm, Ma'am?", fragte er frech, doch die Lehrerin drehte sich unbeirrt weg und ließ den kümmerlichen Rest des Schlägers zu Boden fallen.
Nia traute ihren Augen nicht, aber... Der Baseballschläger und all die Splitter waren... verschwunden?
"Diese Gegenstände sind für den einmaligen Gebrauch. Sind sie zerstört oder ist der Kampf vorbei, verschwinden sie."
"Ja aber!", muckierte Tonia auf und stellte sich hin. Anklagend funkelte sie die Lehrerin an, die jedoch keine Miene verzog. "Wir sind hier weder im Kampf noch sind sie ein Ruler, der einen solchen 'Schlüssel' benutzen kann, oder etwa doch?"
"Oh, wer hat denn davon gesprochen, dass nur Ruler Schlüssel einsetzen können? Für euch sind sie besonders praktisch, da ihr euch ja auch im Kampf irgendwie behaupten müsst... Aber das schließt uns doch nicht aus! Ganz im Gegenteil." Sie lächelte die Gerüchteküche-Chefin diabolisch an. "Wir können diese Schlüssel auch außerhalb des Kampfes einsetzen."
"Das ist ja total ungerecht!", begehrte Anita wütend auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Auch die anderen Ruler waren empört darüber.
"Das Leben ist kein Ponyhof.", konterte Frau Wood gelassen und baute sich vor dem Albino-Mädchen auf. "Das solltest gerade du wissen, nicht wahr?" Diese Frage war mehr geflüstert als gesprochen und hinterließ eine entgeisterte Anita.
"Im Kampf selbst können sich eure Huans heilen, die Ruler dagegen nicht. Das geht erst danach mit einer besonderen... Methode." Die bedeutungsschwangere Pause ließ Nias Wangen vor Scham glühen. Natürlich meinte Frau Wood damit, dass die verletzte Stelle geküsst werden musste! Wer auch immer sich das ausgedacht hatte, gehörte geohrfeigt!
"Huans haben sogenannte Busshitsu. Das sind meistens Lebensmittel oder Ähnliches, die ein Huan konsumieren muss, damit seine Wunden heilen. Auf Deutsch heißt das Ganze schlicht und ergreifend 'Stoff'."
Für diese Übersetzung erntete Frau Wood einige verhaltene Lacher. Das hörte sich ganz so an, als würde ein Huan Drogen nehmen! Der unbarmherzige Blick der Pädagogin ließ allerdings das Lachen in ihrer Kehle stecken bleiben.
"Ein Busshitsu kann alles mögliche sein. In einigen seltenen Fällen kann das Busshitsu auch lebensgefährlich sein, aber in der Regel nicht. Übrigens halten das Huans geheim, da sie sonst eine Schwäche offenbaren. Nicht einmal die eigenen Ruler kennen meistens die Busshitsus ihrer Huans, also bitte respektiert das. Schließlich kann es für den Gegner auch sehr nützlich sein, wenn er von diesem Schwachpunkt erfährt..."
Ungläubig starrte Nia Salvatore an. Auch er hatte ein 'Busshitsu'? Was das wohl war? Das Mädchen brannte ja darauf, es zu erfahren...! Nervös knetete sie ihre Hände auf dem Schoß.
"Apropos Schwachpunkt...", setzte Frau Wood an, als hätte sie noch eine wichtige Kleinigkeit vergessen. "Auch Schlüssel haben ihre Knackpunkte, abgesehen von dem einmaligen Gebrauch." Dieses Mal zog sie einen Schlüssel aus ihrer Hosentasche hervor. Anders als zuvor war er hochpoliert, filigran und reich verziert. Er war mit zahlreichen Zahnrädern, kleinen Anhängern und einem grünen Stein besetzt. Jeder war sich sicher, dass dieser Schlüssel mehr hervorbringen würde als einen bloßen Baseballschläger!
"Ein solcher Schlüssel ist natürlich viel wertvoller und hat weitreichendere Auswirkungen. Dennoch... dennoch sollte man sie mit Vorsicht genießen."
Nia horchte auf. Es war ja nicht so, als würde man damit die Büchse der Pandora öffnen, oder?
"Wann immer ihr einen besonders mächtigen Schlüssel einsetzt, müsst ihr einen Preis dafür bezahlen. Und damit meine ich kein Geld."
Die Schüler stutzten. Was meinte sie mit 'Preis', wenn nicht der Kaufpreis damit gemeint war? Irgendwie ergab das doch keinen Sinn... Oder musste man etwa für die Schlüssel arbeiten? Oder sie selber schmieden?
"Wenn ihr sehr mächtige Schlüssel einsetzt, kostet euch das etwas. Sei es... physischer Schmerz, ein Gegenstand, der euch sehr viel bedeutet oder gar euer Augenlicht... Es ist nicht umsonst und deshalb solltet ihr sehr behutsam und überlegt damit umgehen."
Das jagte nicht nur Nia einen Schauer über den Rücken. Es war zwar klar, dass es in der Welt der Huans nicht friedfertig war, aber... Etwas so wertvolles wie sein Augenlicht gleich zu opfern? Das ließ das schwarzhaarige Mädchen schwer schlucken. Irgendwie war ihr unglaublich übel. Das hörte sich wahrlich so an, als würden sie hier sehr viel Schmerz und Leid ertragen müssen... Wahrscheinlich auch ohne den Einsatz dieser 'mächtigen Schlüssel', was auch immer das zu bedeuten hatte.
