Kapitel 15: Müssen nur wollen
Salvatore war mit Absicht kurzzeitig untergetaucht. Es lag auf der Hand, dass Nia sich mit Lais treffen und etwas über den Herzschlüssel in Erfahrung bringen würde. Cedric und er hatten ihrem Ruler wirklich absolut gar nichts erzählt, sodass zumindest diese Basics ans Tageslicht kommen müssten. Die Beschwörung des Herzschlüssels war an und für sich kein Problem für den begehrten Schüler, im Gegenteil: Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, ihn für Nia freizusetzen. Zwar war er in Sachen Schlüsseln nicht annähernd so kundig und geschickt wie sein Kontrahent und Mit-Huan Cedric, aber dennoch wäre es keine Herausforderung gewesen.
Viel mehr ging es ihn um die... "Nebenwirkungen" dieses Vorgangs, die er mit absoluter Sicherheit vermeiden wollte. Verbanden sich erst einmal die Herzen von Ruler und Huan, so lagen alle Gedanken und Gefühle offen. Und Salvatore war ungern jemand, der sich in die Karten blicken ließ. Dafür war er zu perfektionistisch und hatte zu gerne alles unter Kontrolle.
In Gedanken versunken schlenderte er den Gang entlang, als eine rotwangige Nia mit Cedric im Schlepptau auf ihn zugestürzt kam.
"S-Salvatore, wir haben schon überall nach dir gesucht!", keuchte das Mädchen mit leuchtenden Augen. Irgendetwas musste vorgefallen sein! Die Augen des dunkelhäutigen Huans wanderten nach unten und blieben an ihrer Hand hängen. Dort hielt sie fest umklammert einen verdächtig aussehenden, schwarzen Schlüssel mit einem großen, runden Mineral in der Mitte.
"Ist das etwa...?", setzte er überrascht an und warf interessierte Blicke zu Cedric.
"Ja, das ist mein Herzschlüssel!", strahlte Nia über beide Ohren und öffnete ihre Finger, um die kleine Kostbarkeit ordentlich ihrem Schwarm präsentieren zu können. "Cedric hat ihn für mich freigesetzt! Ist er nicht wunderschön?"
Der blonde Hüne bekam rote Ohren. Natürlich galt der letzte Satz nicht ihm, aber dennoch...
"Er ist absolut bezaubernd.", bestätigte Salvatore milde lächelnd und fügte interessiert hinzu: "Aber hat dir das gar keine Angst gemacht? Die Herzschläge und die Gefühle..."
Langsam und zögernd schüttelte Nia den Kopf. "Nein, nicht wirklich. Das Herzklopfen war zwar anfangs seltsam, aber mehr ist ja nicht gewesen. Mir ist nicht schlecht geworden oder so etwas...!" Letzteres klang fast ein wenig stolz. Salvatore wurde hellhörig. Selbst wenn Nia nicht die hellste Lampe am Leuchter war, musste sie doch die Gefühle von Cedric gespürt haben. Und wenn er ihn richtig einschätzte, dürften das nicht zu wenige gewesen sein. Es war mehr als offensichtlich, dass der Eisbärhuan etwas für seinen Ruler übrig hatte. Nia schätzte Salvatore nicht so ein, als könnte sie so gut schauspielern, als dass sie solch eine Begebenheit einfach überspielen würde...
Bevor er weiter nachhaken konnte, sprudelte Nia hervor: "I-ich möchte Anita noch einmal zum Kampf herausfordern. Bitte leih mir deine Kräfte ein weiteres Mal! Dieses Mal werde ich nicht unbeteiligt am Seitenrand stehen und alles über mich ergehen lassen, versprochen!"
Mit fast bettelndem, aber dennoch entschlossenem Blick starrte Nia ihm mit roten Wangen ins Gesicht. Den Herzschlüssel hatte sie fest und kämpferisch umklammert... Aber dennoch konnte man sehen, wie sie zitterte. Jedes dieser Worte hatte sie viel Kraft gekostet, ihr schüchternes Selbst zu überwinden.
Salvatore lächelte ernst. "Nia Toshiki, du bist mein Ruler. Dein Wort ist Gesetz. Natürlich werde ich immer an deiner Seite kämpfen."
Bei diesen Worten wurde sie rot bis in die Haarspitzen. Verlegen zwirbelte sie eine Strähne zwischen ihren Fingern. "I-ich habe allerdings eine Bedingung. Wenn wir gewinnen sollten, werdet ihr mir mehr über die Welt der Huans verraten!"
~*~
"Ich wünschte, wir hätten eine neue Schuluniform bekommen", seufzte das kleine Albinomädchen und schlürfte an ihrem eiskalten Vanilleshake. Anita saß auf einer Bank im kühlenden Schatten. Sie blätterte heute eher lustlos in dem Modemagazin "Fashion for YOU", welches sonst wahre Freudenstürme in ihr auslöste.
"Was ist so verkehrt an der Uniform? Sie ist praktisch und ohne viel Schnickschnack.", hinterfragte der kecke Franz, der sein Bandana richtete, während er einen Fußball auf seinen Zehenspitzen balancierte. Als statt einer richtigen Antwort nur ein Aufblähen der Wangen folgte, zuckte er mit den Schultern. So richtig verstand er seine kleine Rulerin ja nicht. Einerseits zickig und hochnäsig, andererseits ruhig und in sich gekehrt. Mit Hans war auch nicht viel los. Ständig hing er über irgendwelche Bücher oder Postkarten oder faltete Papier. Die beiden waren richtig trübe Tassen! Wie war er da bloß reingeraten?
"Sag mal...", setzte er erneut an, während er den Fußball umherkickte. Bei dem strafenden Blick, den er sich einkassierte, verbesserte er: "Darf ich untertänigst fragen, ob das letztes Mal hat sein müssen? Du weißt schon... Der Kampf mit Nia und dein... Ausbruch."
