Kapitel 31: Komm nicht auf Scherben zum Stehen
Unregelmäßig hob und senkte sich ihr Brustkorb. Die Sicht trübte sich und verschwamm schließlich ganz. Nia bemerkte nicht mehr ihre blutige, zerschlissene Kleidung, die stellenweise nur noch in Fetzen an ihr hing. Die zahllosen, stundenlangen Experimente hatten ihren Tribut gefordert.
Ihre Kehle schnürte sich zu. Unsicher, suchend und zögerlich streckte sie ihre Hand aus. Die mitschwingende Angst war die eines Kindes das nicht sicher wusste, ob es von seinen Eltern aufgefangen werden würde, wenn es fiel.
Das nicht wusste, ob seine Eltern für es da sein würden.
Das nicht wusste, ob es von seinen Eltern überhaupt geliebt oder einfach nur abgeschoben worden war.
Eine einzelne Träne bahnte sich den Weg nach draußen, als ihr Finger ein Foto im Labor ihres Vaters berührte. Jenes Vaters, den sie seit nunmehr zehn Jahren nicht gesehen hatte. Zehn lange Jahre von der Grundschule bis zum Abschluss der Realschule hatte sie praktisch keinen Kontakt zu ihrem Erzeuger.
Erzeuger.
Nicht mehr und nicht weniger war Roy Toshiki für Nia gewesen. Jemand, der sie in die Welt gesetzt und schließlich zurückgelassen hatte. Anfangs war sie sich noch sicher gewesen, dass sie in den Ferien nach Hause gehen dürfte. Doch nach immerwährenden, andauernden Enttäuschungen verwandelte sich die anfängliche Traurigkeit in Wut. Wut, dass man nicht den elterlichen Pflichten nachkam. Wut, dass man einfach in ein Internat abgeschoben worden war. Welch bequemes Leben musste ihr Vater wohl außerhalb der Mauern haben, wenn er von sämtlichen Pflichten der Erziehung für seine Tochter entbunden war!
Doch über die Tage, die Wochen, die Monate und die Jahre verwandelte sich die Wut erneut.
Wenn Nia die glücklichen, erlösten Gesichter ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen sah, wie sie sich auf ihr Zuhause freuten, wurde ihr ganz seltsam zumute. Auf ein Heim, das stets dasselbe bleiben würde - unabhängig davon, welcher Schulabschluss gerade angestrebt war. Ein Heim, in dem eine Familie auf einen wartete... Eine Familie, die einen umsorgte, beschützte und immer für einen da war...
War es so verwunderlich, dass sich ihre Wut in Trauer verwandelte? In eine Trauer und in Selbstzweifel, ob sie vielleicht nicht gut genug war, um nach Hause zu dürfen? Sie war nur eine mittelmäßige bis schlechte Schülerin... Aber war das ein Grund, nicht geliebt zu werden? Vielleicht hatte sie ja auch etwas falsch gemacht und wurde deshalb zurückgelassen? Immer und immer wieder suchte Nia in ihren verblassenden Erinnerungen nach Anhaltspunkten.
Vergeblich.
Nichts kam ihr in den Sinn, das solch eine Maßnahme gerechtfertigt hätte. Was hätte sie als Kindergartenkind auch anrichten können, dass die völlige Abwendung ihrer Eltern herbeigeführt hätte? Nur noch dumpf konnte sie sich an ihre verstorbene Mutter erinnern. Alles andere war dunkel.
Ihre Trauer und die Ruhelosigkeit, keinen Fixpunkt in ihrem Leben zu haben, höhlte Nia aus. Es gab keine Konstante. Nichts, an dem sie sich hätte festhalten können. Ein großes, schwarzes Loch füllte sie komplett aus.
Katja stopfte dieses Loch. Ihre freche, kecke Art erschien Nia wie ein Rettungsanker für die Ertrinkende, dahinschwebende und fast leblose junge Schülerin. Katja war für sie Fixpunkt. Konstante. Familie. Angeblich hatte Nia einmal Katja aus einem ähnlichen Loch gerettet, doch daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Katja war für Nia der Mittelpunkt des Lebens geworden, der ihr so bitterlich gefehlt hatte. Sie half der schüchternen Schülerin, nicht zu zerbrechen. Und vor allem nicht zu verbittern.