"Wenn ihr einen Kampf erfolgreich bestanden habt, erhaltet ihr Punkte. Diese Punkte könnt ihr gegen Preise eintauschen.... Beispielsweise Schlüssel, die euch im nächsten Kampf helfen können."
Im Grunde ihres Herzens wollte Nia einfach nur weg. Das war alles so surreal! Kämpfen? Huans? Schlüssel, die sich verwandelten? Das hörte sich alles an wie im Märchen oder in einer Fantasystory! Die schüchterne Schülerin knetete noch immer ununterbrochen ihre Hände und dachte dabei an die Niederlage vom Vortag.
Anita hatte sie angespuckt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten sie Pause.
Nia schluckte ihre Angst hinunter. Mit klopfendem Herzen sprang sie auf und ging zu ihrer Mitschülerin mit den pinken Haaren.
"H-hallo!", stotterte das schwarzhaarige Mädchen und starrte auf ihre Fußspitzen. "Dein Name war Lais, richtig?"
Mit entnervtem Blick drehte sich die Angesprochene um und seufzte, als sie Nia erkannte. "Was willst du?" War die Antwort nach einer kurzen Pause. Es wirkte fast so, als wollte sie verleugnen... Aber es gab nunmal niemand anderen mit so einer krassen Haarfarbe und speziellen Frisur. Nia fröstelte es bei dieser eiskalten Frage.
"Ich wollte mich für gestern bedanken!", stammelte sie. Inzwischen standen auch Cedric und Salvatore hinter ihr und lauschten gebannt. Auch der Frauenschwarm nickte dankend. Der blonde Hüne verzog dagegen keine Miene.
"Ist das alles?", fragte Lais mit ihrer monotonen, dunklen Stimme und fixierte Nia so mit ihren stechenden Augen, dass diese sichtbar in Schweiß ausbrach.
"Hehe...", kicherte sie dümmlich und verlegen, während sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr strich. "Du hast mich durchschaut!"
Lais Blick sprach Bände, dass das nicht allzu schwer gewesen sein konnte.
Nia sammelte allen Mut in sich zusammen.
"Ich möchte gegen dich kämpfen!"
Kein Ton war zu hören.
Er kannte diesen Ort. Schon hunderte Male war er hier gewesen. In seinen Träumen. Immer und immer wieder. Nichts hatte sich verändert seit damals.
Langsam sog er die Luft ein und schloss die Augen, bevor er sie wieder aufschlug und seine Hände betrachtete.
Blut.
Überall.
Warmes, frisches Blut.
Zu seinen Füßen lagen zerfetzte Gedärme. Haare. Ein zersplitterter Krug. Kaum noch erkennbare Organe.
Und Blut.
Überall.
Aber das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren diese Augen.
Stechend.
Hasserfüllt.
"Du Missgeburt hättest nie das Licht der Welt erblicken dürfen!", keuchte die Person am Boden mit allerletzter Kraft.
Er holte aus und hackte ihm in die Augen.
Schweißgebadet wachte Salvatore auf. Sein Atem ging stoßweise.
Schon wieder.
Immer wieder.
Insgeheim hatte er gehofft, dass sich endlich etwas ändern würde, sobald er offiziell Nias Huan wäre und er seinem Ziel einen Schritt näher kam. Aber dem war anscheinend nicht so.
Außerdem war das etwas, mit dem sie alle fertig werden mussten. Und nicht nur er.
Langsam setzte er sich auf und fuhr sich durch die Haare. Der Luftzug ließ seinen nackten Oberkörper frösteln. Nur noch eine Minute... Noch eine Minute und er würde sich wieder gefangen haben, um der perfekte Gentleman zu sein. Noch eine Minute, bevor er seinen stockenden Atem und seine zitternden Hände wieder unter Kontrolle gebracht hatte... Stumpf betrachtete er das Armband an seiner linken Hand. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das waren die Früchte seiner harten Arbeit! Und so schnell würde er sie sich nicht wieder entreißen lassen...
~*~
Als Nia die Augen aufschlug, wusste sie zunächst nicht, wo sie sich befand. Gelbe Wände. Ein Himmelbett.
Die Realität sickerte erst langsam durch ihr Bewusstsein. Gestern war ein verrückter Tag gewesen.
Cedric. Salvatore.
Huans.
Der Kampf gegen Anita.
Die Niederlage.
Das schwarzhaarige Mädchen hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Alles war so schnell gegangen, sie hatte gar keine Zeit, irgendetwas zu verarbeiten oder zu realisieren.
Nun war sie also in der Welt der "Huans". Menschen, die sich in Tiere verwandeln konnten. Wie alle anderen Ruler hatte sie zwei: Salvatore und Cedric. Das war wie Zuckerbrot und Peitsche. Zu allem Übel war sie die Ausnahme der Regel, indem sie zwei offensive Huans hatte. Das schien die Kämpfe noch deutlich schwieriger zu machen als sie ohnehin schon waren. Ihre Gedanken überschlugen sich. Es war unabdinglich, dass sie eine Struktur in all diese chaotischen Erlebnisse hineinbrachte.