Anita schwieg. Natürlich wusste sie genau, worauf er anspielte – sie konnte selber nicht so recht fassen, was sie da getan hatte. Nicht nur, dass sie Nia zu Boden gebracht hatte, nein... Sie hatte Nia beleidigt, beschimpft und gedemütigt. Zwar mochte sie ihre Mitschülerin nicht sonderlich und konnte gelegentlich sehr gehässig und herablassend sein... Aber niemals hätte sie von sich selbst gedacht, dass sie zu etwas in der Lage ist!
Wahrscheinlich war es der angestaute Frust gewesen. Eigentlich hatte Anita eine Karriere als Modedesignerin im Blick gehabt, bis sie plötzlich so aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen worden war – Hinein in eine abstruse, unglaubliche andere Welt! So ganz wollte sie das mit den Huans allerdings nicht akzeptieren, auch wenn sie bereits mit ihren Kumpanen gekämpft und gewonnen hatte. Und dann war da auch noch Tanja... Bisher waren Tonia, Tanja und sie das unzertrennliche Trio gewesen. Natürlich leuchtete es Anita ein, dass sich jetzt spätestens nach dem Schulabschluss ihre Wege getrennt hätten... Aber sie hätten zumindest Kontakt gehalten! Wäre es nicht sagenhaft gewesen, wenn Anita die Kleidung designt, Tonia sie geschneidert und Tanja sie als Model getragen hätte? Das wäre eine unfehlbare Kombo gewesen!
Aber nein... Sie konnten Tanja nicht erreichen. Es war wie verhext! Die Außenmauern der Schule waren so hoch, dass man nicht einmal mehr die Baumwipfel sehen konnte. Außerdem schien es keine Eingänge zu geben... Das hatte zumindest Anitas bisherige, einmalige Erkundungstour gegeben. So schnell würde sie natürlich nicht aufgeben, das war sicher! Jedes Sicherheitsnetz hatte Lücken und sie würde nicht ruhen, ehe sie es gefunden hatte!
Tonia ging es bestimmt ähnlich. Auch sie vermisste Tanja schmerzlich, das erkannte Anita allein an ihrem Gesichtsausdruck. Beide hatte außerdem die Huans-Sache mit Salvatore schwer getroffen... Wenn Anita so darüber nachdachte, musste es Nia eigentlich genauso ergehen. Abgesehen von Salvatore, musste sie sich sehr einsam und verlassen ohne ihre beste und zeitgleich einzige Freundin Katja fühlen. Anita mochte sich gar nicht ausmalen, wie schrecklich es ohne Freundin an ihrer Seite sein mochte... Wenn Anita nicht so einen tiefen Groll gegen ihre Mitschülerin hegen würde, hätte sie Mitleid. Nia hatte es wahrlich nicht einfach... Und dadurch, dass nun Salvatore ihr Huan war, zog sie noch mehr Hass und ungewollte Aufmerksamkeit auf sich als ohnehin schon. Es stimmte zwar, dass Nia ein sehr hübsches Ding war, aber jedem Mädchen ging ihre hilflose, stotternde Art auf die Nerven. Null Komma Zero Selbstvertrauen und nah am Wasser gebaut. Das nervte alle Schülerinnen gleichermaßen. Das war natürlich noch lange kein Grund, jemanden zu bespucken, aber wenn sie sich wenigstens wehren und kämpfen würde! Es musste doch irgendwo in ihren kleinen zierlichen Körper einen Funken an Kampfgeist geben, oder? Allein bei dem Gedanken, dass sich jemand nicht wehrt, wenn er ungerecht behandelt wurde, musste Anita in ihren Vanilleshake schnauben.
"Ich werte das jetzt mal untertänigst als 'Du hast recht aber ich würde es niemals zugeben!'.", konstatierte Franz, der das komplizierte Mienenspiel von Mitleid über Wut gebannt mitverfolgt hatte. Gerade schnappte Anita empört nach Luft, als...
"A-Anita! Ich fordere dich zu einer Revanche heraus.", stotterte eine fragile, schwarzhaarige Gestalt mit stechend blauen Augen und hoher, fiepsender Stimme.
Nia Toshiki.
Das Albinomädchen traute für ein paar Sekunden ihren Augen nicht. War das tatsächlich die Nia Toshiki, über die sie soeben noch so abfällig geredet hatte? Der sie wünschte, sie hätte ein bisschen mehr Mumm in den Knochen?
Ein Lächeln kräuselte Anitas Lippen nach oben.
Langsam fingen die Dinge an, interessant zu werden!
"Nichts lieber als das.", antwortete Anita und setzte ihren Shake mit so viel Schwung auf der Bank ab, dass Hans zusammenzuckte. "Wollen wir doch mal sehen, wer in Runde zwei die bessere von uns beiden ist!"
~*~
Nias Herz pochte ihr bis zum Hals. Sie wollte nach wie vor gegen Anita kämpfen, das stand außer Frage – aber sie hatte dennoch weiche Knie und ein flaues Gefühl im Magen. Ihre Hände waren eiskalt und schweißnass. Forderte sie soeben eines der Mädchen heraus, das sie so gemobbt hatte? Welches sie erst kürzlich ungespitzt in den Boden gerammt hatte? Welches sie beleidigt, besiegt und gedemütigt hatte?
Mit einem Mal war ihr schlecht. Nia fühlte sich wie David gegen Goliath. Zwar war Anita deutlich kleiner als sie, aber Nia hatte sich nie so mächtig gefühlt wie ihre Mitschülerin sondern immer eingesteckt. Gerade deswegen waren die Nerven der Schwarzhaarigen bis zum Zerreißen gespannt. Wenn sie sich wirklich weiterentwickeln wollte, musste sie gegen Anita siegreich aus dem Kampf hervorgehen... Nia wollte... Nein, Nia konnte sich nicht länger verstecken.