Und dennoch stand sie nun hier, im Labor ihres Vaters. Weinend. Schluchzend. Bebend. Alles brach aus ihr heraus, was sie so viele Jahre heruntergeschluckt hatte. Die einstige Unsicherheit wich einer Gewissheit:
Sie war nicht vergessen worden.
Sie war nicht gehasst worden.
Sie hatte immer einen Platz, auch wenn er nie in greifbarer Nähe war. Einen Platz in einer Familie.
Mit zittrigen, ungeschickten Fingern zottelte sie an einem Bild herum. Fingernägel glitten über die glatte Wand, die zunächst vergeblich versuchten, den Tesa abzutrennen. Wütend wischte sie sich mit dem Handrücken Tränen aus ihrem verquollenen Gesicht, um besser sehen zu können.
Das vergilbte Foto zeigte einen jungen, strahlenden Roy Toshiki mit einer winzigen Nia auf dem Schoß. Beide trugen einen Kranz aus blauen Gänseblümchen und lachten um die Wette. Schmutzig und dreckig saßen sie auf einer Wiese, aber der Moment schien wie für die Ewigkeit gemacht.
Zehn Jahre lang war sie in einem Internat eingesperrt gewesen.
Danach geriet sie in eine gefängnisartige Schule. Zusammen mit ihren Huans musste sie kämpfen lernen, obwohl sie Gewalt verabscheute.
Katja wusste nicht, wo sie war.
Das junge Mädchen war entführt und gefoltert worden.
Die Tränen versiegten.
Nias Blick war klar.
Zehn Jahre lang hatte sie in Sicherheit gelebt.
Danach war sie in eine weitere Schule geraten, die ihr beibrachte, sich selbst und das, was ihr wichtig war, zu beschützen. Sie war nicht allein.
Katja war nicht tot. Sie würden sich früher oder später wiedersehen.
Nia war entführt und gefoltert worden und hatte dafür Freiheit geschenkt bekommen.
Und hat dafür ihren Vater getroffen, der sie instinktiv in Sicherheit gebracht und augenblicklich erkannt hat.
Sie war nicht allein.
Sie war nicht wehrlos und schwach.
Zittrig sog sie die desinfektionsmittelgeschwängerte Luft ein. "K-keine Tränen mehr.", stotterte sie. Ihre linken Finger bewegten sich zu ihrer rechten Handfläche. Ein schwaches Glimmen erfüllte ihre Hand und der Griff eines Schlüssels kam langsam zum Vorschein. Mit einer sanften, aber sicheren Bewegung zog sie ihren Herzschlüssel heraus.
Langsam atmete sie aus und schloss die Augen. Den Schlüssel hielt sie fest umklammert.
"Keine Tränen mehr.", beschwor sie sich. Auf ihren Willen hin verwandelte sich der Herzschlüssel in ihren Degen.
Ab hier gab es nur noch Chancen, aber keine Unglücke mehr.
Entschlossen wirbelte sie Richtung Labortür.
~*~
"Wo bist du?!", brüllte Pugal durch den fast menschenleeren Gang. Seine Halsmuskeln waren vor schäumender Wut aufs äußerste gespannt und sein Gesicht hochrot. Blitzschnell drehte er sich in alle Richtungen und stürzte dann in die nächstbeste los.
Noch niemals zuvor war eines seiner Testsubjekte entkommen. Zumindest nicht besonders weit.
Und das sollte auch so bleiben.
"Komm her!!", keifte der hochgewachsene Mann mit inbrunst. Der gefährliche, fast tötliche Unterton war kaum zu überhören. Sein Blut kochte. Jeder seiner Muskeln war gespannt. Alle seine Körperbewegungen und seine Haltung schrien direkt, dass man diesem Mann fern bleiben sollte.
