Kapitel 26: Maybe one Day we'll find a Place...
Die selbstbewusste Mitschülerin hatte sich noch keinen Meter von Cedric entfernt, als plötzlich ein dunkles, tiefes Donnern ertönte. Es war ein beunruhigender Ton, der einem die Haare zu Berge stehen ließ. Irritiert blickte er auf. Normalerweise hörte man so etwas nur in Filmen. Wie in Kriegsfilmen oder einem Hollywoodblockbuster. Konnte das ernsthaft eine Bombe sein, oder bildeten sie sich das gerade nur ein? Tonia und der blonde Hüne wechselten verwirrte und besorgte Blicke. Es hörte sich ziemlich echt an bei der Lautstärke. Aber warum um alles in der Welt...?
Noch bevor dieser Gedanke beendet war, konnte man die zweite Detonation hören.
Es bestand kein Zweifel.
Die Erkenntnis traf Tonia wie ein Schlag.
Die Erselik-Schule wurde angegriffen!
Blitzschnell griff Cedric in die Innentasche der Jacke seiner Uniform. Mit großen Schritten hechtete er zur Tür des Biologieraums. Wütend schlug er etwas gegen die Tür. Tonia Dierl konnte gerade noch die Stirn kraus ziehen, als die Tür aus ihren Angeln gehoben wurde. Polternd knallte sie gegen die Wand im Flur. Der Schlüssel fiel klimpernd zu Boden und verschwand. Cedric fackelte nicht lange. Mit einem Satz sprintete er quer durch das lädierte Klassenzimmer und griff erneut in seine Jackentasche.
Der Blick nach draußen ließ ihn atemlos innehalten. Sein Herz klopfte bis zum Hals.
Draußen regnete es Millionen von Glassplittern. Im Schein der Sonne glitzerten sie verheißungsvoll. Bitte, lass, dass Nia nicht dort draußen sei... Nicht in dieser Gefahr... Es durfte ihr um keinen Preis etwas zustoßen!
Dann war ein weiterer, markerschütternder, ohrenbetäubender Knall zu hören.
Ein ohrenbetäubender Lärm drang von außen herein. Cedric wurde von den Beinen gerissen, bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah. Die Druckwelle schleuderte ihn gegen die Wand. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Er schlug mit dem Kopf auf einer Tischkante auf. Stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Röchelnd versuchte er mühselig, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Durch den Tinnitus drangen leise Geräusche, die nach Schreien und das Knistern eines Brandes klangen. Binnen Sekunden stiegen vor den geborstenen Fenstern schwarze Rauchschwaden auf. Er hatte Sterne vor den Augen und brauche ein paar Augenblicke, um sich wieder zu fassen. Einige Stühle und Tische waren halb auf ihm gelandet und er stieß sie unsanft hinfort. Als er sich aufraffte, wackelten seine Beine. Aber in seinen Adern pulsierte nur ein Gedanke:
Nia! Wo um alles in der Welt war Nia?!
Ohne zu zögern rannte er so schnell wie es ihm noch möglich war zu einem der zersplitterten Fenster und sprang raus. In seiner Hand hielt er einen weiteren Schlüssel fest umschlossen. Er hatte sie nicht all die Jahre beschützt und beobachtet, nur damit ihr nun etwas passiert! Eher würde er sein Leben opfern...
Benommen torkelte Nia in Richtung des Mannes, dem sie bereits einmal im Wald begegnet war. Ihr Kopf dröhnte, ihr Atem war unregelmäßig. Sie konnte nicht genau lokalisieren, was ihr alles schmerzte, aber allmählich hörte dieses seltsame Taubheitsgefühl auf. Benebelt wischte sie sich das heruntertropfende Blut von der Lippe. Jemand hatte die Erselik-Schule angegriffen! Und nicht irgendjemand - es war der gefährliche Irre aus dem Wald! Der Irre, bei dem sämtliche ihrer Nackenhaare zu Berge standen. Niemals zuvor hatten all ihre Alarmglocken so geschrillt wie bei der damaligen Begegnung im Wald. Dieses Gefühl hatte sich nun bestätigt. Benommen nahm sie Cedric aus dem Augenwinkel wahr. Erleichtert atmete sie auf. Es ging ihm scheinbar gut, er hatte keine äußeren Verletzungen. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, als sie ihren Huan wohlauf sah. Es war schlimm genug, wenn sie Blessuren davontrug, aber ihre beiden Wächter wollte sie heil wissen. Außerdem konnte sie sich schnell und ohne diesen seltsamen Stoff regenerieren.
Doch was war das für ein Blick, den Nia da an ihm bemerkte? Cedric starrte entsetzt auf einen Punkt vor Nia. Langsam folgte sie ihm. Woher kam diese völlige Fassungslosigkeit? Diese...
"Angst?", flüsterte sie kaum hörbar.
Cedric war wie angewurzelt und starrte den Irren aus dem Wald mit tellergroßen, furchterfüllten Augen an.
Nein. Nicht er. Nicht er hier.
Seine ohnehin blasse Haut war aschfahl geworden. Seine Unterlippe zitterte und sein gesamter Körper schien verkrampft.
In dem Moment kam Salvatore um die Ecke geschossen. Anders als sein Mit-Huan war er nicht einfach aus dem Fenster gesprungen, sondern war über die Treppen ins Freie gerannt gekommen.
Er bremste scharf, als er die Gestalt des Irren erkannte. Völliges Entsetzen und Todesangst standen dem charmanten Frauenschwarm ins Gesicht geschrieben. Sein sonst so entspanntes, freundliches Gesicht war verzerrt vor Furcht und Unglauben.
Nein. Nicht er. Nicht er hier!
Ein seltsames Lächeln umspielte die Lippen des Irren. Es wirkte so, als müsste er an sich halten, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
"Pugal... Kar...", stieß der Weißkopfseeadler-Huan angsterfüllt hervor. Ein Schauer jagte über Nias Rücken, als sie ihre Huans vollkommen paralysiert und verängstigt sah. Wer um alles in der Welt war dieser Mann und was hatte er ihnen angetan? Waren die Beiden nicht die stärksten aller Huans? Wer war es, der sie so ängstigte und Furcht einflößte?
Pugal lachte hämisch und klatschte in seine behandschuhten Hände. Das Geräusch war nur schwach zu hören, da das Feuer hinter ihm tobte. Ein brennender, schwarz verkohlter Baum fiel laut Krachend um und zerbarst am Boden. Mit einer arroganten, provozierenden Langsamheit ging er auf die Zwei zu. "Wenn das mal nicht Ceddy und Salvi sind! Um ein Haar hätte ich euch nicht mehr erka-"
"Hände weg von meinen Huans!", schrie Nia.