Die beiden Ruler mit ihren Huans waren wieder am selben Trainingsplatz, wo bereits der erste Kampf stattgefunden hatte. Nia schmeckte direkt noch die Bitterkeit der Niederlage und den glühenden Scham, den sie erlitten hatte.
"Also dann, kleine Nia... Lass uns nicht lange rumfackeln!", meinte Anita hochnäsig. "Hans, Franz – connect!"
Die Angesprochene verlor keine Zeit. "S-Salvatore, Cedric – connect!"
Die Augen ihrer Huans weiteten sich. Sie wollte wirklich sie beide im Kampf einsetzen? Sogar Cedric, den sie bisher gemieden hat wie der Teufel das Weihwasser?
Fasziniert und angeekelt zugleich beobachtete Nia die Verwandlung ihres Eisbärhuans. Sein Schädel wurde flacher und wuchtiger, während in Windeseile seine Haare weiß wurden und über den ganzen Körper wucherten. Das Geräusch brechender Knochen ließ einen den Atem stocken. Haut platzte auf und darunter konnte man wie eine sich windende Schlange sehen, wie Muskeln, Knochen und Adern wuchsen. Wo soeben noch der Handteller war, wuchsen mächtige Pranken. Sein Körper krümmte sich zusammen und zog sich in die Länge.
Binnen weniger Sekunden war der Zauber vorbei und vor dem filigranen Ruler stand ein ausgewachsener, furchteinflößend großer Eisbär. Er schnaubte. Wenigstens diese Angewohnheit konnte sich Cedric auch als Eisbär nicht abgewöhnen. Sofort spürte Nia einen krampfhaften, schmerzhaften Druck auf ihrem Brustkorb, als hätte man einen Amboss darauf gelegt. Das Atmen fiel ihr sichtlich schwer. Muskelfasern im ganzen Körper verkrampften sich und ihr war speiübel. Alles drehte sich. Jedes Geräuscht kam verzerrt bei ihr an.
"L-los!", stotterte sie atemlos und deutete so entschlossen wie es unter den Schmerzen ging auf ihre Kontrahenten, die das Spektakel der Verwandlung gebannt mitangesehen hatten. Nia sog die Luft scharf ein. Jetzt galt es.
Ohne zu zögern zückte Nia ihren schwarzen Herzschlüssel. Er schmolz in ihrer Hand und hinterließ ein sanftes Leuchten. Binnen Sekunden schoss in ihrer Hand eine riesige Waffe hervor.
"Ein Degen!", flüsterte Nia ehrfurchtsvoll. Die lange Waffe mit der verhältnismäßig dünnen, annähernd v-förmigen Klinge lag gut in der Hand. Der schwarze Griffkorb war mit floralen Elementen verziert. Ebenso schwarz war die Klinge. Der Griff bestand aus Knochen, in dem eine skelettierte Hand geschnitzt war. Sie schien ebenso wie das Mädchen den Griff der Waffe fest zu umklammern und sich ihrer Aufgabe bewusst zu sein. Am Ende des Griffs befand sich ein blauer Edelstein.
"Kannst du dir leisten, deine Herzwaffe so lange anzustarren?", keifte eine bedrohlich nahe Anita. Sie holte zum Schlag aus. Reflexartig riss Nia den Degen vors Gesicht, um sich zu schützen. Ein spitzer Schrei ertönte. Ein langer, blutiger Striemen zierte das Gesicht des kleinen Albinomädchens. Wie angewurzelt stand Nia da. Kalter Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Sie hatte soeben einen Menschen verletzt! In Panik öffnete sie den Mund und wollte sich entschuldigen.
Warum?
Dies war ein Kampf. Um zu gewinnen, musste sie auch einmal austeilen und nicht nur einstecken. Der Gedanke machte ihr Angst. Zu oft hatte sie selbst Schmerzen erlebt, als dass sie jemand Anderem welche zufügen wollte. Nia wusste, wie lange die Wunden zum Heilen brauchten, auch wenn längst keine offene Verletzung mehr zu sehen war. All das wusste sie... Und dennoch konnte sie nun keinen Rückzieher machen. Sie hatte sich insgeheim geschworen, alles bei diesem Kampf zu geben. Katja war nicht mehr an ihrer Seite, darum musste sie lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Dies konnte sie aber nur schaffen, wenn sie sich traute. Sich traute zu kämpfen und auch zu verletzen!
"K-komm nicht näher, sonst verpasse ich dir noch eine!", fiepste Nia eine Zeile wie aus einem erstklassigen Schundheft.
"Pfft! Als ob!", höhnte Anita und wischte sich das Blut von der Wange. Das satte rot hatte fast dieselbe Farbe wie ihre Augen. Es lag ein bedrohliches Funkeln darin.
Doch bevor sich die Mädchen auch nur rühren konnten, hallte das dröhnende Trompeten über den Kampfplatz. Cedric hatte sich im Ohr des Elefanten festgebissen. Mit roher Gewalt riss er einen riesigen Fetzen Haut heraus. Blut strömte über sein Gesicht und färbte sein Fell rot. Hans griff mit dem Rüssel nach ihm, doch Cedric biss erneut zu. Man konnte den mächtigen Kiefer mahlen sehen.. Schmerzerfüllt versuchte der Elefantenhuan den Rüssel wegzuziehen., doch der Eisbär lockerte seinen Biss etwas. Lange, blutende Bissspuren entstanden. Der Elefant hob einen seiner Füße. Er wollte Cedric unter sich begraben. Doch er war schneller und stellte sich auf die Hinterpfoten. Aufgerichtet war er beinahe so groß wie sein Kontrahent. Hans drehte sich mit dem Gesicht erstaunt zu ihm. Ein fataler Fehler. Der Eisbär holte mit seiner Pranke aus und zerkratzte ihm die Augen.
Der Schrei ging durch Mark und Bein. Blind und taub vor Schmerz griff Hans mit seinem Rüssel wahllos in die Luft. Beinahe hätte er Salvatore erwischt, der gerade Ziel auf Franz genommen hatte.