"Wen suchst du denn?", ertönte die dunkle, seidige Stimme eines Mannes, der gerade um die Ecke bog. Das nahezu primitive Gehabe seines Kollegen schien vollkommen an ihm vorbeizugehen. Entweder war er ein meisterlicher Schauspieler oder er war den Anblick einfach schon zu sehr gewohnt. Beides sehr beunruhigende Gedanken, da Pugal in seiner linken Hand ein Seziermesser hielt und in der anderen die Waffe seines Herzschlüssels: Den Rabenschnabel.
Augenblicklich erstarrte Pugal in seiner Bewegung. Rote Locken umsäumten ein kantiges, männliches Gesicht. Augenringe zeugten davon, dass die Person für ihre Arbeit leben und sterben würde. Einzelne, feine Falten zogen sich durch die Haut und zeigten das fortschreitende Alter unmissverständlich an. Der weiße Kittel war makellos und aus seiner Brusttasche baumelten ein Kugelschreiber und ein kleines Notizbuch. "Roy, du bist es nur.", kommentierte Pugal fast abfällig und schnalzte dabei mit der Zunge. Warum war ausgerechnet er hier aufgetaucht? Von allen Personen in diesem Labortrakt war er der allerletzte, den Pugal jetzt gebrauchen konnte! Abgesehen davon, dass Roy ihn ständig maßregelte und eine Aura der Sachlichkeit und Wissens ausstrahlte, handelte es sich bei dem entlaufenden Testsubjekt ausgerechnet um seine Tochter Nia. Jenes Mädchen, welches er seit über einem Jahrzehnt mit allen Mitteln zu schützen versuchte. Das hatte er auch bis vor kurzem erfolgreich geschafft und Pugal zog seinen imaginären Hut vor den Anstrengungen, die ihretwegen unternommen worden waren.
"Wer sollte es sonst sein?", konterte Roy und schloss einen weiteren Druckknopf an seinem Laborkittel. "Falls dir wieder eines deiner Testobjekte entkommen ist... Lass es einfach mal sein. Ratten, Mäuse und Konsorten kann man ersetzen. Geh einfach zu Heinz ins Untergeschoss und beantrage neue." Bei diesen Worten strich er sich eine seiner Locken aus dem Gesicht. Er sollte dringend mal wieder Haare schneiden oder sich tatsächlich einen Zopf binden. "Angeblich haben wir jetzt auch Fledermäuse, aber da musst du dich erst erkundigen, ob du eine bekommst. Die sind eigentlich für andere Tests vorgesehen als die unseren."
Ungeduldig knirschte Pugal mit den Zähnen. "Danke für den Tipp, Roy. Allerdings war das eine sehr spezielle... Maus, die mir da entkommen ist. Die kann ich nicht so einfach durch die Zuchttiere von Heinz ersetzen."
Der ältere Forscher spitzte die Ohren. "Du wirst doch wohl nicht verbotenerweise eine Maus von draußen reingebracht haben, oder? Du weißt, dass man für die Forschung nur speziell gezüchtete Tiere benutzen darf?"
Abwehrend hob Pugal die Hände. "Woah, Professor! Halt mir bitte keinen Vortrag von etwas, was mir klar wie Kloßbrühe ist!"
Obwohl sich im Gesicht von Nias Vater kein Muskel regte, spürte man eine bedrohliche Aura. "Wenn dir solche Sachen so klar wie Kloßbrühe sind..." Bei diesen Worten entriss er Pugal seinen Rabenschnabel. Der hochgewachsene Mann gab sich sichtlich Mühe, den Professor nicht anzuschreien. Stattdessen schnalzte er nur missbilligend und säuerlich mit der Zunge. Während der Rabenschnabel in Pugals Händen wie eine gefährliche, tötliche Waffe wirkte, erschien er in Roys Händen wie ein hübscher Spazierstock. Als der ältere Mann die Waffe fest umschlossen hielt, geschah etwas Seltsames:
Ein leichtes, sanftes Glimmen kam aus ihrem Inneren. Und dann, wie in Zeitlupe, schrumpfte der Rabenschnabel und verwandelte sich schließlich in den Herzschlüssel.