Er verharrte in seiner Bewegung und drehte sich gemächlich herum. Pugal sah aus, als würde er mit etwas Wertlosem sprechen. Missgunst spiegelte sich in seinen Augen wider. "Ich mag es nicht, wenn sich kleine Mädchen in Dinge einmischen, von denen sie nichts verstehen... Und erst recht nicht, wenn sie nicht ein Quäntchen Mumm in ihren Knochen haben." Jedes seiner Worte klang verletzend und giftig, obwohl noch immer ein Lächeln seine Lippen umspielte. Seine Augen musterten Nia, als wäre sie ein niederes Tier.
Ihre Knie schlotterten. Sie hatte Angst. Dieser Mann war gefährlicher als alles, was Nia jemals begegnet war. Welcher normale Mensch würde Bomben auf eine Schule werfen? Was war sein Ziel? Kein Wunder, dass sich Salvatore und Cedric so sehr fürchteten...
Pugal Kar war der Inbegriff eines grausamen, kalten und berechnenden Mannes. Seine Aura ließ keine Zweifel, dass er notfalls über Leichen gehen würde, um sein Ziel zu erreichen. Aber wofür der ganze Aufwand? Es war klar, dass man nicht einfach so in die Schule spazieren konnte, aber man musste sich seiner Sache schon sehr sicher sein, wenn man so ein Spektakel veranstaltete. Ein Spektakel, bei dem das eigentliche Ziel auch hätte verletzt werden können. Vorausgesetzt natürlich, bei dem Ziel handelte es sich um einen Menschen.
Und dann fiel es Nia wie Schuppen von den Augen. Salvatore und Cedric hüteten sie wie ihren Augapfel, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Auch Lais hatte des öfteren angedeutet, dass sie etwas Besonderes war – nicht zuletzt wegen ihrer beiden offensiven Huans.
Was, wenn aber noch viel mehr dahintersteckte?
Nia sammelte ihr bisschen Mut zusammen und brüllte mit zittriger, brüchiger Stimme:
"Du bist wegen mir hergekommen, oder? Dann klär gefälligst, was du zu klären hast und lass die Beiden in Ruhe!" Sie hoffte inständig, dass er ihre Unsicherheit nicht bemerkte. Allerdings war Nia einfacher zu lesen als ein offenes Buch. Um sich nicht selbst so nackt und schutzlos zu fühlen, zückte sie ihren Herzschlüssel. Das Gewicht des Degens in ihrer Hand gab ihr ein gewisses Sicherheitsgefühl, auch wenn die ungeübte Fechterin gegen einen erwachsenen, gnadenlosen Mann keine Chance hatte.
Er blinzelte kurz ob dieser Erscheinung. Ein blutjunges Mädchen in zerschlissener Uniform, mit blutigen Knien, aufgeplatzter Lippe, zerzausten Haaren und zittrigen Beinen starrte ihn entschlossen an. In ihrer Hand hielt sie fest einen Degen umschlossen. So fest, dass ihre Knöchel weiß hervorstanden. Das einzig wirklich imposante war die aufwändig gearbeitete Parierstange. Anstatt ernst oder gar wütend zu werden, lachte Pugal aus vollem Herzen. "Du machst dir fast ins Höschen und tust so, als könntest du auch nur einen einzigen deiner Huans verteidigen? Die stärksten Huans, die es gibt? Das ist zum Schießen!" Hohles, kaltes, gefühlloses Lachen mischte sich unter das Knistern und Lodern der Flammen im Hintergrund.
Binnen einer Sekunde blickte er Nia an, als wolle er sie umbringen. "Mach dich nicht lächerlich, Nia Toshiki!"
Nia sah ihn nicht kommen. Sie spürte nur den Aufprall auf dem von Splittern übersäten Boden und hörte Cedrics gellenden Schrei. Winzige Glasstücke bohrten sich in ihre Haut wie tausend kleine Nadeln. Als sie ihre Augen wieder öffnete, stand Pugal Kar über ihr. In seiner Hand hielt er einen Rabenschnabel - eine mittelalterlich anmutende Waffe, bestehend aus einem Stab und einem Hammerkopf, der wie ein Schnabel geformt war. Adrenalin schoss in ihre Adern. Sie wollte weg. Der Irre war über ihr!
Weg!
Schnell weg!
Er war ihr ganz nah und sie konnte nicht davonlaufen! Pugal rammte die Spitze des Stabes in Nias rechte Hand. Blut schoss aus der Wunde.
Sie wand sich vor Schmerz, doch kein Ton drang aus ihrer Kehle. Stattdessen liefen ihr Tränen über die Wangen. Ihr Gesicht war zu einer wütenden Grimasse verzerrt. Grinsend bohrte er die Waffe weiter hinein und drehte sie.
Cedric und Salvatore hatten sich aus ihrer Starre befreit und liefen auf sie zu. Die Besorgnis und die Angst stand ihnen nach wie vor ins Gesicht geschrieben.
Doch es stand zu viel auf dem Spiel.
Nia durfte nicht in seine Hände gelangen!
Pugal warf einen gelangweilten Blick über die Schulter. Mit seiner freien Hand griff er in seine Hosentasche und ließ einen Schlüssel aufblitzen. Durch ihren Tränenschleier hindurch erkannte Nia nur, dass der Schlüssel aufwändig mit Edelsteinen und Schnörkeln verziert war.
Ihre Huans hielten in ihrer Bewegung inne. Keiner wollte herausfinden, welche tödliche Waffe Pugal dort in seiner behandschuhten Hand lässig zwischen den Fingern zwirbelte.
Befriedigt widmete er sich wieder dem Mädchen unter sich, das er mithilfe seines Rabenschnabels regelrecht festgenagelt hatte. Gegen ihren Willen verwandelte sich ihr Degen zurück in einen Schlüssel. War das das Werk des Mannes?
