Kapitel 27: Where our Dreams and Reality collide
Benommen versuchte sie ihre verkrusteten Augenlider auseinander zu zerren. Durch den schmalen Schlitz stach gleisend helles Licht, sodass sie die Augen sofort wieder zupresste. Gleichmäßiges, dumpfes Dröhnen einer Klimaanlage war zu hören. Dazwischen mischte sich seltsames Surren und Klacken. Nias Kopf pochte heftig und jeder Gedanke kam schwer und schleppend.
Was war passiert?
Ein süßlicher, fremdartiger Geruch stieg ihr in die Nase, der allerdings in den Dämpfen von Desinfektionsspray fast unterging.
Sie war in der Schule gewesen, als plötzlich...
Schlagartig riss sie ihre Augen auf.
... als plötzlich eine Bombe fiel und sie von dem Mann, den sie damals im Wald getroffen hatte, entführt wurde!
Hektisch bewegte sie den Kopf. Weiße Laborbänken reihten sich aneinander. Auf ihnen standen Apperaturen in unterschiedlichen Größen, von denen die unbekannten Geräusche ausgingen. Eines sah aus wie die schwarze Kuppel einer Kirche, während ein anderes wirkte wie ein flaches Tablett. Es wurde stetig und sehr langsam von einer zur anderen Seite geschwenkt. Darüber befanden sich Ablageflächen, auf denen sich kleinere und größere Plastikflaschen mit weißen, verschlissenen Etiketten und seltsamen Zahlen- und Buchstabenkombinationen dicht an dicht drängten. Sogar einige dunkle, angelaufene Glasflaschen, die scheinbar Flüssigkeiten enthielten, konnte die Schülerin ausmachen. Irgendwo blitzte ein Kochtopf hervor, der vor einer merkwürdig anmutenden Glasapparatur drapiert war. Über der Tür war ein Duschkopf angebracht, der mit einem Gummihandschuh versehen war. An der Wand daneben ein Erste Hilfe Kasten und ein Feuerlöscher. Ein Waschbecken mit zwei Hähnen und etlichen Schwämmen, Flaschenreinigern und Rohrputzern vervollständigte das Bild.
Doch all das interessierte Nia nicht wirklich, denn sie war fein säuberlich auf einem Labortisch mit Schnallen an Händen und Füßen festgepinnt. Das Leder schnitt ihr in die Haut und in ihren Fingerspitzen hatte sie inzwischen kein Gefühl mehr.
Zuerst zerrte sie vorsichtig an ihren Fesseln und als sich nichts rührte, zog sie fester. Allerdings half nichts davon. Sie schluckte schwer. Entführt, gefesselt in einem fremden Labor, da fehlte eigentlich nur noch-
"Oh, unser schüchternes Dornröschen ist erwacht!", ertönte die beschwingte Stimme ihres Häschers, der in strahlend weißem Laborkittel bekleidet den Raum betrat. Mit einem Schwung setzte er sich die Laborbrille auf die Nase, als er immer näher kam.
"Wer sind Sie?", presste Nia heiser hervor. Ihre Stimme klang nervös und zittrig. Und rau, da sie scheinbar seit einiger Zeit nicht mehr gesprochen hatte. Ihre Stirn war mit Sorgenfalten durchzogen, auch wenn sie sich sichtlich Mühe gab, ihre Furcht nicht zu zeigen.
"Eigentlich dachte ich, ich hätte mich schon vorgestellt, Nia Toshiki.", antwortete ihr Entführer und zog einen Stuhl zu ihrem Liegeplatz. Die Metallbeine quietschten
und kratzten laut und unangenehm auf dem gefliesten Boden. "Pugal Kar lautete mein bescheidener Name. Ich bin Forscher. Genauer gesagt bin ich ein Genetiker, der unter anderem an dem großen Projekt namens 'Huans' beteiligt war." Während er das sagte, streifte er sich mit geübten Bewegungen zwei blaue Handschuhe über.