"Oi Professor, musste das wirklich sein?!", schnauzte Pugal und knurrte dabei wie ein Tier. "Meine Waffe zu versiegeln ist unnötig wie ein Kropf! Außerdem ist es nicht fair, dass ausschließlich DU das kannst!"
Wortlos überreichte Roy Pugal seinen Herzschlüssel, welcher sofort in der rechten Hand seines Besitzers mit einem zarten Leuchten verschwand.
"Keine Tiere außerhalb der Zucht verwenden. Keine Schlüssel irgendwelcher Art im Labortrakt verwenden. Das sind die Regeln, an die sich jeder zu halten hat, auch ein Genie namens Pugal Kar.", Roy machte auf dem Absatz kehrt und raunte ihm noch über die Schulter zu:
"Auch der Gebrauch von schwarzen, seidig glänzenden Mäusen mit meerblauen Augen ist strengstens untersagt."
~*~
"Bist du taub oder was?", fauchte eine Stimme neben ihrem Ohr. Nia machte einen Satz. Fast wäre ihr das Herz aus der Brust gesprungen!
Entsetzt und leicht klappernd drehte sie sich zu der Stimme. Ein junger Mann, der wohl etwas älter als sie war, stand vor ihr. Langes, schwarzes, zotteliges Haar stand wüst in alle Himmelsrichtungen ab. Unsanft waren die Ponyfransen nach hinten gekämmt worden, sodass das markante Gesicht mit hohen Wangenknochen gut zu sehen war. Die Haare wallten bis zu den Fußknöcheln und waren an den Spitzen lila gefärbt. Rote Augen mit fein säuberlich gezupften Augenbrauen starrten sie an wie ein Raubtier Freiwild. Ein ockerfarbener Pulli mit altbackenen Rautenmustern umhüllte den schlanken Körper. Die braune, lange Cordhose passte nur bedingt dazu. Obwohl er einen Pulli trug, hatte er keine Schuhe an. Ein Schlüssel baumelte an einer langen Kette um seinen Hals.
"W-wer bist du?", lispelte Nia. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Noch mal, das war ja gar nichts!
"Wer bist du und was willst du von mir?", fragte Nia geradeheraus und hoffte, dass die Person ihren enorm schnellen Herzschlag nicht hören konnte.
"Hah? Was interessiert dich das?", sagte er und verzog das Gesicht. Dabei kam er Nia näher, als ihr lieb war. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren und fühlte sich im Blick seiner Augen wie ein verdurstendes Tier in der sengenden Sonne. "Verpiss dich wieder ins Labor, so wie es der Prof gesagt hat! Sonst kriegste einen Satz heiße Ohren." Dabei streckte er den Arm aus und berührte die Wand, sodass das junge Mädchen nun zwischen Wand und dem Unbekannten eingesperrt war. Nias Haare sträubten sich.
Noch bevor sie antworten konnte, schrillte es markerschütternd. Beide zuckten unwillkürlich zusammen. Der Alarm dröhnte in ihren Ohren und reflexartig hielt sie sich die Ohren zu.
Eine fast mechanische Frauenstimme ertönte knacksend aus den Lautsprechern: "Subjekt Nummer 93 hat das Labor ohne Befugnis verlassen und befindet sich auf freiem Fuß. Lassen Sie das Subjekt nicht entkommen und bringen es auf schnellstem Wege wieder zurück ins Labor C 1.021! Ich wiederhole-"
Die Pupillen des Unbekannten verengten sich zu schmalen Schlitzen. "Gottverdammte Scheiße...", knirschte er, doch über den donnernden Lärm konnte Nia es nicht verstehen. War er etwa das gesuchte Subjekt? Noch einmal huschte ihr Blick über den jungen Mann vor ihr. Erst jetzt fiel ihr ein Halsband auf, an welchem eine silberne Plakette befestigt war. Darin eingraviert stand die Nummer 93.