"Nia Toshiki. Ich bin gekommen, um dich zu holen." Sein mörderischer Ausdruck hellte sich mit einem Schlag wieder auf. Unsanft aber beschwingt zog er seine Waffe aus ihrer Hand. Den Schlüssel steckte er wieder zurück – allerdings warf er davor noch einen Seitenblick auf die zwei Huans. Inzwischen kamen aus dem Schulgebäude etliche Menschen, die zum einen helfen und zum anderen schauen wollten, was vorgefallen war. Nichts hätte Pugal weniger stören können, der ein Taschentuch zückte und damit das Blut von seinem Rabenschnabel abwischte. "Als ich hörte, dass du dich so nach deiner besten Freundin Katja Müller sehnst, konnte ich nicht anders! Zwei unglückliche Seelen wieder zu vereinen... Das ist das Ziel dieser Aktion. Ich bin also ein strahlender Held!" Aufmunternd lächelnd warf er das blutige Taschentuch zu Boden. Er bückte sich, um Nia liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht zu wischen. Sie erschauderte, als sie die Kälte seiner Hände selbst durch die Handschuhe auf ihrer Haut spürte.
So nah!
Der Irre war so nah!
Fast hätte Nia beim Ausdruck "strahlender Held" höhnisch gelacht und ihm ins Gesicht gespuckt, aber dafür hatte sie nicht genügend Mumm in den Knochen. Sie musste Abstand zu ihm gewinnen. Und zwar schnell.
"Und was springt für Sie dabei heraus?", presste Nia unter Schmerzen hervor und setzte sich mühselig auf. Das Loch in ihrer Hand brannte wie Feuer.
Sein Grinsen wurde noch breiter. "Sieh an, sieh an. Du bist ja doch nicht ganz so doof wie ich dachte." Er hob Nias Kinn an. Durch den Tränenschleier konnte sie sein Gesicht nicht richtig erkennen. "Wenn ich dir Katja Müller zurückgebe, dann darf ich ein paar... Untersuchungen an dir durchführen." Feixend richtete er sich wieder auf.
Etwas Warmes breitete sich in Nias Innerem bei diesem Gedanken aus.
Katja... wiedersehen! Sie konnte wirklich Katja wiedersehen? Ihre beste Freundin? Die Person, die seit Jahr und Tag ihre Familie war und sie immer unterstützte? Die ihr mehr bedeutete als ihr Vater und sämtliche anderen Verwandten auf dieser Welt? Die Freundin, die sie so urplötzlich verlassen musste, ohne Lebewohl zu sagen? Katja, die sie immer aufgebaut hatte? Wegen der sie überhaupt die ganzen Mobbereien durchhalten konnte? Die talentierte, junge Musikerin mit Nerven aus Stahl und einem
so sonnigen Gemüt, dass man unwillkürlich mitlächeln musste? Mit der man Pferde stehlen konnte und sie so viele schöne Erinnerungen teilte?
Nia konnte sie wiedersehen? Für ein paar... Untersuchungen?
Ihr Herz klopfte. Das wäre ihr größter Wunsch – und die Erfüllung war zum Greifen nahe. Sie müsste nur ja sagen...! Was waren schon ein paar Untersuchungen gegenüber der Tatsache, Katja endlich wiedersehen zu können?
Das Mädchen riss seinen Kopf weg. Ihre blauen, verquollenen Augen blitzten.
"Das ich nicht lache!" Unter größter Anstrengung rappelte sie sich wieder auf. "Wer würde so einen Kuhhandel eingehen?! Sie zerstören Gebäude und verletzen Menschen und dann erwarten Sie, dass ich Ihnen einfach so vertraue? Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?"
Pugals Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Für eine Sekunde sah er verwirrt und überfordert aus.
Warum? Schoss es Nia durch den Kopf. Irgendetwas stimmte nicht.
Doch er hatte sich wieder gefangen. Ein höhnisches Grinsen und eine spitze Zunge brachten säuerlich hervor: "Ach? Dachtest du, ich würde vorne an der Türe klingeln und einen Bittbrief stellen, dass ich dich aus der Erselik-Schule auslösen darf? Mach dich nicht lächerlich, Gör. Du müsstest inzwischen gemerkt haben, dass es sich hier um ein Gefängnis handelt..."
Weiter kam er nicht. Ein Schatten sprang aus dem Gebüsch. Gerade noch rechtzeitig wich Pugal zur Seite.
Nia traute ihren Augen nicht, als ein voll ausgewachsener Löwe vor ihr stand und sich bedrohlich in voller Größe vor ihm aufbaute. Ein tiefes, furchteinflößendes Grollen tönte aus der Kehle des beeindruckenden Tieres.
"Na Miezekatze, hast du dich verlaufen?", höhnte Pugal lautstark und wirbelte mit seinem Rabenschnabel herum. Der König der Tiere zuckte nicht mit der Wimper. Plötzlich löste sich ein zweiter Schatten aus den Büschen. Die Person schlug mit voller Wucht zu. Mit einer eleganten Bewegung wehrte Pugal den Angriff ab. Ein metallisches Klirren erfüllte die Luft, als das Mädchen zum wiederholten Male mit seinem Schild auf den Eindringling einschlug. Erfolglos. Der Irre kam nicht einmal ins Schwitzen und parierte jeden Angriff. Wütend schnalzte sie mit der Zunge. Ihre langen, pinkfarbenen Zöpfe flogen durch die Luft.
Lais Sincer hatte das Schlachtfeld betreten. Und es sah ganz danach aus, als würde sie bis zum bitteren Ende kämpfen. Jeder Muskel ihres Körpers war gespannt. Sie wirkte selbst wie ein Raubtier. Bereit, alles zu geben.
Es war ein seltsamer Anblick, die kleine Lais gegen den vergleichsweisen großen Pugal antreten zu sehen... Es hatte etwas von David gegen Goliath. Alles geschah so schnell. Nia hatte nicht einen Atemzug lang Zeit, in den Kampf einzugreifen. Ein Blick von Lais genügte, dass der Löwe erneut mit seiner Pranke ausholte. Doch auch dieser Schlag ging ins Leere. Lais wiederholter Vorstoß war nicht schnell genug und wurde erneut geblockt.
Sie griffen Pugal zu zweit an und dennoch schien er unbeeindruckt.
"Es ist so schön, lauter alte Bekannte zu treffen!", flötete Pugal und stach dem Löwen ohne zögern ins Auge. Der tonlose Schrei ließ Nia erschaudern. Gepeinigt von Schmerz schüttelte er sich. Mit einem Ruck zog der Angreifer seine Waffe heraus und leckte das Blut ab. "Allerdings hab ich heute keine Zeit für den Streichelzoo..." Bei diesen Worten warf er seinen Rabenschnabel mit Schwung hinter sich. Gerade noch rechtzeitig konnte Cedric ausweichen, doch die vorbeizischende Waffe hatte einen blutigen Striemen im Gesicht hinterlassen. "Denk nicht mal dran, Ceddy. Lass die Finger von deinen Schlüsseln."
Eine schrille, wutentbrannte Stimme zerriss die angespannte Luft.