Nia wurde hellhörig. Zum ersten Mal begegnete sie jemanden, der vielleicht bedeutend mehr über die Huans wusste als die Lehrer oder die Huans selbst! Vielleicht konnte sie endlich mehr herausfinden und ein paar der ihr auf der Seele brennenden Fragen beantworten.
"K-kennen Sie auch meinen Vater? Roy Toshiki?", stotterte Nia vor lauter Aufregung und biss sich dabei fast versehentlich auf die Zunge. Ihr Gegenüber verharrte einen reglosen Augenblick, während sich ein morbides Grinsen auf sein Gesicht stahl.
"Roy Toshiki?", wiederholte er dümmlich und gedehnt, "Nie von ihm gehört."
Bevor Nia etwas darauf erwidern konnte, holte Pugal eine Metallschere aus einer Schublade. Plötzlich holte er aus und stach dem schüchternen Mädchen in die Handfläche.
Ein schmerzverzerrter Schrei entwich ihren vor Nervosität gespannten Stimmbändern. Warmes Blut tropfte auf die metallische Unterfläche, auf der sie sich befand. Mit einem schmallippigen Lächeln bohrte Nias Häscher die Schere weiter in die Wunde. Ihr Atem ging stoßweise und sie versuchte verzweifelt, ihre Hand wegzureißen.
Vergeblich. Das Leder hielt sie fest im Griff und bohrte sich noch tiefer in ihre Haut. Jeder Atemzug war ein qualvolles Pfeifen. Tränen schossen ihr in die Augen und vernebelten ihr die Sicht.
"Ich denke", setzte Pugal an und drehte die Schere bei jedem Wort ein wenig weiter in der blutenden, pulsierenden Wunde, "Dass dir bewusst ist, dass ich dich nicht zum Quatschen hergeholt habe, oder?"
Nias ganzes Sein war darauf gerichtet, nicht unkontrolliert zu schreien oder panisch an den Lederbändern zu reißen. Heißes Adrenalin schoss ihr in die Adern. Sie musste weg! Weg! Alles brannte. Es schmerzte so sehr. Entsetzt presste sie ihre Augenlider zusammen, als sie das viele Blut sah, welches aus der Wunde tropfte. Der metallische Geruch von Blut stieg ihr in die Nase. Ihr war schlecht. Sie öffnete den Mund, um zu schreien. "Schreien ist zwecklos. Den Raum habe ich von innen abgeriegelt und er ist außerdem schalldicht. Niemand wird dich hören oder retten können. Du bist nicht zum Spaß hier, haben wir uns verstanden?"
Als sie nicht gleich eine Reaktion zeigte, stach der Wissenschaftler erneut und mit noch größerer Wucht in die Wunde. Nia keuchte laut auf und nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Pugal strahlte. "Dann sind wir uns ja wenigstens in einem Punkt schon mal einig!" Beschwingt zog er die Schere heraus und putzte sie geflissentlich ab, bevor er sie wieder neben Nia legte. "Bevor die völlig überflüssige Frage kommt, was ich eigentlich von dir will, erzähle ich dir lieber ein wenig. Ich nehme nämlich stark an, dass dir deine süßen, kleinen, knuffigen Huans keinen Einblick in ihr Wissen gegeben haben. Oder besser gesagt: In ihre Vermutungen und in die Mysterien, die deine Person umgeben."
"Ich...", fing Nia an, doch ihre Stimme erstarb in dem Moment, als Pugal mit seinem behandschuhten Zeigefinger auf die Wunde tippte. "Ich habe keine Mysterien, die mich umgeben.", brachte sie den Satz schließlich doch noch zu Ende.
Dabei schaute sie ihn mit festen, entschlossenen Augen an. Sie hatte nichts zu verbergen. Seit der fünften Klasse war sie unentwegt im Internat gewesen und damit hatte sich auch der Großteil ihres gesamten Lebens dort abgespielt. Bis auf Katja hatte sie keine Freunde und dass sie in Salvatore verliebt war, war eigentlich ein offenes Geheimnis. Nahezu jede Schülerin hatte früher oder später einmal etwas für ihn übrig gehabt. Das einzige 'Geheimnis', das sie hatte war die Sache rund um die Huans und die neue Schule namens Erselik. Aber da Pugal Kar wortwörtlich wie eine Bombe eingeschlagen war und sie entführt hatte, konnte auch das nichts Neues für ihn sein.