Gerade wollte der hochgewachsene junge Mann lospreschen, als plötzlich zwei Gestalten um die Ecke gerannt kamen.
Nias Blut gefror ihr in den Adern.
Es waren Pugal Kar und... ihr Vater, Roy Toshiki!
Ihre Kehle schnürte sich zu. Unsicher, suchend und zögerlich streckte sie ihre Hand aus. Die mitschwingende Angst war die eines Kindes das nicht sicher wusste, ob es von seinen Eltern aufgefangen werden würde, wenn es fiel.
Das nicht wusste, ob seine Eltern für es da sein würden.
Das nicht wusste, ob es von seinen Eltern überhaupt geliebt oder einfach nur abgeschoben worden war.
Eine einzelne Träne bahnte sich den Weg nach draußen, als ihr Finger ein Foto im Labor ihres Vaters berührte. Jenes Vaters, den sie seit nunmehr zehn Jahren nicht gesehen hatte. Zehn lange Jahre von der Grundschule bis zum Abschluss der Realschule hatte sie praktisch keinen Kontakt zu ihrem Erzeuger.
Erzeuger.
Nicht mehr und nicht weniger war Roy Toshiki für Nia gewesen. Jemand, der sie in die Welt gesetzt und schließlich zurückgelassen hatte. Anfangs war sie sich noch sicher gewesen, dass sie in den Ferien nach Hause gehen dürfte. Doch nach immerwährenden, andauernden Enttäuschungen verwandelte sich die anfängliche Traurigkeit in Wut. Wut, dass man nicht den elterlichen Pflichten nachkam. Wut, dass man einfach in ein Internat abgeschoben worden war. Welch bequemes Leben musste ihr Vater wohl außerhalb der Mauern haben, wenn er von sämtlichen Pflichten der Erziehung für seine Tochter entbunden war!
Doch über die Tage, die Wochen, die Monate und die Jahre verwandelte sich die Wut erneut.
Wenn Nia die glücklichen, erlösten Gesichter ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen sah, wie sie sich auf ihr Zuhause freuten, wurde ihr ganz seltsam zumute. Auf ein Heim, das stets dasselbe bleiben würde - unabhängig davon, welcher Schulabschluss gerade angestrebt war. Ein Heim, in dem eine Familie auf einen wartete... Eine Familie, die einen umsorgte, beschützte und immer für einen da war...
War es so verwunderlich, dass sich ihre Wut in Trauer verwandelte? In eine Trauer und in Selbstzweifel, ob sie vielleicht nicht gut genug war, um nach Hause zu dürfen? Sie war nur eine mittelmäßige bis schlechte Schülerin... Aber war das ein Grund, nicht geliebt zu werden? Vielleicht hatte sie ja auch etwas falsch gemacht und wurde deshalb zurückgelassen? Immer und immer wieder suchte Nia in ihren verblassenden Erinnerungen nach Anhaltspunkten.
Vergeblich.
Nichts kam ihr in den Sinn, das solch eine Maßnahme gerechtfertigt hätte. Was hätte sie als Kindergartenkind auch anrichten können, dass die völlige Abwendung ihrer Eltern herbeigeführt hätte? Nur noch dumpf konnte sie sich an ihre verstorbene Mutter erinnern. Alles andere war dunkel.
Ihre Trauer und die Ruhelosigkeit, keinen Fixpunkt in ihrem Leben zu haben, höhlte Nia aus. Es gab keine Konstante. Nichts, an dem sie sich hätte festhalten können. Ein großes, schwarzes Loch füllte sie komplett aus.
Katja stopfte dieses Loch. Ihre freche, kecke Art erschien Nia wie ein Rettungsanker für die Ertrinkende, dahinschwebende und fast leblose junge Schülerin. Katja war für sie Fixpunkt. Konstante. Familie. Angeblich hatte Nia einmal Katja aus einem ähnlichen Loch gerettet, doch daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Katja war für Nia der Mittelpunkt des Lebens geworden, der ihr so bitterlich gefehlt hatte. Sie half der schüchternen Schülerin, nicht zu zerbrechen. Und vor allem nicht zu verbittern.