"Was soll der Scheiß? Kann mir das mal jemand erklären?" Tonia stand mit in die Hüften gestemmten Armen auf dem Schlachtfeld. Akuma kam hinterhergelaufen und war völlig außer Atem.
"Tonia, wir sollten hier weggehen... Du bist hier nicht sicher!", keuchte er und schüttelte sie. Diese Frau war wirklich nicht bei Trost!
"Nia, warum um alles in der Welt lässt du Salvatore sich nicht verwandeln? Oder von mir aus auch Cedric!", fauchte sie quer zu ihr herüber. Ihre markerschütternde Stimme übertönte sogar das tosende Feuer. Lais nutzte die Chance der Ablenkung und schleuderte ihren Schild in Richtung Pugal. Dieser wich mit Leichtigkeit aus. Lais war irritiert. Er hatte nicht mal in ihre Richtung geschaut! Ein breites Grinsen verzerrte Pugals Gesicht. Wie von Geisterhand stand er plötzlich hinter Salvatore und umfasste seine Hüften. Todesangst und Ekel ließen den Frauenschwarm fast aufschreien.
Tonia und Nia keuchten. Cedric sprang einen Meter zurück.
"Ganz einfach... Weil ich es niemals zulassen würde!", flötete Pugal und fuhr mit seiner behandschuhten Hand zärtlich die Gesichtskonturen des Schülers nach. Tonia sah aus, als würde sie sich gleich übergeben. Oder den Angreifer töten, wenn Akuma nicht direkt schützend vor ihr gestanden hätte. "Und ich würde niemals wollen, dass Salvi etwas zustößt - nicht wahr? Dafür bist du viel zu... kostbar."
"Fass ihn nicht an, du kranker Irrer!", brüllte Nia und stürzte auf ihn zu. In ihrer Hand hielt sie ihren Degen fest umklammert. Pugal zückte schmallippig lächelnd einen Schlüssel aus seiner Tasche. Ein Feuerball sauste auf das Mädchen zu, prallte jedoch von einem unsichtbaren Schutzschild ab. Verwirrt und erschrocken hielt Nia inne. Ihr Blick wanderte zu Cedric. Er hatte dutzende Schüssel fest umschlossen und obwohl er immer noch leichenblass war, schien er bereit zum Kämpfen.
Der Eindringling seufzte tief.
"Ich wollte nur mal kurz hallo sagen und holen, was mir gehört." Mit diesen Worten stand er neben Nia und hielt ihr einen Schlüssel an den Hals. Nia musste kein Schlüsselexperte sein um zu ahnen, was dieser bewirken konnte. Ihr Blut gefror in ihren Adern.
Ein ohrenbetäubender Lärm zerriss die Luft. Ein Hubschrauber schwebte direkt über ihnen, als eine schwarze Leiter herabgelassen wurde. Der Wind riss Akuma fast von den Beinen. Tonia hielt ihn fest umklammert und duckte sich. Die schwarzen Rotorenblätter funkelten unheilverkündend im rotgelben Licht des Feuers.
"Wenn ihr mich nun entschuldigen würdet...", griente er und zog seinen imaginären Hut.
"Nicht so schnell!", schrie Lais wutentbrannt. Eine Kanonenkugel schoss auf Pugal zu. Scheinbar ohne Eile zog er einen Schlüssel und die Kugel zerbarst in tausend kleine Teile. Fein zerstäubt überzog das schwarze Pulver die umherliegenden Glassplitter. Außerdem ging der anstürmende Löwe lichterloh in Flammen auf. Sogar Cedrics Pfeilregen auf den Helikopter wurde durch einen Schutzschild abgeschmettert. Zuletzt versuchte Tonia ihr Glück, doch das plötzlich im Boden aufklaffende Loch stellte für den Mann keine Hürde dar. Wütend wollte Nia einen weiteren ihrer Schlüssel aktivieren, doch Pugal schlug ihn ihr einfach aus der Hand. Mit seinen schlanken, langsehnigen Armen griff er um ihre Taille und schulterte sie mühelos.
Nia kratzte und biss um sich.
Erfolglos.
Sie schrie um Hilfe.
Erfolglos.
Jeder Hilfsversuch wurde perfekt pariert. Es war ein verzweifelter, einseitiger Kampf. Der Ausgang war von Anfang an klar. Pugal hatte sie in ihren Fängen. Salvatore konnte sich nicht rühren.
Er war starr vor Angst.
Warum? Warum entführte man sie? Das ergab doch keinen Sinn, oder etwa doch?
Alles, was sie wollte, war ein normales Leben! Sie wollte keine Huans, keine Ruler und keine Kämpfe – ein Leben in Frieden war alles, was sie sich wünschte! Selbst die Tatsache, dass sie Salvatore nun so nahe war, machte sie nicht glücklich. Er war ihr Schwarm, ja. Aber seine Anwesenheit und die mit ihm verbrachte Zeit erfüllten sie nicht annähernd so wie die mit Katja. Er war „nur“ ein Schwarm, während Nia in Katja eine Freundin fürs Leben gefunden hatte. Salvatore schien manchmal so perfekt, dass es ihr Unbehagen bereitete. Sie fühlte sich klein und wertlos dagegen. Katja bedeutete ihr so viel mehr – sie hatten so viel erlebt und durchgestanden! Und sie wollte ihre beste Freundin wiedersehen! Sie war die gefühlt einzige Familie, die sie hatte.
Sie wollte weg.
Weg von den Huans.
Weg von Pugal Kar.
Zurück in ihr altes Leben.
Zu ihrer eigenen Überraschung streckte sie die Hand aus und schrie. Doch sie rief nicht nach ihrem Schwarm. Nicht nach dem, nach dem sie sich all die Jahre verzehrt hatte.
„Cedric! Hilf mir!“
Eine einzelne Träne kullerte ihr übers Gesicht. Das ohrenbetäubende Geräusch der Rotorenblätter des Hubschraubers übertönte alles. Der Wind zerzauste ihre Haare und Strähnen flogen ihr vor die Augen. Und dennoch...
Dennoch sah sie Cedrics schmerzerfülltes Gesicht und wie er ebenfalls brüllte. Erfolglos setze er einen Schlüssel nach dem anderen ein, doch ihre Wirkung verpuffte sofort. Wie nass gewordenes Schießpulver waren seine Angriffe wirkungslos.