Mit seinen weit ausgebreiteten Flügeln überschattete er die gesamte Körperlänge des sibirischen Tigers. Beider Krallen waren ausgefahren. Das Rückenfell war zottig aufgerichtet. Das Gesicht vor Wut verzerrt und angespannt. Ein leises, bedrohliches Fauchen aus tiefster Kehle war zu hören.
Salvatore setzte zum Sturzflug an. Mit nach vorne ausgestreckten Krallen flog er knapp über den Rücken des Tigers. Er hatte ihn mit Absicht verfehlt. Zornig wirbelte die Großkatze herum, um den Angreifer doch noch zu erhaschen. Doch der Weißkopfseeadler machte eine scharfe Kurve und flog Franz mit den Krallen über das Gesicht. Blut spritzte aus den klaffenden Wunden. Giftiges, von Schmerz gepeinigtes Fauchen mischte sich unter die Klagelaute des Elefanten. Auch hier waren die Augen zerkratzt und bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt worden.
"Hans! Franz!", war alles, was Anita rufen konnte. Sie stand unter Schock und hatte Nia den Rücken zugekehrt. Sie musste die Gunst der Stunde nutzen! Salvatore und Cedric hatten gekämpft und sie konnte das auch!
Mit bleischweren Füßen und stockendem Atem trat Nia dem Albinomädchen in die Kniekehle. Ein erschrockener Laut entfuhr ihr. Im nächsten Augenblick lag sie bereits auf dem Boden. Nias Schatten schwebte bedrohlich über ihr. Anita versuchte sich aufzurappeln, doch sofort hatte sie die Klinge des Degens am Hals.
"G-Gib auf, Anita!", stotterte die Schwarzhaarige so entschlossen, wie es unter den Schmerzen der Last nur ging.
"Du kannst ja diesen Satz nicht mal ohne Stottern hervorbringen! Von so jemanden lasse ich mich nicht besiegen!", keifte die Angesprochene wutentbrannt. Wer absolut kein Selbstvertrauen hatte, gehörte nicht aufs Schlachtfeld, so einfach war das!
"Nein!", konterte Nia und Anita starrte sie mit weit geöffneten Augen an. Hatte die Nia ihr gerade widersprochen? Die Nia, die eine wunderbare Zielscheibe für jegliche Mobbingattacken war? Sie musste sich wohl verhört haben!
"Seh es ein, Anita. Deine beiden Huans sind praktisch blind... Du kannst nicht mehr weiterkämpfen. Und ich habe immer noch Salvatore und den Eisbären an meiner Seite! Es ist jetzt viel wichtiger, dass du deine Huans jetzt so schnell wie möglich verarztest, statt so stolz und sturköpfig zu sein!"
Wie zur Bestätigung gesellte sich der Eisbär und der Weißkopfseeadler rechts und links zu ihr dazu. Anita knirschte mit den Zähnen. Widerwillig blickte sie in Richtung Hans und Franz. Beide krümmten sich unter Schmerzen zusammen und versuchten dennoch, weiterzukämpfen. Blutige, zerrissene Augen drehten Anita den Magen um. Es war wirklich falscher Stolz, den sie hatte. Sie wollte nicht akzeptieren, dass ausgerechnet Nia sie so einfach zur Strecke gebracht hatte. Mehr als einen Zufallstreffer und einen Kick in die Kniekehle hatte sie nicht geleistet! Und dennoch war sie machtlos gegen zwei Huans und einer bewaffneten Null.
"Du hast gewonnen.", musste sie sich selbst eingestehen. Sie hatte einfach nicht damit gerechnet, dass Salvatore und Cedric diesmal so ernst machen würden und auch Nia angreifen würde.
"Ich habe gewonnen? E-ehrlich?", echote Nia verdattert. Ein Lächeln, welches der aufgehenden Sonne Konkurrenz machte, machte sich auf ihrem Gesicht breit. Tränen der Erleichterung schossen ihr in die Augen. Zittrig vor Freude reichte Nia ihrer Kontrahentin die Hand. Grummelig und trotzig starrte Anita die makellosen Finger an. Mit großem Widerwillen schlug sie ein und ließ sich hochziehen. Dann riss sie sich augenblicklich von ihrer Hand los und ging in Richtung ihrer eigenen Huans.
"Hans, Franz – disconnect!", sagte sie emotionslos und führte die beiden schwer verwundeten, nahezu blinden Kämpfer vom Platz. Nia tat es ihr gleich.
"Salvatore, Cedric – disconnect!" Wie von Zauberhand verwandelten sich die wilden, blutverschmierten Tiere in zwei ansehnliche junge Männer. Die natürlich ebenfalls voller Blut waren, aber beide sehr stolz auf Nia blickten. Der Schmerz, der das Mädchen so gequält und betäubt hatte, ließ augenblicklich nach. Es war, als würde sie endlich wieder ganz durchatmen können. War die Luft schon immer so klar und süß? Oder kam das vom errungenen Sieg?
Nia hatte tatsächlich Anita besiegt! Das musste erst einmal durch ihr Unterbewusstsein sickern. Gegen Anita! Die Anita, die einer der Köpfe der Gerüchteküche war und sie gemobbt hatte! Wegen der sie solche Angst hatte und oft Bauchschmerzen bekommen hatte. Die sie gedemütigt und bespuckt hatte... Genau gegen die!
Nias Beine waren wie Wackelpudding. Wenn Katja das hören würde, sie wäre so stolz auf sie! Sie hatte es geschafft, sie hatte aus eigener Kraft Anita in die Knie gezwungen. Bei diesem Wortwitz musste sie kichern.
Sie hatte es geschafft. Wie sehr sie sich doch wünschte, das Katja berichten zu können! Aus einem anfänglichen, unterdrücktem Kichern wurde ein glucksen und schließlich lachte Nia laut und ungehemmt. Glücklich und bis in die Haarspitzen voller Endorphine ließ sie sich nach hinten auf den Boden fallen. Wie schön dieser Tag doch war! Was für eine unglaubliche Wendung er genommen hatte!