Nia rieb sich die Augen. Mit diesem mysteriösen Brief hatte alles angefangen. Im nachhinein erkannte sie den Köder. Warum um alles in der Welt hatte sie angebissen? Lag es an den zahlreichen, kryptischen Nachrichten von ihrem Vater, die ihre Neugierde geweckt hatten? Eine Neugierde, die so groß war, dass sie unbedingt gestillt werden musste? Was, wenn sie dem Brief nicht Folge geleistet hätte und gar nicht gegangen wäre oder womöglich jemanden mitgenommen hätte? Wäre die Tür dann auch aufgegangen?
Mürrisch drehte sie sich im Bett herum. Es brachte nichts, über die 'was wäre wenns' der ganzen Geschichte nachzudenken.
Dieser Mann, dem sie im Wald begegnet war... Wie viel wusste er? Schließlich hatte er etwas von einer "Sackgasse" gesagt – und wie könnte er so etwas sagen, wenn er nicht genau wusste, was Sache war? Wollte er sie aufhalten oder nur in die richtige Richtung laufen lassen?
Es frustrierte Nia immer mehr, dass sie nicht wusste, wo sie sich befand. Auf alle Fälle war sie noch auf dem Campus... oder? Schließlich war es nicht möglich, die schützenden Mauern zu verlassen, ohne sich bei einem Pförtner abzumelden... Oder? Hatte Miguel sie bei diesem langen Gang außerhalb des Campus geführt oder nicht? War Miguel auch ein Ruler oder gar ein Huan? Nachdem sie alle die Räume gewechselt hatten, um die Huans zu erwecken, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Hieß das, dass er schon erweckt worden war oder schon seine Huans erweckt hatte? Allein während der Einführung von Frau Wood wirkte er überhaupt nicht überrascht... Ganz so, als wäre er bereits mit der Materie vertraut gewesen...
Wenn Nia ihn das nächste Mal sah, musste sie ihn unbedingt fragen. Das brannte ihr regelrecht auf der Seele und wenigstens eines der ganzen Rätsel wollte sie gelöst haben!
Was war noch... Dieser Wakevorgang von Cedric war doch mehr als seltsam. Und damit meinte sie nicht die Sache mit den Huans an und für sich. Woher war diese plötzliche Erinnerung gekommen? Es wirkte ganz so, als sei sie für den geeigneten Moment versiegelt worden, oder etwa nicht?
Und mehr noch: Cedric hatte davon gewusst.
Diente das Schutz vor einem weiteren, voreiligen Wakevorgang oder steckte vielleicht mehr dahinter?
Fragen über Fragen, auf die Nia keine Antwort hatte. Nervös knabberte sie an ihrer Unterlippe. Cedric und Salvatore hassten sich wirklich und sehr offensichtlich. Woran lag das wohl? Die beiden schienen sich zu kennen, obwohl Nia nie zuvor gesehen hatte, wie sie sich unterhielten – zumindest nicht bis zu dem Vorfall, wo Cedric Nia geküsst hatte. Natürlich hätte Salvatore auch instinktmäßig handeln können und Cedric angreifen können, wenn er ihn nicht gekannt hatte... Aber ihr Schwarm war so wütend und außer sich gewesen, dass Nia nicht glaubte, dass die beiden sich nicht doch vorher kannten. Zumal Salvatore so heftig reagiert hatte! Der sonst so friedliche Frauenschwarm sah mit einem mal so erbarmungslos aus...
Salvatore... Allein beim Gedanken an ihm glühten ihre Wangen. Er war tatsächlich ihr Huan! Irgendwie schien er das geahnt zu haben, aber woher? So wie sie es bei den anderen Wakevorgängen mitbekommen hatte, war es doch eher ein Herumprobieren, bevor sich der tatsächliche Huan und sein Ruler gefunden hatten? Was hatte Salvatore so sicher gemacht, dass Nia sein Ruler war? Anders als bei Cedric gab es keine plötzlich zurückkehrende Erinnerung, die ihr auf die Sprünge geholfen hätte. Und dann war da dieser Blick, den ihr Schwarm Cedric zugeworfen hatte... Es wirkte wie eiskalte Berechnung. Am liebsten hätte das schwarzhaarige Mädchen diesen Gedanken von der Hand gewiesen, aber es ging ihr einfach nicht aus dem Kopf.
Nia seufzte schwer. Wenn sie noch länger im Bett liegen bleiben würde, würde sie bestimmt festwachsen! Und die Fragen ließen sich allein durch nachdenken auch nicht lösen. Grimmig warf sie die Bettdecke zurück und schlüpfte in ihre weißen Puschen. Dabei fiel er Blick auf die drei kleinen Gegenstände, die ihr Cedric gestern während des Kampfes in die Hand gedrückt hatte. Es waren drei kleine rostige Schlüssel. Was um alles in der Welt hätte sie seiner Meinung danach machen sollen? Das ergab doch keinen Sinn!
Der Kampf. Nias Magen verkrampfte sich. Wie tief musste der Hass der Gerüchteküche-Crew sein, wenn sie sie sofort angriffen und ohne Rücksicht auf Verluste niedermetzelten? Nicht einmal die Tatsache, dass sie einen Wakevorgang der Huans durchgeführt hatten, hatte Tonia davon abgebracht, Nia wütende Blicke zuzuwerfen.