Unsanft zerrte Pugal sie in den Hubschrauber und schnallte sie fest. Bevor Nia sich weiter wehren konnte, knebelte und fesselte er sie. Ihre Handgelenke schmerzten. Ihr Kiefer fühlte sich an, als würde er ausgerenkt werden. Die Tränen und die Haare verschleierten ihre Sicht. Nachdem Pugal ihr die Ohrenschützer aufgesetzt hatte, hielt er ihr ein Tuch über die Nase.
Nia wehrte sich nicht. Es gab kein Entkommen.
Dann wurde alles schwarz.
Noch bevor dieser Gedanke beendet war, konnte man die zweite Detonation hören.
Es bestand kein Zweifel.
Die Erkenntnis traf Tonia wie ein Schlag.
Die Erselik-Schule wurde angegriffen!
Blitzschnell griff Cedric in die Innentasche der Jacke seiner Uniform. Mit großen Schritten hechtete er zur Tür des Biologieraums. Wütend schlug er etwas gegen die Tür. Tonia Dierl konnte gerade noch die Stirn kraus ziehen, als die Tür aus ihren Angeln gehoben wurde. Polternd knallte sie gegen die Wand im Flur. Der Schlüssel fiel klimpernd zu Boden und verschwand. Cedric fackelte nicht lange. Mit einem Satz sprintete er quer durch das lädierte Klassenzimmer und griff erneut in seine Jackentasche.
Der Blick nach draußen ließ ihn atemlos innehalten. Sein Herz klopfte bis zum Hals.
Draußen regnete es Millionen von Glassplittern. Im Schein der Sonne glitzerten sie verheißungsvoll. Bitte, lass, dass Nia nicht dort draußen sei... Nicht in dieser Gefahr... Es durfte ihr um keinen Preis etwas zustoßen!
Dann war ein weiterer, markerschütternder, ohrenbetäubender Knall zu hören.
Ein ohrenbetäubender Lärm drang von außen herein. Cedric wurde von den Beinen gerissen, bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah. Die Druckwelle schleuderte ihn gegen die Wand. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Er schlug mit dem Kopf auf einer Tischkante auf. Stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Röchelnd versuchte er mühselig, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Durch den Tinnitus drangen leise Geräusche, die nach Schreien und das Knistern eines Brandes klangen. Binnen Sekunden stiegen vor den geborstenen Fenstern schwarze Rauchschwaden auf. Er hatte Sterne vor den Augen und brauche ein paar Augenblicke, um sich wieder zu fassen. Einige Stühle und Tische waren halb auf ihm gelandet und er stieß sie unsanft hinfort. Als er sich aufraffte, wackelten seine Beine. Aber in seinen Adern pulsierte nur ein Gedanke:
Nia! Wo um alles in der Welt war Nia?!
Ohne zu zögern rannte er so schnell wie es ihm noch möglich war zu einem der zersplitterten Fenster und sprang raus. In seiner Hand hielt er einen weiteren Schlüssel fest umschlossen. Er hatte sie nicht all die Jahre beschützt und beobachtet, nur damit ihr nun etwas passiert! Eher würde er sein Leben opfern...
Benommen torkelte Nia in Richtung des Mannes, dem sie bereits einmal im Wald begegnet war. Ihr Kopf dröhnte, ihr Atem war unregelmäßig. Sie konnte nicht genau lokalisieren, was ihr alles schmerzte, aber allmählich hörte dieses seltsame Taubheitsgefühl auf. Benebelt wischte sie sich das heruntertropfende Blut von der Lippe. Jemand hatte die Erselik-Schule angegriffen! Und nicht irgendjemand - es war der gefährliche Irre aus dem Wald! Der Irre, bei dem sämtliche ihrer Nackenhaare zu Berge standen. Niemals zuvor hatten all ihre Alarmglocken so geschrillt wie bei der damaligen Begegnung im Wald. Dieses Gefühl hatte sich nun bestätigt. Benommen nahm sie Cedric aus dem Augenwinkel wahr. Erleichtert atmete sie auf. Es ging ihm scheinbar gut, er hatte keine äußeren Verletzungen. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, als sie ihren Huan wohlauf sah. Es war schlimm genug, wenn sie Blessuren davontrug, aber ihre beiden Wächter wollte sie heil wissen. Außerdem konnte sie sich schnell und ohne diesen seltsamen Stoff regenerieren.
Doch was war das für ein Blick, den Nia da an ihm bemerkte? Cedric starrte entsetzt auf einen Punkt vor Nia. Langsam folgte sie ihm. Woher kam diese völlige Fassungslosigkeit? Diese...
"Angst?", flüsterte sie kaum hörbar.
Cedric war wie angewurzelt und starrte den Irren aus dem Wald mit tellergroßen, furchterfüllten Augen an.
Nein. Nicht er. Nicht er hier.
Seine ohnehin blasse Haut war aschfahl geworden. Seine Unterlippe zitterte und sein gesamter Körper schien verkrampft.
In dem Moment kam Salvatore um die Ecke geschossen. Anders als sein Mit-Huan war er nicht einfach aus dem Fenster gesprungen, sondern war über die Treppen ins Freie gerannt gekommen.
Er bremste scharf, als er die Gestalt des Irren erkannte. Völliges Entsetzen und Todesangst standen dem charmanten Frauenschwarm ins Gesicht geschrieben. Sein sonst so entspanntes, freundliches Gesicht war verzerrt vor Furcht und Unglauben.
Nein. Nicht er. Nicht er hier!
Ein seltsames Lächeln umspielte die Lippen des Irren. Es wirkte so, als müsste er an sich halten, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
"Pugal... Kar...", stieß der Weißkopfseeadler-Huan angsterfüllt hervor. Ein Schauer jagte über Nias Rücken, als sie ihre Huans vollkommen paralysiert und verängstigt sah. Wer um alles in der Welt war dieser Mann und was hatte er ihnen angetan? Waren die Beiden nicht die stärksten aller Huans? Wer war es, der sie so ängstigte und Furcht einflößte?
Pugal lachte hämisch und klatschte in seine behandschuhten Hände. Das Geräusch war nur schwach zu hören, da das Feuer hinter ihm tobte. Ein brennender, schwarz verkohlter Baum fiel laut Krachend um und zerbarst am Boden. Mit einer arroganten, provozierenden Langsamheit ging er auf die Zwei zu. "Wenn das mal nicht Ceddy und Salvi sind! Um ein Haar hätte ich euch nicht mehr erka-"
"Hände weg von meinen Huans!", schrie Nia.