Und dennoch stand sie nun hier, im Labor ihres Vaters. Weinend. Schluchzend. Bebend. Alles brach aus ihr heraus, was sie so viele Jahre heruntergeschluckt hatte. Die einstige Unsicherheit wich einer Gewissheit:
Sie war nicht vergessen worden.
Sie war nicht gehasst worden.
Sie hatte immer einen Platz, auch wenn er nie in greifbarer Nähe war. Einen Platz in einer Familie.
Mit zittrigen, ungeschickten Fingern zottelte sie an einem Bild herum. Fingernägel glitten über die glatte Wand, die zunächst vergeblich versuchten, den Tesa abzutrennen. Wütend wischte sie sich mit dem Handrücken Tränen aus ihrem verquollenen Gesicht, um besser sehen zu können.
Das vergilbte Foto zeigte einen jungen, strahlenden Roy Toshiki mit einer winzigen Nia auf dem Schoß. Beide trugen einen Kranz aus blauen Gänseblümchen und lachten um die Wette. Schmutzig und dreckig saßen sie auf einer Wiese, aber der Moment schien wie für die Ewigkeit gemacht.
Zehn Jahre lang war sie in einem Internat eingesperrt gewesen.
Danach geriet sie in eine gefängnisartige Schule. Zusammen mit ihren Huans musste sie kämpfen lernen, obwohl sie Gewalt verabscheute.
Katja wusste nicht, wo sie war.
Das junge Mädchen war entführt und gefoltert worden.
Die Tränen versiegten.
Nias Blick war klar.
Zehn Jahre lang hatte sie in Sicherheit gelebt.
Danach war sie in eine weitere Schule geraten, die ihr beibrachte, sich selbst und das, was ihr wichtig war, zu beschützen. Sie war nicht allein.
Katja war nicht tot. Sie würden sich früher oder später wiedersehen.
Nia war entführt und gefoltert worden und hatte dafür Freiheit geschenkt bekommen.
Und hat dafür ihren Vater getroffen, der sie instinktiv in Sicherheit gebracht und augenblicklich erkannt hat.
Sie war nicht allein.
Sie war nicht wehrlos und schwach.
Zittrig sog sie die desinfektionsmittelgeschwängerte Luft ein. "K-keine Tränen mehr.", stotterte sie. Ihre linken Finger bewegten sich zu ihrer rechten Handfläche. Ein schwaches Glimmen erfüllte ihre Hand und der Griff eines Schlüssels kam langsam zum Vorschein. Mit einer sanften, aber sicheren Bewegung zog sie ihren Herzschlüssel heraus.
Langsam atmete sie aus und schloss die Augen. Den Schlüssel hielt sie fest umklammert.
"Keine Tränen mehr.", beschwor sie sich. Auf ihren Willen hin verwandelte sich der Herzschlüssel in ihren Degen.
Ab hier gab es nur noch Chancen, aber keine Unglücke mehr.
Entschlossen wirbelte sie Richtung Labortür.
~*~
"Wo bist du?!", brüllte Pugal durch den fast menschenleeren Gang. Seine Halsmuskeln waren vor schäumender Wut aufs äußerste gespannt und sein Gesicht hochrot. Blitzschnell drehte er sich in alle Richtungen und stürzte dann in die nächstbeste los.
Noch niemals zuvor war eines seiner Testsubjekte entkommen. Zumindest nicht besonders weit.
Und das sollte auch so bleiben.
"Komm her!!", keifte der hochgewachsene Mann mit inbrunst. Der gefährliche, fast tötliche Unterton war kaum zu überhören. Sein Blut kochte. Jeder seiner Muskeln war gespannt. Alle seine Körperbewegungen und seine Haltung schrien direkt, dass man diesem Mann fern bleiben sollte.