Katja... was sie jetzt wohl machte? Nia vermisste sie schmerzlich.
Doch den Gedanken konnte sie nicht weiterspinnen, da Cedric neben ihr wie ein Stein umkippte.
Viel mehr ging es ihn um die... "Nebenwirkungen" dieses Vorgangs, die er mit absoluter Sicherheit vermeiden wollte. Verbanden sich erst einmal die Herzen von Ruler und Huan, so lagen alle Gedanken und Gefühle offen. Und Salvatore war ungern jemand, der sich in die Karten blicken ließ. Dafür war er zu perfektionistisch und hatte zu gerne alles unter Kontrolle.
In Gedanken versunken schlenderte er den Gang entlang, als eine rotwangige Nia mit Cedric im Schlepptau auf ihn zugestürzt kam.
"S-Salvatore, wir haben schon überall nach dir gesucht!", keuchte das Mädchen mit leuchtenden Augen. Irgendetwas musste vorgefallen sein! Die Augen des dunkelhäutigen Huans wanderten nach unten und blieben an ihrer Hand hängen. Dort hielt sie fest umklammert einen verdächtig aussehenden, schwarzen Schlüssel mit einem großen, runden Mineral in der Mitte.
"Ist das etwa...?", setzte er überrascht an und warf interessierte Blicke zu Cedric.
"Ja, das ist mein Herzschlüssel!", strahlte Nia über beide Ohren und öffnete ihre Finger, um die kleine Kostbarkeit ordentlich ihrem Schwarm präsentieren zu können. "Cedric hat ihn für mich freigesetzt! Ist er nicht wunderschön?"
Der blonde Hüne bekam rote Ohren. Natürlich galt der letzte Satz nicht ihm, aber dennoch...
"Er ist absolut bezaubernd.", bestätigte Salvatore milde lächelnd und fügte interessiert hinzu: "Aber hat dir das gar keine Angst gemacht? Die Herzschläge und die Gefühle..."
Langsam und zögernd schüttelte Nia den Kopf. "Nein, nicht wirklich. Das Herzklopfen war zwar anfangs seltsam, aber mehr ist ja nicht gewesen. Mir ist nicht schlecht geworden oder so etwas...!" Letzteres klang fast ein wenig stolz. Salvatore wurde hellhörig. Selbst wenn Nia nicht die hellste Lampe am Leuchter war, musste sie doch die Gefühle von Cedric gespürt haben. Und wenn er ihn richtig einschätzte, dürften das nicht zu wenige gewesen sein. Es war mehr als offensichtlich, dass der Eisbärhuan etwas für seinen Ruler übrig hatte. Nia schätzte Salvatore nicht so ein, als könnte sie so gut schauspielern, als dass sie solch eine Begebenheit einfach überspielen würde...
Bevor er weiter nachhaken konnte, sprudelte Nia hervor: "I-ich möchte Anita noch einmal zum Kampf herausfordern. Bitte leih mir deine Kräfte ein weiteres Mal! Dieses Mal werde ich nicht unbeteiligt am Seitenrand stehen und alles über mich ergehen lassen, versprochen!"
Mit fast bettelndem, aber dennoch entschlossenem Blick starrte Nia ihm mit roten Wangen ins Gesicht. Den Herzschlüssel hatte sie fest und kämpferisch umklammert... Aber dennoch konnte man sehen, wie sie zitterte. Jedes dieser Worte hatte sie viel Kraft gekostet, ihr schüchternes Selbst zu überwinden.
Salvatore lächelte ernst. "Nia Toshiki, du bist mein Ruler. Dein Wort ist Gesetz. Natürlich werde ich immer an deiner Seite kämpfen."
Bei diesen Worten wurde sie rot bis in die Haarspitzen. Verlegen zwirbelte sie eine Strähne zwischen ihren Fingern. "I-ich habe allerdings eine Bedingung. Wenn wir gewinnen sollten, werdet ihr mir mehr über die Welt der Huans verraten!"
~*~
"Ich wünschte, wir hätten eine neue Schuluniform bekommen", seufzte das kleine Albinomädchen und schlürfte an ihrem eiskalten Vanilleshake. Anita saß auf einer Bank im kühlenden Schatten. Sie blätterte heute eher lustlos in dem Modemagazin "Fashion for YOU", welches sonst wahre Freudenstürme in ihr auslöste.
"Was ist so verkehrt an der Uniform? Sie ist praktisch und ohne viel Schnickschnack.", hinterfragte der kecke Franz, der sein Bandana richtete, während er einen Fußball auf seinen Zehenspitzen balancierte. Als statt einer richtigen Antwort nur ein Aufblähen der Wangen folgte, zuckte er mit den Schultern. So richtig verstand er seine kleine Rulerin ja nicht. Einerseits zickig und hochnäsig, andererseits ruhig und in sich gekehrt. Mit Hans war auch nicht viel los. Ständig hing er über irgendwelche Bücher oder Postkarten oder faltete Papier. Die beiden waren richtig trübe Tassen! Wie war er da bloß reingeraten?
"Sag mal...", setzte er erneut an, während er den Fußball umherkickte. Bei dem strafenden Blick, den er sich einkassierte, verbesserte er: "Darf ich untertänigst fragen, ob das letztes Mal hat sein müssen? Du weißt schon... Der Kampf mit Nia und dein... Ausbruch."
Anita schwieg. Natürlich wusste sie genau, worauf er anspielte – sie konnte selber nicht so recht fassen, was sie da getan hatte. Nicht nur, dass sie Nia zu Boden gebracht hatte, nein... Sie hatte Nia beleidigt, beschimpft und gedemütigt. Zwar mochte sie ihre Mitschülerin nicht sonderlich und konnte gelegentlich sehr gehässig und herablassend sein... Aber niemals hätte sie von sich selbst gedacht, dass sie zu etwas in der Lage ist!