Er verharrte in seiner Bewegung und drehte sich gemächlich herum. Pugal sah aus, als würde er mit etwas Wertlosem sprechen. Missgunst spiegelte sich in seinen Augen wider. "Ich mag es nicht, wenn sich kleine Mädchen in Dinge einmischen, von denen sie nichts verstehen... Und erst recht nicht, wenn sie nicht ein Quäntchen Mumm in ihren Knochen haben." Jedes seiner Worte klang verletzend und giftig, obwohl noch immer ein Lächeln seine Lippen umspielte. Seine Augen musterten Nia, als wäre sie ein niederes Tier.
Ihre Knie schlotterten. Sie hatte Angst. Dieser Mann war gefährlicher als alles, was Nia jemals begegnet war. Welcher normale Mensch würde Bomben auf eine Schule werfen? Was war sein Ziel? Kein Wunder, dass sich Salvatore und Cedric so sehr fürchteten...
Pugal Kar war der Inbegriff eines grausamen, kalten und berechnenden Mannes. Seine Aura ließ keine Zweifel, dass er notfalls über Leichen gehen würde, um sein Ziel zu erreichen. Aber wofür der ganze Aufwand? Es war klar, dass man nicht einfach so in die Schule spazieren konnte, aber man musste sich seiner Sache schon sehr sicher sein, wenn man so ein Spektakel veranstaltete. Ein Spektakel, bei dem das eigentliche Ziel auch hätte verletzt werden können. Vorausgesetzt natürlich, bei dem Ziel handelte es sich um einen Menschen.
Und dann fiel es Nia wie Schuppen von den Augen. Salvatore und Cedric hüteten sie wie ihren Augapfel, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Auch Lais hatte des öfteren angedeutet, dass sie etwas Besonderes war – nicht zuletzt wegen ihrer beiden offensiven Huans.
Was, wenn aber noch viel mehr dahintersteckte?
Nia sammelte ihr bisschen Mut zusammen und brüllte mit zittriger, brüchiger Stimme:
"Du bist wegen mir hergekommen, oder? Dann klär gefälligst, was du zu klären hast und lass die Beiden in Ruhe!" Sie hoffte inständig, dass er ihre Unsicherheit nicht bemerkte. Allerdings war Nia einfacher zu lesen als ein offenes Buch. Um sich nicht selbst so nackt und schutzlos zu fühlen, zückte sie ihren Herzschlüssel. Das Gewicht des Degens in ihrer Hand gab ihr ein gewisses Sicherheitsgefühl, auch wenn die ungeübte Fechterin gegen einen erwachsenen, gnadenlosen Mann keine Chance hatte.
Er blinzelte kurz ob dieser Erscheinung. Ein blutjunges Mädchen in zerschlissener Uniform, mit blutigen Knien, aufgeplatzter Lippe, zerzausten Haaren und zittrigen Beinen starrte ihn entschlossen an. In ihrer Hand hielt sie fest einen Degen umschlossen. So fest, dass ihre Knöchel weiß hervorstanden. Das einzig wirklich imposante war die aufwändig gearbeitete Parierstange. Anstatt ernst oder gar wütend zu werden, lachte Pugal aus vollem Herzen. "Du machst dir fast ins Höschen und tust so, als könntest du auch nur einen einzigen deiner Huans verteidigen? Die stärksten Huans, die es gibt? Das ist zum Schießen!" Hohles, kaltes, gefühlloses Lachen mischte sich unter das Knistern und Lodern der Flammen im Hintergrund.
Binnen einer Sekunde blickte er Nia an, als wolle er sie umbringen. "Mach dich nicht lächerlich, Nia Toshiki!"
Nia sah ihn nicht kommen. Sie spürte nur den Aufprall auf dem von Splittern übersäten Boden und hörte Cedrics gellenden Schrei. Winzige Glasstücke bohrten sich in ihre Haut wie tausend kleine Nadeln. Als sie ihre Augen wieder öffnete, stand Pugal Kar über ihr. In seiner Hand hielt er einen Rabenschnabel - eine mittelalterlich anmutende Waffe, bestehend aus einem Stab und einem Hammerkopf, der wie ein Schnabel geformt war. Adrenalin schoss in ihre Adern. Sie wollte weg. Der Irre war über ihr!
Weg!
Schnell weg!
Er war ihr ganz nah und sie konnte nicht davonlaufen! Pugal rammte die Spitze des Stabes in Nias rechte Hand. Blut schoss aus der Wunde.
Sie wand sich vor Schmerz, doch kein Ton drang aus ihrer Kehle. Stattdessen liefen ihr Tränen über die Wangen. Ihr Gesicht war zu einer wütenden Grimasse verzerrt. Grinsend bohrte er die Waffe weiter hinein und drehte sie.
Cedric und Salvatore hatten sich aus ihrer Starre befreit und liefen auf sie zu. Die Besorgnis und die Angst stand ihnen nach wie vor ins Gesicht geschrieben.
Doch es stand zu viel auf dem Spiel.
Nia durfte nicht in seine Hände gelangen!
Pugal warf einen gelangweilten Blick über die Schulter. Mit seiner freien Hand griff er in seine Hosentasche und ließ einen Schlüssel aufblitzen. Durch ihren Tränenschleier hindurch erkannte Nia nur, dass der Schlüssel aufwändig mit Edelsteinen und Schnörkeln verziert war.
Ihre Huans hielten in ihrer Bewegung inne. Keiner wollte herausfinden, welche tödliche Waffe Pugal dort in seiner behandschuhten Hand lässig zwischen den Fingern zwirbelte.
Befriedigt widmete er sich wieder dem Mädchen unter sich, das er mithilfe seines Rabenschnabels regelrecht festgenagelt hatte. Gegen ihren Willen verwandelte sich ihr Degen zurück in einen Schlüssel. War das das Werk des Mannes?
"Nia Toshiki. Ich bin gekommen, um dich zu holen." Sein mörderischer Ausdruck hellte sich mit einem Schlag wieder auf. Unsanft aber beschwingt zog er seine Waffe aus ihrer Hand. Den Schlüssel steckte er wieder zurück – allerdings warf er davor noch einen Seitenblick auf die zwei Huans. Inzwischen kamen aus dem Schulgebäude etliche Menschen, die zum einen helfen und zum anderen schauen wollten, was vorgefallen war. Nichts hätte Pugal weniger stören können, der ein Taschentuch zückte und damit das Blut von seinem Rabenschnabel abwischte. "Als ich hörte, dass du dich so nach deiner besten Freundin Katja Müller sehnst, konnte ich nicht anders! Zwei unglückliche Seelen wieder zu vereinen... Das ist das Ziel dieser Aktion. Ich bin also ein strahlender Held!" Aufmunternd lächelnd warf er das blutige Taschentuch zu Boden. Er bückte sich, um Nia liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht zu wischen. Sie erschauderte, als sie die Kälte seiner Hände selbst durch die Handschuhe auf ihrer Haut spürte.