"Wen suchst du denn?", ertönte die dunkle, seidige Stimme eines Mannes, der gerade um die Ecke bog. Das nahezu primitive Gehabe seines Kollegen schien vollkommen an ihm vorbeizugehen. Entweder war er ein meisterlicher Schauspieler oder er war den Anblick einfach schon zu sehr gewohnt. Beides sehr beunruhigende Gedanken, da Pugal in seiner linken Hand ein Seziermesser hielt und in der anderen die Waffe seines Herzschlüssels: Den Rabenschnabel.
Augenblicklich erstarrte Pugal in seiner Bewegung. Rote Locken umsäumten ein kantiges, männliches Gesicht. Augenringe zeugten davon, dass die Person für ihre Arbeit leben und sterben würde. Einzelne, feine Falten zogen sich durch die Haut und zeigten das fortschreitende Alter unmissverständlich an. Der weiße Kittel war makellos und aus seiner Brusttasche baumelten ein Kugelschreiber und ein kleines Notizbuch. "Roy, du bist es nur.", kommentierte Pugal fast abfällig und schnalzte dabei mit der Zunge. Warum war ausgerechnet er hier aufgetaucht? Von allen Personen in diesem Labortrakt war er der allerletzte, den Pugal jetzt gebrauchen konnte! Abgesehen davon, dass Roy ihn ständig maßregelte und eine Aura der Sachlichkeit und Wissens ausstrahlte, handelte es sich bei dem entlaufenden Testsubjekt ausgerechnet um seine Tochter Nia. Jenes Mädchen, welches er seit über einem Jahrzehnt mit allen Mitteln zu schützen versuchte. Das hatte er auch bis vor kurzem erfolgreich geschafft und Pugal zog seinen imaginären Hut vor den Anstrengungen, die ihretwegen unternommen worden waren.
"Wer sollte es sonst sein?", konterte Roy und schloss einen weiteren Druckknopf an seinem Laborkittel. "Falls dir wieder eines deiner Testobjekte entkommen ist... Lass es einfach mal sein. Ratten, Mäuse und Konsorten kann man ersetzen. Geh einfach zu Heinz ins Untergeschoss und beantrage neue." Bei diesen Worten strich er sich eine seiner Locken aus dem Gesicht. Er sollte dringend mal wieder Haare schneiden oder sich tatsächlich einen Zopf binden. "Angeblich haben wir jetzt auch Fledermäuse, aber da musst du dich erst erkundigen, ob du eine bekommst. Die sind eigentlich für andere Tests vorgesehen als die unseren."
Ungeduldig knirschte Pugal mit den Zähnen. "Danke für den Tipp, Roy. Allerdings war das eine sehr spezielle... Maus, die mir da entkommen ist. Die kann ich nicht so einfach durch die Zuchttiere von Heinz ersetzen."
Der ältere Forscher spitzte die Ohren. "Du wirst doch wohl nicht verbotenerweise eine Maus von draußen reingebracht haben, oder? Du weißt, dass man für die Forschung nur speziell gezüchtete Tiere benutzen darf?"
Abwehrend hob Pugal die Hände. "Woah, Professor! Halt mir bitte keinen Vortrag von etwas, was mir klar wie Kloßbrühe ist!"
Obwohl sich im Gesicht von Nias Vater kein Muskel regte, spürte man eine bedrohliche Aura. "Wenn dir solche Sachen so klar wie Kloßbrühe sind..." Bei diesen Worten entriss er Pugal seinen Rabenschnabel. Der hochgewachsene Mann gab sich sichtlich Mühe, den Professor nicht anzuschreien. Stattdessen schnalzte er nur missbilligend und säuerlich mit der Zunge. Während der Rabenschnabel in Pugals Händen wie eine gefährliche, tötliche Waffe wirkte, erschien er in Roys Händen wie ein hübscher Spazierstock. Als der ältere Mann die Waffe fest umschlossen hielt, geschah etwas Seltsames:
Ein leichtes, sanftes Glimmen kam aus ihrem Inneren. Und dann, wie in Zeitlupe, schrumpfte der Rabenschnabel und verwandelte sich schließlich in den Herzschlüssel.