Ihr Gesichtsausdruck verdunkelte sich. War der Grund des Hasses etwa ihr Charakter? Nia war nunmal nicht die Extrovertierteste... Und dementsprechend hatte sie auch Schwierigkeiten, Freundschaften zu knüpfen. Aber dafür jemanden gleich zu verachten und zu mobben? So zu demütigen wie Anita es beim Kampf gemacht hatte? Das hatte sie gewiss nicht verdient! Letzten Endes wollte sie nur allein gelassen werden und nichts weiter.
Erneut spürte Nia einen aufkeimenden Kampfeswillen. Gestern war sie so gedemütigt worden, dass wollte selbst die schüchterne Schülerin nicht auf sich sitzen lassen. Vor allem nicht aus solchen Gründen!
Entschlossen öffnete sie die Zimmertüre und stand einem zerstrubbelten Cedric gegenüber, der gerade sein Hemd zuknöpfte.
"K-kannst du das nicht in deinem Zimmer machen?", platzte es aus Nia heraus, als sie seine halbnackte Brust sah.
"Na dir wünsch ich auch einen guten Morgen.", entgegnete der blonde Unsympath ungerührt und nestelte an seinem Armband herum. Es bestand aus ein paar schwarzen und viele weißen Perlen. Nia blinzelte überrascht.
"Ich wusste gar nicht, dass du Armbänder trägst...", nuschelte sie perplex und beäugte das Schmuckstück akribisch. Cedric schnaubte und zog verlegen weg, als Nia es berühren wollte.
"Das ist auch nicht irgendein Armband...", setzte der Blonde an.
"Sondern das Armband, das unsere Kräfteverteilung visualisiert.", vollendete Salvatore den Satz, der soeben aus seinem Zimmer getreten war. Er war bereits in seiner Schuluniform und schenkte Nia ein aufmunterndes Lächeln. "Guten Morgen."
"G-Guten Morgen!", erwiderte Nia und wurde bis in die Haarspitzen rot. Warum stand sie im Pyjama vor Salvatore? Warum um alles in der Welt hatte sie sich nicht schon im Zimmer umgezogen? Am liebsten wollte sie im Erboden versinken, wäre da nicht...
"K-Kräfteverteilung?", wiederholte sie stotternd und bemerkte just in diesem Moment, dass auch Salvatore ein ähnlihches Armband wie Cedric trug. Allerdings besaß seines deutlich mehr schwarze als weiße Perlen.
"Diese Armbänder dienen dazu, dem Ruler und den Huans zu zeigen, wer mehr Kraft besitzt. Je mehr schwarze Perlen, desto mehr Macht hat der Huan im Kampf.", erläuterte Nias Schwarm geduldig lächelnd und deutete dabei auf seinen Armschmuck.
"Das heißt...", setzte Nia nachdenklich an, "Dass du im Kampf der stärkere bist, richtig, Salvatore?" Wie zur Antwort knurrte Cedric und knirschte mit den Zähnen. Ihr Schwarm nickte zustimmend. "Worauf basiert das überhaupt? Also... Wie wird bestimmt, wer wie viel Kraft hat? Ist das Zufall oder orientiert sich das an der Kraft, die eure... tierische Seite hat?", bombardierte das schwarzhaarige Mädchen die Jungs mit Fragen.
"Weder noch." Cedric kratzte sich am Hinterkopf, bevor er fortfuhr. "Das Armband visualisiert quasi, wie gern du deine Huans hast. Je mehr schwarze Kugeln, desto mehr magst du den einen und hasst den anderen."
Ein langes, gedehntes Schweigen trat ein.
Nia wurde heiß und kalt zugleich. Langsam und unsicher öffnete sie ihren staubtrockenen Mund. Mit einer ruckartigen Bewegung riss Cedric Salvatores linken Arm hoch und hielt ihn zusammen mit seinem eigenen Arm vor Nias Nase.
Der Blick des Frauenschwarms wurde binnen einer Sekunde düster. Es kostete ihn sichtbar Kraft, nichts zu sagen und nicht handgreiflich zu werden.
"Sieh genau hin! Was siehst du?", befahl Cedric im donnernden Tonfall, sodass sich Nias Nackenhaare sträubten.
"I-ich sehe sechs schwarze Perlen bei dir und... sehr sehr viele bei Salvatore.", antworte sie wie betäubt.
"Es sind 94 Stück, um ganz genau zu sein." Die Stimme des blonden Hünen peitschte durch die Luft. Schuldbewusst zuckte Nia zusammen. "Die Perlen entsprechen den Prozent an Kraft, die du als Ruler zu vergeben hast. Sinkt die Prozentzahl eines Huans unter 5%..." Seine Stimme erstarb und er starrte mit einem komplizierten Gesichtsausdruck zu Boden.
"... so stirbt der Huan." Vollendete Nias Schwarm galant den Satz, als hätte er soeben die Wettervorhersage von morgen verkündet. Salvatore entzog seine Hand Cedrics gelockertem Griff.
Nias Denken setzte aus.
Hatte sie das eben richtig gehört? Der Huan würde... sterben? Ihr Magen drehte sich bei dem Gedanken um. Auch wenn sie den Speckkopf nicht mochte... das... das war doch...!