So nah!
Der Irre war so nah!
Fast hätte Nia beim Ausdruck "strahlender Held" höhnisch gelacht und ihm ins Gesicht gespuckt, aber dafür hatte sie nicht genügend Mumm in den Knochen. Sie musste Abstand zu ihm gewinnen. Und zwar schnell.
"Und was springt für Sie dabei heraus?", presste Nia unter Schmerzen hervor und setzte sich mühselig auf. Das Loch in ihrer Hand brannte wie Feuer.
Sein Grinsen wurde noch breiter. "Sieh an, sieh an. Du bist ja doch nicht ganz so doof wie ich dachte." Er hob Nias Kinn an. Durch den Tränenschleier konnte sie sein Gesicht nicht richtig erkennen. "Wenn ich dir Katja Müller zurückgebe, dann darf ich ein paar... Untersuchungen an dir durchführen." Feixend richtete er sich wieder auf.
Etwas Warmes breitete sich in Nias Innerem bei diesem Gedanken aus.
Katja... wiedersehen! Sie konnte wirklich Katja wiedersehen? Ihre beste Freundin? Die Person, die seit Jahr und Tag ihre Familie war und sie immer unterstützte? Die ihr mehr bedeutete als ihr Vater und sämtliche anderen Verwandten auf dieser Welt? Die Freundin, die sie so urplötzlich verlassen musste, ohne Lebewohl zu sagen? Katja, die sie immer aufgebaut hatte? Wegen der sie überhaupt die ganzen Mobbereien durchhalten konnte? Die talentierte, junge Musikerin mit Nerven aus Stahl und einem
so sonnigen Gemüt, dass man unwillkürlich mitlächeln musste? Mit der man Pferde stehlen konnte und sie so viele schöne Erinnerungen teilte?
Nia konnte sie wiedersehen? Für ein paar... Untersuchungen?
Ihr Herz klopfte. Das wäre ihr größter Wunsch – und die Erfüllung war zum Greifen nahe. Sie müsste nur ja sagen...! Was waren schon ein paar Untersuchungen gegenüber der Tatsache, Katja endlich wiedersehen zu können?
Das Mädchen riss seinen Kopf weg. Ihre blauen, verquollenen Augen blitzten.
"Das ich nicht lache!" Unter größter Anstrengung rappelte sie sich wieder auf. "Wer würde so einen Kuhhandel eingehen?! Sie zerstören Gebäude und verletzen Menschen und dann erwarten Sie, dass ich Ihnen einfach so vertraue? Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?"
Pugals Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Für eine Sekunde sah er verwirrt und überfordert aus.
Warum? Schoss es Nia durch den Kopf. Irgendetwas stimmte nicht.
Doch er hatte sich wieder gefangen. Ein höhnisches Grinsen und eine spitze Zunge brachten säuerlich hervor: "Ach? Dachtest du, ich würde vorne an der Türe klingeln und einen Bittbrief stellen, dass ich dich aus der Erselik-Schule auslösen darf? Mach dich nicht lächerlich, Gör. Du müsstest inzwischen gemerkt haben, dass es sich hier um ein Gefängnis handelt..."
Weiter kam er nicht. Ein Schatten sprang aus dem Gebüsch. Gerade noch rechtzeitig wich Pugal zur Seite.
Nia traute ihren Augen nicht, als ein voll ausgewachsener Löwe vor ihr stand und sich bedrohlich in voller Größe vor ihm aufbaute. Ein tiefes, furchteinflößendes Grollen tönte aus der Kehle des beeindruckenden Tieres.
"Na Miezekatze, hast du dich verlaufen?", höhnte Pugal lautstark und wirbelte mit seinem Rabenschnabel herum. Der König der Tiere zuckte nicht mit der Wimper. Plötzlich löste sich ein zweiter Schatten aus den Büschen. Die Person schlug mit voller Wucht zu. Mit einer eleganten Bewegung wehrte Pugal den Angriff ab. Ein metallisches Klirren erfüllte die Luft, als das Mädchen zum wiederholten Male mit seinem Schild auf den Eindringling einschlug. Erfolglos. Der Irre kam nicht einmal ins Schwitzen und parierte jeden Angriff. Wütend schnalzte sie mit der Zunge. Ihre langen, pinkfarbenen Zöpfe flogen durch die Luft.
Lais Sincer hatte das Schlachtfeld betreten. Und es sah ganz danach aus, als würde sie bis zum bitteren Ende kämpfen. Jeder Muskel ihres Körpers war gespannt. Sie wirkte selbst wie ein Raubtier. Bereit, alles zu geben.
Es war ein seltsamer Anblick, die kleine Lais gegen den vergleichsweisen großen Pugal antreten zu sehen... Es hatte etwas von David gegen Goliath. Alles geschah so schnell. Nia hatte nicht einen Atemzug lang Zeit, in den Kampf einzugreifen. Ein Blick von Lais genügte, dass der Löwe erneut mit seiner Pranke ausholte. Doch auch dieser Schlag ging ins Leere. Lais wiederholter Vorstoß war nicht schnell genug und wurde erneut geblockt.
Sie griffen Pugal zu zweit an und dennoch schien er unbeeindruckt.
"Es ist so schön, lauter alte Bekannte zu treffen!", flötete Pugal und stach dem Löwen ohne zögern ins Auge. Der tonlose Schrei ließ Nia erschaudern. Gepeinigt von Schmerz schüttelte er sich. Mit einem Ruck zog der Angreifer seine Waffe heraus und leckte das Blut ab. "Allerdings hab ich heute keine Zeit für den Streichelzoo..." Bei diesen Worten warf er seinen Rabenschnabel mit Schwung hinter sich. Gerade noch rechtzeitig konnte Cedric ausweichen, doch die vorbeizischende Waffe hatte einen blutigen Striemen im Gesicht hinterlassen. "Denk nicht mal dran, Ceddy. Lass die Finger von deinen Schlüsseln."
Eine schrille, wutentbrannte Stimme zerriss die angespannte Luft.
"Was soll der Scheiß? Kann mir das mal jemand erklären?" Tonia stand mit in die Hüften gestemmten Armen auf dem Schlachtfeld. Akuma kam hinterhergelaufen und war völlig außer Atem.
"Tonia, wir sollten hier weggehen... Du bist hier nicht sicher!", keuchte er und schüttelte sie. Diese Frau war wirklich nicht bei Trost!