Wahrscheinlich war es der angestaute Frust gewesen. Eigentlich hatte Anita eine Karriere als Modedesignerin im Blick gehabt, bis sie plötzlich so aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen worden war – Hinein in eine abstruse, unglaubliche andere Welt! So ganz wollte sie das mit den Huans allerdings nicht akzeptieren, auch wenn sie bereits mit ihren Kumpanen gekämpft und gewonnen hatte. Und dann war da auch noch Tanja... Bisher waren Tonia, Tanja und sie das unzertrennliche Trio gewesen. Natürlich leuchtete es Anita ein, dass sich jetzt spätestens nach dem Schulabschluss ihre Wege getrennt hätten... Aber sie hätten zumindest Kontakt gehalten! Wäre es nicht sagenhaft gewesen, wenn Anita die Kleidung designt, Tonia sie geschneidert und Tanja sie als Model getragen hätte? Das wäre eine unfehlbare Kombo gewesen!
Aber nein... Sie konnten Tanja nicht erreichen. Es war wie verhext! Die Außenmauern der Schule waren so hoch, dass man nicht einmal mehr die Baumwipfel sehen konnte. Außerdem schien es keine Eingänge zu geben... Das hatte zumindest Anitas bisherige, einmalige Erkundungstour gegeben. So schnell würde sie natürlich nicht aufgeben, das war sicher! Jedes Sicherheitsnetz hatte Lücken und sie würde nicht ruhen, ehe sie es gefunden hatte!
Tonia ging es bestimmt ähnlich. Auch sie vermisste Tanja schmerzlich, das erkannte Anita allein an ihrem Gesichtsausdruck. Beide hatte außerdem die Huans-Sache mit Salvatore schwer getroffen... Wenn Anita so darüber nachdachte, musste es Nia eigentlich genauso ergehen. Abgesehen von Salvatore, musste sie sich sehr einsam und verlassen ohne ihre beste und zeitgleich einzige Freundin Katja fühlen. Anita mochte sich gar nicht ausmalen, wie schrecklich es ohne Freundin an ihrer Seite sein mochte... Wenn Anita nicht so einen tiefen Groll gegen ihre Mitschülerin hegen würde, hätte sie Mitleid. Nia hatte es wahrlich nicht einfach... Und dadurch, dass nun Salvatore ihr Huan war, zog sie noch mehr Hass und ungewollte Aufmerksamkeit auf sich als ohnehin schon. Es stimmte zwar, dass Nia ein sehr hübsches Ding war, aber jedem Mädchen ging ihre hilflose, stotternde Art auf die Nerven. Null Komma Zero Selbstvertrauen und nah am Wasser gebaut. Das nervte alle Schülerinnen gleichermaßen. Das war natürlich noch lange kein Grund, jemanden zu bespucken, aber wenn sie sich wenigstens wehren und kämpfen würde! Es musste doch irgendwo in ihren kleinen zierlichen Körper einen Funken an Kampfgeist geben, oder? Allein bei dem Gedanken, dass sich jemand nicht wehrt, wenn er ungerecht behandelt wurde, musste Anita in ihren Vanilleshake schnauben.
"Ich werte das jetzt mal untertänigst als 'Du hast recht aber ich würde es niemals zugeben!'.", konstatierte Franz, der das komplizierte Mienenspiel von Mitleid über Wut gebannt mitverfolgt hatte. Gerade schnappte Anita empört nach Luft, als...
"A-Anita! Ich fordere dich zu einer Revanche heraus.", stotterte eine fragile, schwarzhaarige Gestalt mit stechend blauen Augen und hoher, fiepsender Stimme.
Nia Toshiki.
Das Albinomädchen traute für ein paar Sekunden ihren Augen nicht. War das tatsächlich die Nia Toshiki, über die sie soeben noch so abfällig geredet hatte? Der sie wünschte, sie hätte ein bisschen mehr Mumm in den Knochen?
Ein Lächeln kräuselte Anitas Lippen nach oben.
Langsam fingen die Dinge an, interessant zu werden!
"Nichts lieber als das.", antwortete Anita und setzte ihren Shake mit so viel Schwung auf der Bank ab, dass Hans zusammenzuckte. "Wollen wir doch mal sehen, wer in Runde zwei die bessere von uns beiden ist!"
~*~
Nias Herz pochte ihr bis zum Hals. Sie wollte nach wie vor gegen Anita kämpfen, das stand außer Frage – aber sie hatte dennoch weiche Knie und ein flaues Gefühl im Magen. Ihre Hände waren eiskalt und schweißnass. Forderte sie soeben eines der Mädchen heraus, das sie so gemobbt hatte? Welches sie erst kürzlich ungespitzt in den Boden gerammt hatte? Welches sie beleidigt, besiegt und gedemütigt hatte?
Mit einem Mal war ihr schlecht. Nia fühlte sich wie David gegen Goliath. Zwar war Anita deutlich kleiner als sie, aber Nia hatte sich nie so mächtig gefühlt wie ihre Mitschülerin sondern immer eingesteckt. Gerade deswegen waren die Nerven der Schwarzhaarigen bis zum Zerreißen gespannt. Wenn sie sich wirklich weiterentwickeln wollte, musste sie gegen Anita siegreich aus dem Kampf hervorgehen... Nia wollte... Nein, Nia konnte sich nicht länger verstecken.
Die beiden Ruler mit ihren Huans waren wieder am selben Trainingsplatz, wo bereits der erste Kampf stattgefunden hatte. Nia schmeckte direkt noch die Bitterkeit der Niederlage und den glühenden Scham, den sie erlitten hatte.
"Also dann, kleine Nia... Lass uns nicht lange rumfackeln!", meinte Anita hochnäsig. "Hans, Franz – connect!"
Die Angesprochene verlor keine Zeit. "S-Salvatore, Cedric – connect!"