Ohne nachzudenken ergriff sie Cedrics Hand und schloss seine geballte Faust in ihre kleinen Hände. "D-das werde ich nicht zulassen!", fiepste sie und Cedrics Augen wurden merklich größer. Auch Salvatore starrte Nia ungläubig an. Was um alles in der Welt...? Erschrocken schaute der Eisbär-Huan sie an. Binnen weniger Sekunden glühten seine Ohren, sodass Nia verlegen hinzufügte: "I-ich hasse dich zwar, aber sterben will ich dich nicht sehen! Schließlich bist du mein Huan! Du musst für mich kämpfen! Ich habe Verantwortung für dich, oder nicht?"
Cedric schluckte hart und wandte sich aus ihrem Griff. Wortlos kratzte er sich den Nacken. Man konnte nicht sagen, ob er von Nias Worten überrascht, wütend oder verlegen war. Zumindest konnte das schwarzhaarige Mädchen nicht erraten, was in ihm vorging. Doch Salvatore verstand es nur zu gut. Kalte Wut stieg in ihn auf. Das durfte doch nicht wahr sein? Er atmete tief ein und brach die seltsame Stille.
"Eine kurzzeitige Unterschreitung der 5% Hürde ist ungefährlich. Man nennt das 'anreißen'... Der Huan erleidet zwar Schmerzen, aber es besteht keine Lebensgefahr."
Erleichtert atmete Nia auf, doch sie erschrak zugleich. Hatte sie sich ernsthaft Sorgen um den Speckkopf gemacht? Die junge Schülerin war vollkommen von sich selbst entsetzt. Und dann hatte sie vor Salvatores Augen Cedrics Hand ergriffen! Was sollte ihr Schwarm nur davon halten?! Geistesabwesend griff sie sich an den hochroten Kopf. Angestrengt schloss Cedric die Augen und drehte sich weg.
"Ich geh schon mal vor.", waren seine letzten Worte, bevor er die Tür hinter sich schloss.
"Ich werde auch gleich gehen, Nia.", lächelte ihr Schwarm sie aufmunternd an. "Du solltest dich vielleicht ein wenig beeilen, da..." Schweigend und etwas verlegen blickte er an Nia herunter und betrachtete ihren rosafarbenen Häschen-Schlafanzug.
Das Mädchen machte einen Satz und quietschte. "I-ich bin dann mal weg!"
Was war das eben? Cedric musste sich an der nächstbesten Ecke erst einmal gegen die Wand lehnen. Vor wenigen Augenblicken war er noch unglaublich wütend gewesen, als er erneut sein Armband betrachtete... Nur 6%... Das war mehr oder weniger ein Todesurteil für ihn. Salvatore hatte sich seit langem in ihr Herz geschlichen und das zahlte sich jetzt auch aus. Er selbst dagegen...
Aber Nias Reaktion war so anders gewesen als das, was er erwartet hatte. Er wurde förmlich von ihr überrumpelt, als sie seine Hand nahm. Selbst jetzt konnte er noch ihre kalten Fingerspitzen auf seiner Haut spüren...
Cedric knirschte mit den Zähnen. Er durfte sich auf keinen Fall von seinen Gefühlen leiten lassen, egal was er für Nia empfand...
Was war das denn eben? Nias Herz klopfte immer noch, als sie die Badezimmertür hinter sich zugeworfen hatte und eiligst in ihre Schuluniform schlüpfte. Gleichzeitig versuchte sie sich die zotteligen, widerspenstigen Haare zu kämmen.
Sie mochte Cedric gar nicht! Selbst wenige Minuten später hatte sie wieder so einen Hass auf ihn, dass die sonst so schüchterne und zurückhaltende Schülerin ihn am liebsten angeschrien hätte. Und dennoch... sie hatte nicht nur ihre beiden Huans sondern vor allem sich selbst mit ihrer Reaktion überrascht.
So etwas würde niemals wieder vorkommen, das schwor sich Nia. Kalter Hass tobte in ihrer schmalen Brust.
Was war das denn eben? Hatte Salvatore nicht lange genug und hart gearbeitet? Wie Nia die Hand von diesem blassen Widerling genommen hatte... Am liebsten hätte der beliebte Frauenschwarm auf den Boden gespuckt, wenn er nur daran dachte. Es war logisch, dass die schüchterne Rulerin nicht in Freudentänze ausbrechen würde, wenn sie davon erfuhr, dass einer ihrer Huans sterben könnte...
Finster starrte er auf sein Armband. Seine Sorgen waren unbegründet, denn nach wie vor schillerten ihn 94 schwarze Perlen an. Und so schnell würde sich das auch gewiss nicht ändern, dafür würde Salvatore höchstpersönlich sorgen.
~*~
Nach altbekannter Manier war Nia wieder im letzten Moment in das Klassenzimmer gerauscht. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt pünktlich gekommen war, da sie den Weg nicht wusste. Deshalb war sie diverse Gänge hoch und runter gerast und hatte zahlreiche Schüler gefragt, wo es eigentlich langging. Salvatore hatte ihr freundlicherweise zuvor einen Stundenplan zukommen lassen, auf dem glücklicherweise die Räume vermerkt waren.
Vollkommen erschöpft ließ sie sich auf ihren Platz zwischen Salvatore und Cedric fallen. Es gab Dinge, die würden sich wohl nie ändern. Keuchend zog sie ihr Federmäppchen aus der Schultasche und warf es achtlos auf den Tisch.
Der blonde Hüne, der mit verschränkten Armen neben ihr saß, schaute noch finsterer. Bei näherem Betrachten sah Nia eine dünne Bleistiftlinie, die seine Seite des Tisches markierte. Beide schnaubten synchron.