"Nia, warum um alles in der Welt lässt du Salvatore sich nicht verwandeln? Oder von mir aus auch Cedric!", fauchte sie quer zu ihr herüber. Ihre markerschütternde Stimme übertönte sogar das tosende Feuer. Lais nutzte die Chance der Ablenkung und schleuderte ihren Schild in Richtung Pugal. Dieser wich mit Leichtigkeit aus. Lais war irritiert. Er hatte nicht mal in ihre Richtung geschaut! Ein breites Grinsen verzerrte Pugals Gesicht. Wie von Geisterhand stand er plötzlich hinter Salvatore und umfasste seine Hüften. Todesangst und Ekel ließen den Frauenschwarm fast aufschreien.
Tonia und Nia keuchten. Cedric sprang einen Meter zurück.
"Ganz einfach... Weil ich es niemals zulassen würde!", flötete Pugal und fuhr mit seiner behandschuhten Hand zärtlich die Gesichtskonturen des Schülers nach. Tonia sah aus, als würde sie sich gleich übergeben. Oder den Angreifer töten, wenn Akuma nicht direkt schützend vor ihr gestanden hätte. "Und ich würde niemals wollen, dass Salvi etwas zustößt - nicht wahr? Dafür bist du viel zu... kostbar."
"Fass ihn nicht an, du kranker Irrer!", brüllte Nia und stürzte auf ihn zu. In ihrer Hand hielt sie ihren Degen fest umklammert. Pugal zückte schmallippig lächelnd einen Schlüssel aus seiner Tasche. Ein Feuerball sauste auf das Mädchen zu, prallte jedoch von einem unsichtbaren Schutzschild ab. Verwirrt und erschrocken hielt Nia inne. Ihr Blick wanderte zu Cedric. Er hatte dutzende Schüssel fest umschlossen und obwohl er immer noch leichenblass war, schien er bereit zum Kämpfen.
Der Eindringling seufzte tief.
"Ich wollte nur mal kurz hallo sagen und holen, was mir gehört." Mit diesen Worten stand er neben Nia und hielt ihr einen Schlüssel an den Hals. Nia musste kein Schlüsselexperte sein um zu ahnen, was dieser bewirken konnte. Ihr Blut gefror in ihren Adern.
Ein ohrenbetäubender Lärm zerriss die Luft. Ein Hubschrauber schwebte direkt über ihnen, als eine schwarze Leiter herabgelassen wurde. Der Wind riss Akuma fast von den Beinen. Tonia hielt ihn fest umklammert und duckte sich. Die schwarzen Rotorenblätter funkelten unheilverkündend im rotgelben Licht des Feuers.
"Wenn ihr mich nun entschuldigen würdet...", griente er und zog seinen imaginären Hut.
"Nicht so schnell!", schrie Lais wutentbrannt. Eine Kanonenkugel schoss auf Pugal zu. Scheinbar ohne Eile zog er einen Schlüssel und die Kugel zerbarst in tausend kleine Teile. Fein zerstäubt überzog das schwarze Pulver die umherliegenden Glassplitter. Außerdem ging der anstürmende Löwe lichterloh in Flammen auf. Sogar Cedrics Pfeilregen auf den Helikopter wurde durch einen Schutzschild abgeschmettert. Zuletzt versuchte Tonia ihr Glück, doch das plötzlich im Boden aufklaffende Loch stellte für den Mann keine Hürde dar. Wütend wollte Nia einen weiteren ihrer Schlüssel aktivieren, doch Pugal schlug ihn ihr einfach aus der Hand. Mit seinen schlanken, langsehnigen Armen griff er um ihre Taille und schulterte sie mühelos.
Nia kratzte und biss um sich.
Erfolglos.
Sie schrie um Hilfe.
Erfolglos.
Jeder Hilfsversuch wurde perfekt pariert. Es war ein verzweifelter, einseitiger Kampf. Der Ausgang war von Anfang an klar. Pugal hatte sie in ihren Fängen. Salvatore konnte sich nicht rühren.
Er war starr vor Angst.
Warum? Warum entführte man sie? Das ergab doch keinen Sinn, oder etwa doch?
Alles, was sie wollte, war ein normales Leben! Sie wollte keine Huans, keine Ruler und keine Kämpfe – ein Leben in Frieden war alles, was sie sich wünschte! Selbst die Tatsache, dass sie Salvatore nun so nahe war, machte sie nicht glücklich. Er war ihr Schwarm, ja. Aber seine Anwesenheit und die mit ihm verbrachte Zeit erfüllten sie nicht annähernd so wie die mit Katja. Er war „nur“ ein Schwarm, während Nia in Katja eine Freundin fürs Leben gefunden hatte. Salvatore schien manchmal so perfekt, dass es ihr Unbehagen bereitete. Sie fühlte sich klein und wertlos dagegen. Katja bedeutete ihr so viel mehr – sie hatten so viel erlebt und durchgestanden! Und sie wollte ihre beste Freundin wiedersehen! Sie war die gefühlt einzige Familie, die sie hatte.
Sie wollte weg.
Weg von den Huans.
Weg von Pugal Kar.
Zurück in ihr altes Leben.
Zu ihrer eigenen Überraschung streckte sie die Hand aus und schrie. Doch sie rief nicht nach ihrem Schwarm. Nicht nach dem, nach dem sie sich all die Jahre verzehrt hatte.
„Cedric! Hilf mir!“
Eine einzelne Träne kullerte ihr übers Gesicht. Das ohrenbetäubende Geräusch der Rotorenblätter des Hubschraubers übertönte alles. Der Wind zerzauste ihre Haare und Strähnen flogen ihr vor die Augen. Und dennoch...
Dennoch sah sie Cedrics schmerzerfülltes Gesicht und wie er ebenfalls brüllte. Erfolglos setze er einen Schlüssel nach dem anderen ein, doch ihre Wirkung verpuffte sofort. Wie nass gewordenes Schießpulver waren seine Angriffe wirkungslos.
Unsanft zerrte Pugal sie in den Hubschrauber und schnallte sie fest. Bevor Nia sich weiter wehren konnte, knebelte und fesselte er sie. Ihre Handgelenke schmerzten. Ihr Kiefer fühlte sich an, als würde er ausgerenkt werden. Die Tränen und die Haare verschleierten ihre Sicht. Nachdem Pugal ihr die Ohrenschützer aufgesetzt hatte, hielt er ihr ein Tuch über die Nase.
Nia wehrte sich nicht. Es gab kein Entkommen.
Dann wurde alles schwarz.