Die Augen ihrer Huans weiteten sich. Sie wollte wirklich sie beide im Kampf einsetzen? Sogar Cedric, den sie bisher gemieden hat wie der Teufel das Weihwasser?
Fasziniert und angeekelt zugleich beobachtete Nia die Verwandlung ihres Eisbärhuans. Sein Schädel wurde flacher und wuchtiger, während in Windeseile seine Haare weiß wurden und über den ganzen Körper wucherten. Das Geräusch brechender Knochen ließ einen den Atem stocken. Haut platzte auf und darunter konnte man wie eine sich windende Schlange sehen, wie Muskeln, Knochen und Adern wuchsen. Wo soeben noch der Handteller war, wuchsen mächtige Pranken. Sein Körper krümmte sich zusammen und zog sich in die Länge.
Binnen weniger Sekunden war der Zauber vorbei und vor dem filigranen Ruler stand ein ausgewachsener, furchteinflößend großer Eisbär. Er schnaubte. Wenigstens diese Angewohnheit konnte sich Cedric auch als Eisbär nicht abgewöhnen. Sofort spürte Nia einen krampfhaften, schmerzhaften Druck auf ihrem Brustkorb, als hätte man einen Amboss darauf gelegt. Das Atmen fiel ihr sichtlich schwer. Muskelfasern im ganzen Körper verkrampften sich und ihr war speiübel. Alles drehte sich. Jedes Geräuscht kam verzerrt bei ihr an.
"L-los!", stotterte sie atemlos und deutete so entschlossen wie es unter den Schmerzen ging auf ihre Kontrahenten, die das Spektakel der Verwandlung gebannt mitangesehen hatten. Nia sog die Luft scharf ein. Jetzt galt es.
Ohne zu zögern zückte Nia ihren schwarzen Herzschlüssel. Er schmolz in ihrer Hand und hinterließ ein sanftes Leuchten. Binnen Sekunden schoss in ihrer Hand eine riesige Waffe hervor.
"Ein Degen!", flüsterte Nia ehrfurchtsvoll. Die lange Waffe mit der verhältnismäßig dünnen, annähernd v-förmigen Klinge lag gut in der Hand. Der schwarze Griffkorb war mit floralen Elementen verziert. Ebenso schwarz war die Klinge. Der Griff bestand aus Knochen, in dem eine skelettierte Hand geschnitzt war. Sie schien ebenso wie das Mädchen den Griff der Waffe fest zu umklammern und sich ihrer Aufgabe bewusst zu sein. Am Ende des Griffs befand sich ein blauer Edelstein.
"Kannst du dir leisten, deine Herzwaffe so lange anzustarren?", keifte eine bedrohlich nahe Anita. Sie holte zum Schlag aus. Reflexartig riss Nia den Degen vors Gesicht, um sich zu schützen. Ein spitzer Schrei ertönte. Ein langer, blutiger Striemen zierte das Gesicht des kleinen Albinomädchens. Wie angewurzelt stand Nia da. Kalter Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Sie hatte soeben einen Menschen verletzt! In Panik öffnete sie den Mund und wollte sich entschuldigen.
Warum?
Dies war ein Kampf. Um zu gewinnen, musste sie auch einmal austeilen und nicht nur einstecken. Der Gedanke machte ihr Angst. Zu oft hatte sie selbst Schmerzen erlebt, als dass sie jemand Anderem welche zufügen wollte. Nia wusste, wie lange die Wunden zum Heilen brauchten, auch wenn längst keine offene Verletzung mehr zu sehen war. All das wusste sie... Und dennoch konnte sie nun keinen Rückzieher machen. Sie hatte sich insgeheim geschworen, alles bei diesem Kampf zu geben. Katja war nicht mehr an ihrer Seite, darum musste sie lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Dies konnte sie aber nur schaffen, wenn sie sich traute. Sich traute zu kämpfen und auch zu verletzen!
"K-komm nicht näher, sonst verpasse ich dir noch eine!", fiepste Nia eine Zeile wie aus einem erstklassigen Schundheft.
"Pfft! Als ob!", höhnte Anita und wischte sich das Blut von der Wange. Das satte rot hatte fast dieselbe Farbe wie ihre Augen. Es lag ein bedrohliches Funkeln darin.
Doch bevor sich die Mädchen auch nur rühren konnten, hallte das dröhnende Trompeten über den Kampfplatz. Cedric hatte sich im Ohr des Elefanten festgebissen. Mit roher Gewalt riss er einen riesigen Fetzen Haut heraus. Blut strömte über sein Gesicht und färbte sein Fell rot. Hans griff mit dem Rüssel nach ihm, doch Cedric biss erneut zu. Man konnte den mächtigen Kiefer mahlen sehen.. Schmerzerfüllt versuchte der Elefantenhuan den Rüssel wegzuziehen., doch der Eisbär lockerte seinen Biss etwas. Lange, blutende Bissspuren entstanden. Der Elefant hob einen seiner Füße. Er wollte Cedric unter sich begraben. Doch er war schneller und stellte sich auf die Hinterpfoten. Aufgerichtet war er beinahe so groß wie sein Kontrahent. Hans drehte sich mit dem Gesicht erstaunt zu ihm. Ein fataler Fehler. Der Eisbär holte mit seiner Pranke aus und zerkratzte ihm die Augen.
Der Schrei ging durch Mark und Bein. Blind und taub vor Schmerz griff Hans mit seinem Rüssel wahllos in die Luft. Beinahe hätte er Salvatore erwischt, der gerade Ziel auf Franz genommen hatte.
Mit seinen weit ausgebreiteten Flügeln überschattete er die gesamte Körperlänge des sibirischen Tigers. Beider Krallen waren ausgefahren. Das Rückenfell war zottig aufgerichtet. Das Gesicht vor Wut verzerrt und angespannt. Ein leises, bedrohliches Fauchen aus tiefster Kehle war zu hören.