Wie kindisch war das bitte? Sie waren jetzt nicht einfach nur 'Klassenkameraden' sondern Ruler und Huan! So wie es aussah würden sie in Zukunft noch einige Kämpfe bestreiten – da wirkte eine solche Linie nicht gerade förderlich für ihre Zusammenarbeit.
Noch bevor Nia wütend lospoltern konnte, trat Frau Wood in den Raum. Mit ihr ertönte der Gong.
"Setzt euch und schweigt", eröffnete sie die Stunde ohne Umschweife. "Jeder von euch besitzt nun einen offensiven und einen defensiven Huan." Bei diesen Worten wurde Nia ein bedeutungsschwangerer Blick zugeworfen. Das Mädchen zuckte zusammen, als wäre sie persönlich Schuld daran. Nervös schaute sie sich um und bemerkte, dass alle in der gleichen Ordnung saßen: Der Ruler wird von seinen beiden Huans flankiert. Die Gerüchteküche-Chefin Tonia saß mit ihrem aufmüpfigen Huan Akuma mit verbittertem Gesicht an einem Tisch. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und kippelte lässig mit dem Stuhl. Links von ihr musste ihr anderer Huan sein. Optisch war er das komplette Gegenteil von Akuma: Zwar hatte er markante Gesichtszüge und hohe Wangenknochen, aber seine rostbraunen, seidigen Haare waren gepflegt und durchgestylt. Sein langer Pony fiel ihm ins Gesicht und er spielte geistesabwesend mit einer Strähne, die er sich letztlich galant hinters Ohr strich.
Nia ließ ihren Blick weiter schweifen und blieb bei einem der Armbänder haften. Auf den ersten Blick sah es aus, als wären es exakt gleich viele schwarze wie weiße Perlen! Das schwarzhaarige Mädchen brach in kalten Schweiß aus. War das etwa normal, dass man seine beiden Huans relativ gleich gern mochte? Nia wurde schlecht.
Als sie aufsah, traf sich ihr Blick mit dem von Anita. Verängstigt schloss Nia sofort die Augen. Daraufhin hörte sie das leicht belustigte schnaufen ihrer Klassenkameradin. Noch immer spürte Nia den schmerzhaften Druck der Verletzung. Mutig öffnete sie ihre meerblauen Augen und starrte Anita an. Wenn sie wirklich das nächste Mal gegen sie gewinnen wollte, durfte Nia nicht weglaufen! Und bei einem Blickkontakt zu triumphieren war ein erster Anfang für das schüchterne Mädchen. Mit schweißnassen Händen hielt sie den Blick gegen Anita aufrecht. Egal was für ein Mensch Nia war – schüchtern, introvertiert und verängstigt – sie wollte sich nicht mobben lassen!
Und sie war nicht allein. Ihre Huans waren bei ihr, nicht wahr?
Die Zeit schien stillzustehen.
Nach schier endlosen Momenten heftete das Albinomädchen ihren Blick wieder an die Tafel. Ein ungeahntes Glücksgefühl durchströmte Nia. Hatte sie soeben gegen Anita gewonnen? Mit zitternden Händen atmete sie lange aus und richtete ihre Aufmerksamkeit ebenfalls wieder auf Frau Wood.
"Wo fang ich am Besten an, dass es auch jeder von euch in den Quadratschädel bekommt...", murmelte die Pädagogin laut und vernehmlich. Doch scheinbar musste sie gar nicht überlegen, denn unbeirrt fuhr sie fort. "Bestimmt wollt ihr wissen, was Huans überhaupt sind." Wie zur Bestätigung nickten alle anwesenden Ruler eifrig. Anscheinend war nicht nur Nia diese Frage durch den Kopf geschossen.
"Wie ihr vermutet habt, handelt es sich nicht um possierliche Haustierchen."
"Huans sind ein Produkt beschleunigter Evolution."
Frau Wood machte eine lange Pause, damit diese Worte sacken konnten. Nia schnappte hörbar nach Luft. Evolution? Man hatte die Evolution beschleunigt, die sonst viele Millionen Jahre benötigen würde? Alle Schüler starrten entgeistert und atemlos die Lehrerin an.
Nur die Huans schwiegen. Einige hatten die Lippen zusammengepresst. Cedric schaute nicht einmal nach vorne, sondern hatte einen imaginären Punkt auf der Tischplatte fixiert.
"Die Zustände auf der Erde ändern sich. Der rasche Klimawandel hat ebenso rasche Gegenmaßnahmen benötigt, sodass letztlich Huans aus diesem Projekt entstanden sind. Sie sind besser an die Umwelt angepasste Menschen.
Huans sind die Zukunft.
Nicht angepasste Menschen können von ihnen beschützt werden. Und das seid ihr Ruler. Es ist also eine Art Pilotprojekt, ob Huans Ruler beschützen können... Im Kampf oder unter extremen Bedingungen."
Nia musste sich anlehnen. Das war ein bisschen viel auf einmal. Zwar hatte nicht nur sie eine Antwort auf diese brennenden Fragen herbeigesehnt, aber... Das war unerwartet. Beschleunigte Evolution? Schutz der Menschen oder gar der Menschheit, wenn man diesen Gedanken weitersponn?