"Oi Professor, musste das wirklich sein?!", schnauzte Pugal und knurrte dabei wie ein Tier. "Meine Waffe zu versiegeln ist unnötig wie ein Kropf! Außerdem ist es nicht fair, dass ausschließlich DU das kannst!"
Wortlos überreichte Roy Pugal seinen Herzschlüssel, welcher sofort in der rechten Hand seines Besitzers mit einem zarten Leuchten verschwand.
"Keine Tiere außerhalb der Zucht verwenden. Keine Schlüssel irgendwelcher Art im Labortrakt verwenden. Das sind die Regeln, an die sich jeder zu halten hat, auch ein Genie namens Pugal Kar.", Roy machte auf dem Absatz kehrt und raunte ihm noch über die Schulter zu:
"Auch der Gebrauch von schwarzen, seidig glänzenden Mäusen mit meerblauen Augen ist strengstens untersagt."
~*~
"Bist du taub oder was?", fauchte eine Stimme neben ihrem Ohr. Nia machte einen Satz. Fast wäre ihr das Herz aus der Brust gesprungen!
Entsetzt und leicht klappernd drehte sie sich zu der Stimme. Ein junger Mann, der wohl etwas älter als sie war, stand vor ihr. Langes, schwarzes, zotteliges Haar stand wüst in alle Himmelsrichtungen ab. Unsanft waren die Ponyfransen nach hinten gekämmt worden, sodass das markante Gesicht mit hohen Wangenknochen gut zu sehen war. Die Haare wallten bis zu den Fußknöcheln und waren an den Spitzen lila gefärbt. Rote Augen mit fein säuberlich gezupften Augenbrauen starrten sie an wie ein Raubtier Freiwild. Ein ockerfarbener Pulli mit altbackenen Rautenmustern umhüllte den schlanken Körper. Die braune, lange Cordhose passte nur bedingt dazu. Obwohl er einen Pulli trug, hatte er keine Schuhe an. Ein Schlüssel baumelte an einer langen Kette um seinen Hals.
"W-wer bist du?", lispelte Nia. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Noch mal, das war ja gar nichts!
"Wer bist du und was willst du von mir?", fragte Nia geradeheraus und hoffte, dass die Person ihren enorm schnellen Herzschlag nicht hören konnte.
"Hah? Was interessiert dich das?", sagte er und verzog das Gesicht. Dabei kam er Nia näher, als ihr lieb war. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren und fühlte sich im Blick seiner Augen wie ein verdurstendes Tier in der sengenden Sonne. "Verpiss dich wieder ins Labor, so wie es der Prof gesagt hat! Sonst kriegste einen Satz heiße Ohren." Dabei streckte er den Arm aus und berührte die Wand, sodass das junge Mädchen nun zwischen Wand und dem Unbekannten eingesperrt war. Nias Haare sträubten sich.
Noch bevor sie antworten konnte, schrillte es markerschütternd. Beide zuckten unwillkürlich zusammen. Der Alarm dröhnte in ihren Ohren und reflexartig hielt sie sich die Ohren zu.
Eine fast mechanische Frauenstimme ertönte knacksend aus den Lautsprechern: "Subjekt Nummer 93 hat das Labor ohne Befugnis verlassen und befindet sich auf freiem Fuß. Lassen Sie das Subjekt nicht entkommen und bringen es auf schnellstem Wege wieder zurück ins Labor C 1.021! Ich wiederhole-"
Die Pupillen des Unbekannten verengten sich zu schmalen Schlitzen. "Gottverdammte Scheiße...", knirschte er, doch über den donnernden Lärm konnte Nia es nicht verstehen. War er etwa das gesuchte Subjekt? Noch einmal huschte ihr Blick über den jungen Mann vor ihr. Erst jetzt fiel ihr ein Halsband auf, an welchem eine silberne Plakette befestigt war. Darin eingraviert stand die Nummer 93.
Gerade wollte der hochgewachsene junge Mann lospreschen, als plötzlich zwei Gestalten um die Ecke gerannt kamen.
Nias Blut gefror ihr in den Adern.
Es waren Pugal Kar und... ihr Vater, Roy Toshiki!