Salvatore setzte zum Sturzflug an. Mit nach vorne ausgestreckten Krallen flog er knapp über den Rücken des Tigers. Er hatte ihn mit Absicht verfehlt. Zornig wirbelte die Großkatze herum, um den Angreifer doch noch zu erhaschen. Doch der Weißkopfseeadler machte eine scharfe Kurve und flog Franz mit den Krallen über das Gesicht. Blut spritzte aus den klaffenden Wunden. Giftiges, von Schmerz gepeinigtes Fauchen mischte sich unter die Klagelaute des Elefanten. Auch hier waren die Augen zerkratzt und bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt worden.
"Hans! Franz!", war alles, was Anita rufen konnte. Sie stand unter Schock und hatte Nia den Rücken zugekehrt. Sie musste die Gunst der Stunde nutzen! Salvatore und Cedric hatten gekämpft und sie konnte das auch!
Mit bleischweren Füßen und stockendem Atem trat Nia dem Albinomädchen in die Kniekehle. Ein erschrockener Laut entfuhr ihr. Im nächsten Augenblick lag sie bereits auf dem Boden. Nias Schatten schwebte bedrohlich über ihr. Anita versuchte sich aufzurappeln, doch sofort hatte sie die Klinge des Degens am Hals.
"G-Gib auf, Anita!", stotterte die Schwarzhaarige so entschlossen, wie es unter den Schmerzen der Last nur ging.
"Du kannst ja diesen Satz nicht mal ohne Stottern hervorbringen! Von so jemanden lasse ich mich nicht besiegen!", keifte die Angesprochene wutentbrannt. Wer absolut kein Selbstvertrauen hatte, gehörte nicht aufs Schlachtfeld, so einfach war das!
"Nein!", konterte Nia und Anita starrte sie mit weit geöffneten Augen an. Hatte die Nia ihr gerade widersprochen? Die Nia, die eine wunderbare Zielscheibe für jegliche Mobbingattacken war? Sie musste sich wohl verhört haben!
"Seh es ein, Anita. Deine beiden Huans sind praktisch blind... Du kannst nicht mehr weiterkämpfen. Und ich habe immer noch Salvatore und den Eisbären an meiner Seite! Es ist jetzt viel wichtiger, dass du deine Huans jetzt so schnell wie möglich verarztest, statt so stolz und sturköpfig zu sein!"
Wie zur Bestätigung gesellte sich der Eisbär und der Weißkopfseeadler rechts und links zu ihr dazu. Anita knirschte mit den Zähnen. Widerwillig blickte sie in Richtung Hans und Franz. Beide krümmten sich unter Schmerzen zusammen und versuchten dennoch, weiterzukämpfen. Blutige, zerrissene Augen drehten Anita den Magen um. Es war wirklich falscher Stolz, den sie hatte. Sie wollte nicht akzeptieren, dass ausgerechnet Nia sie so einfach zur Strecke gebracht hatte. Mehr als einen Zufallstreffer und einen Kick in die Kniekehle hatte sie nicht geleistet! Und dennoch war sie machtlos gegen zwei Huans und einer bewaffneten Null.
"Du hast gewonnen.", musste sie sich selbst eingestehen. Sie hatte einfach nicht damit gerechnet, dass Salvatore und Cedric diesmal so ernst machen würden und auch Nia angreifen würde.
"Ich habe gewonnen? E-ehrlich?", echote Nia verdattert. Ein Lächeln, welches der aufgehenden Sonne Konkurrenz machte, machte sich auf ihrem Gesicht breit. Tränen der Erleichterung schossen ihr in die Augen. Zittrig vor Freude reichte Nia ihrer Kontrahentin die Hand. Grummelig und trotzig starrte Anita die makellosen Finger an. Mit großem Widerwillen schlug sie ein und ließ sich hochziehen. Dann riss sie sich augenblicklich von ihrer Hand los und ging in Richtung ihrer eigenen Huans.
"Hans, Franz – disconnect!", sagte sie emotionslos und führte die beiden schwer verwundeten, nahezu blinden Kämpfer vom Platz. Nia tat es ihr gleich.
"Salvatore, Cedric – disconnect!" Wie von Zauberhand verwandelten sich die wilden, blutverschmierten Tiere in zwei ansehnliche junge Männer. Die natürlich ebenfalls voller Blut waren, aber beide sehr stolz auf Nia blickten. Der Schmerz, der das Mädchen so gequält und betäubt hatte, ließ augenblicklich nach. Es war, als würde sie endlich wieder ganz durchatmen können. War die Luft schon immer so klar und süß? Oder kam das vom errungenen Sieg?
Nia hatte tatsächlich Anita besiegt! Das musste erst einmal durch ihr Unterbewusstsein sickern. Gegen Anita! Die Anita, die einer der Köpfe der Gerüchteküche war und sie gemobbt hatte! Wegen der sie solche Angst hatte und oft Bauchschmerzen bekommen hatte. Die sie gedemütigt und bespuckt hatte... Genau gegen die!
Nias Beine waren wie Wackelpudding. Wenn Katja das hören würde, sie wäre so stolz auf sie! Sie hatte es geschafft, sie hatte aus eigener Kraft Anita in die Knie gezwungen. Bei diesem Wortwitz musste sie kichern.
Sie hatte es geschafft. Wie sehr sie sich doch wünschte, das Katja berichten zu können! Aus einem anfänglichen, unterdrücktem Kichern wurde ein glucksen und schließlich lachte Nia laut und ungehemmt. Glücklich und bis in die Haarspitzen voller Endorphine ließ sie sich nach hinten auf den Boden fallen. Wie schön dieser Tag doch war! Was für eine unglaubliche Wendung er genommen hatte!
Katja... was sie jetzt wohl machte? Nia vermisste sie schmerzlich.
Doch den Gedanken konnte sie nicht weiterspinnen, da Cedric neben ihr wie ein Stein umkippte.