"Wie dem auch sei.", meinte Frau Wood und machte eine wegwerfende Handbewegung, als handelte es sich um nichts Weltbewegendes. Lässig nahm sie ihre Brille ab und putzte sie mit dem Saum ihres Blazers. "Um diese Situationen zu testen, kämpft ihr mit euren Huans gegeneinander. Einige haben bereits gestern die ein oder andere Erfahrung gestern sammeln können..." Dabei ließ sie den Blick über die Klasse gleiten. Nia folgte ihren Augen und entdeckte dabei auch Miguel, der völlig unberührt dasaß.
Alleine.
Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Das war doch eine Schule voller Ruler und Huans... Warum war er alleine? Hieß das, er war ein Huan ohne Ruler?
Frau Woods Worte rissen Nia aus ihren Gedanken. "Um einen Kampf zu beginnen, müsst ihr euch mit euren Huans 'verbinden'. Dabei kann es zu Schwächeanfällen und Übelkeit kommen, da ihr physisch so viel Macht aushalten müsst. Dieser Vorgang funktioniert mit den einfachen Worten 'Blablabla connect!'. Blablabla steht selbstredend für einen eurer schnuckeligen Huans." Belustigt sah die Lehrerin dabei zu Akuma, der sich mit dem kleinen Finger gerade im Ohr bohrte.
"Jeder Kampf kann spezielle Regeln haben. Diese hängen von eurer Ausrüstung ab, wenn man das mal so formulieren kann." Mit diesen Worten zog sie einen Schlüssel aus der Tasche ihres Sakkos. Es war ein ähnliches Exemplar wie die, die Nia gestern bekommen hatte! Und damit war sie scheinbar nicht die Einzige, wenn sie das aufgeregte Gemurmel der anderen Ruler wahrnahm.
"Das ist nicht einfach nur ein hässlicher, rostiger und alter Schlüssel." Wie zur Bestätigung verwandelte er sich vor den Augen der Anwesenden in einen kaputten Baseballschläger. "Schlüssel sind eure Helferchen beim Kampf. Ihr Ruler seid 'gewöhnliche' Menschen, sodass ihr etwas braucht, um euch zu verteidigen oder gar anzugreifen. Diese Schlüssel helfen euch dabei. Alle Schlüssel sind unterschiedlich und können Gegenstände sein oder eine andere... Funktion haben. Je älter, rostiger und wertloser ein Schlüssel erscheint, desto unnützer ist in der Regel der Gegenstand. Was er überhaupt beinhaltet erfahrt ihr in der Regel erst, wenn ihr ihn einsetzt. Falls ihr jemals je gut im Kampf werdet, könnt ihr es... erfühlen."
Bei diesen Worten war die Lehrerin durch die Reihen der Schüler gegangen.
Mit einer ruckartigen, heftigen Bewegung zerschmetterte sie den Baseballschläger auf Akumas Tisch. Der Schläger barst und Splitter flogen. Erschrocken kreischten einige auf.
"Setz dich richtig hin, bevor ich mich vergesse." Frau Woods Stimme war wie Eis. Kommentarlos und mit rebellischem Blick setzte sich der rebellische Schüler korrekt hin. "Ist es so genehm, Ma'am?", fragte er frech, doch die Lehrerin drehte sich unbeirrt weg und ließ den kümmerlichen Rest des Schlägers zu Boden fallen.
Nia traute ihren Augen nicht, aber... Der Baseballschläger und all die Splitter waren... verschwunden?
"Diese Gegenstände sind für den einmaligen Gebrauch. Sind sie zerstört oder ist der Kampf vorbei, verschwinden sie."
"Ja aber!", muckierte Tonia auf und stellte sich hin. Anklagend funkelte sie die Lehrerin an, die jedoch keine Miene verzog. "Wir sind hier weder im Kampf noch sind sie ein Ruler, der einen solchen 'Schlüssel' benutzen kann, oder etwa doch?"
"Oh, wer hat denn davon gesprochen, dass nur Ruler Schlüssel einsetzen können? Für euch sind sie besonders praktisch, da ihr euch ja auch im Kampf irgendwie behaupten müsst... Aber das schließt uns doch nicht aus! Ganz im Gegenteil." Sie lächelte die Gerüchteküche-Chefin diabolisch an. "Wir können diese Schlüssel auch außerhalb des Kampfes einsetzen."
"Das ist ja total ungerecht!", begehrte Anita wütend auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Auch die anderen Ruler waren empört darüber.
"Das Leben ist kein Ponyhof.", konterte Frau Wood gelassen und baute sich vor dem Albino-Mädchen auf. "Das solltest gerade du wissen, nicht wahr?" Diese Frage war mehr geflüstert als gesprochen und hinterließ eine entgeisterte Anita.
"Im Kampf selbst können sich eure Huans heilen, die Ruler dagegen nicht. Das geht erst danach mit einer besonderen... Methode." Die bedeutungsschwangere Pause ließ Nias Wangen vor Scham glühen. Natürlich meinte Frau Wood damit, dass die verletzte Stelle geküsst werden musste! Wer auch immer sich das ausgedacht hatte, gehörte geohrfeigt!
"Huans haben sogenannte Busshitsu. Das sind meistens Lebensmittel oder Ähnliches, die ein Huan konsumieren muss, damit seine Wunden heilen. Auf Deutsch heißt das Ganze schlicht und ergreifend 'Stoff'."
Für diese Übersetzung erntete Frau Wood einige verhaltene Lacher. Das hörte sich ganz so an, als würde ein Huan Drogen nehmen! Der unbarmherzige Blick der Pädagogin ließ allerdings das Lachen in ihrer Kehle stecken bleiben.
"Ein Busshitsu kann alles mögliche sein. In einigen seltenen Fällen kann das Busshitsu auch lebensgefährlich sein, aber in der Regel nicht. Übrigens halten das Huans geheim, da sie sonst eine Schwäche offenbaren. Nicht einmal die eigenen Ruler kennen meistens die Busshitsus ihrer Huans, also bitte respektiert das. Schließlich kann es für den Gegner auch sehr nützlich sein, wenn er von diesem Schwachpunkt erfährt..."
Ungläubig starrte Nia Salvatore an. Auch er hatte ein 'Busshitsu'? Was das wohl war? Das Mädchen brannte ja darauf, es zu erfahren...! Nervös knetete sie ihre Hände auf dem Schoß.
"Apropos Schwachpunkt...", setzte Frau Wood an, als hätte sie noch eine wichtige Kleinigkeit vergessen. "Auch Schlüssel haben ihre Knackpunkte, abgesehen von dem einmaligen Gebrauch." Dieses Mal zog sie einen Schlüssel aus ihrer Hosentasche hervor. Anders als zuvor war er hochpoliert, filigran und reich verziert. Er war mit zahlreichen Zahnrädern, kleinen Anhängern und einem grünen Stein besetzt. Jeder war sich sicher, dass dieser Schlüssel mehr hervorbringen würde als einen bloßen Baseballschläger!
"Ein solcher Schlüssel ist natürlich viel wertvoller und hat weitreichendere Auswirkungen. Dennoch... dennoch sollte man sie mit Vorsicht genießen."
Nia horchte auf. Es war ja nicht so, als würde man damit die Büchse der Pandora öffnen, oder?
"Wann immer ihr einen besonders mächtigen Schlüssel einsetzt, müsst ihr einen Preis dafür bezahlen. Und damit meine ich kein Geld."
Die Schüler stutzten. Was meinte sie mit 'Preis', wenn nicht der Kaufpreis damit gemeint war? Irgendwie ergab das doch keinen Sinn... Oder musste man etwa für die Schlüssel arbeiten? Oder sie selber schmieden?
"Wenn ihr sehr mächtige Schlüssel einsetzt, kostet euch das etwas. Sei es... physischer Schmerz, ein Gegenstand, der euch sehr viel bedeutet oder gar euer Augenlicht... Es ist nicht umsonst und deshalb solltet ihr sehr behutsam und überlegt damit umgehen."
Das jagte nicht nur Nia einen Schauer über den Rücken. Es war zwar klar, dass es in der Welt der Huans nicht friedfertig war, aber... Etwas so wertvolles wie sein Augenlicht gleich zu opfern? Das ließ das schwarzhaarige Mädchen schwer schlucken. Irgendwie war ihr unglaublich übel. Das hörte sich wahrlich so an, als würden sie hier sehr viel Schmerz und Leid ertragen müssen... Wahrscheinlich auch ohne den Einsatz dieser 'mächtigen Schlüssel', was auch immer das zu bedeuten hatte.
"Wenn ihr einen Kampf erfolgreich bestanden habt, erhaltet ihr Punkte. Diese Punkte könnt ihr gegen Preise eintauschen.... Beispielsweise Schlüssel, die euch im nächsten Kampf helfen können."
Im Grunde ihres Herzens wollte Nia einfach nur weg. Das war alles so surreal! Kämpfen? Huans? Schlüssel, die sich verwandelten? Das hörte sich alles an wie im Märchen oder in einer Fantasystory! Die schüchterne Schülerin knetete noch immer ununterbrochen ihre Hände und dachte dabei an die Niederlage vom Vortag.
Anita hatte sie angespuckt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten sie Pause.
Nia schluckte ihre Angst hinunter. Mit klopfendem Herzen sprang sie auf und ging zu ihrer Mitschülerin mit den pinken Haaren.
"H-hallo!", stotterte das schwarzhaarige Mädchen und starrte auf ihre Fußspitzen. "Dein Name war Lais, richtig?"
Mit entnervtem Blick drehte sich die Angesprochene um und seufzte, als sie Nia erkannte. "Was willst du?" War die Antwort nach einer kurzen Pause. Es wirkte fast so, als wollte sie verleugnen... Aber es gab nunmal niemand anderen mit so einer krassen Haarfarbe und speziellen Frisur. Nia fröstelte es bei dieser eiskalten Frage.
"Ich wollte mich für gestern bedanken!", stammelte sie. Inzwischen standen auch Cedric und Salvatore hinter ihr und lauschten gebannt. Auch der Frauenschwarm nickte dankend. Der blonde Hüne verzog dagegen keine Miene.
"Ist das alles?", fragte Lais mit ihrer monotonen, dunklen Stimme und fixierte Nia so mit ihren stechenden Augen, dass diese sichtbar in Schweiß ausbrach.
"Hehe...", kicherte sie dümmlich und verlegen, während sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr strich. "Du hast mich durchschaut!"
Lais Blick sprach Bände, dass das nicht allzu schwer gewesen sein konnte.
Nia sammelte allen Mut in sich zusammen.
"Ich möchte gegen dich kämpfen!"