Und dennoch... Seitdem sie auf der Erselik-Schule war, behandelten sie viele wie ein rohes Ei. Zumindest ihre beiden Huans, die einfach nicht mit der Sprache herausrücken wollten.
Geräuschvoll öffnete der junge Wissenschaftler eine schwere Schublade unter einem leise dröhnenden Abzug und fischte eine dunkle Glasflasche heraus. Aus den Augenwinkeln und unter dem Tränenschleier konnte Nia nur ein "HCl" wahrnehmen. Chemie war nie ihre Stärke gewesen. Allgemein war außer Sport nichts ihre Stärke gewesen!
Aber allzu gefährlich konnte es nicht sein... oder?
Damit ließ sich Pugal mit Schwung auf den Stuhl fallen und schaute Nia für einige quälend Lange Minuten schweigend an. Sein Blick wanderte von Scheitel bis zur Sohle. Was wollte er von ihr? Was genau hatte er vor?
Mit ernster, wissenschaftlicher Miene fragte er sie sachlich: "Gab es einmal einen Vorfall, bei dem du dich ernsthaft verletzt hast?"
Die Frage überraschte sie und am liebsten hätte sie ihn wütend angeschrien.
"Natürlich habe ich das! Vor ein paar Minuten haben sie mir erst ein Loch in die Hand gebohrt!", schnaubte sie und blinzelte ihre aufkommenden Tränen hinfort. Sie war einem verrückten Mann ausgeliefert und es gab keine Chance, zu entkommen. Ihre Brust schnürte sich bei diesem Gedanken zu. Was sollte aus ihr werden? Wohin führte das alles?
"Oh ja, ich vergaß.", antwortete Pugal hämisch und strich sich über den Bart. "Gut, dass du meinem altersschwachen Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hast." Mit diesen Worten erhob er sich und bohrte die Schere voller Hass in die andere Hand. Nias Körper bäumte sich vor Schmerz auf, doch es war kein Ton zu hören.
Sie wollte ihm nicht die Genugtuung geben, sie schreien zu hören wie ein erbärmliches Tier.
"Meine Frage bezog sich nicht auf eben." Dabei kam er ihrem Gesicht unangenehm nahe. "Sondern auf Verletzungen innerhalb der Schule... des Internats oder sonstwo. Alles außerhalb dieser vier Wände." Nia sog die Luft scharf ein. Beide Hände pulsierten und es war schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
"Denk scharf nach", hauchte er in ihr Ohr. Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken, während ihre kleinen grauen Gehirnzellen auf Hochtouren liefen. Ungeduldig drehte der Bärtige die Schere in der Wunde. Nia zuckte zusammen und keuchte unter Qualen.
"Sie...", begann sie und die Tränen in ihrer Stimme waren nicht zu überhören, "machen es nicht besser oder schneller, wenn Sie mich ständig verletzen."
Pugal stockte für einen Augenblick, um Nias Worte zu verarbeiten. Dann brach er in schallendes Gelächter aus, zog die Schere heraus und klopfte sich auf die Schenkel, bevor er sich theatralisch eine Träne aus dem Augenwinkel wischte.
"Oh VERZEIHUNG, Miss! Ich wollte ja nicht unhöflich sein, aber es kam so über mich!" Er kicherte in seinen Handschuh und schmierte sich dabei etwas Blut ins Gesicht.
Mit einem Schlag erstarb das Lächeln auf seinem Gesicht und er war mit einem Satz über sie gebeugt, die Schere erneut in die Hand gebohrt.
"Ist es DAS, was du dachtest, das ich tun würde, Nia Toshiki?!" Jede Silbe ihres Namens triefte vor Hass und Abscheu. "Denk gefälligst nach! So dumm kannst selbst du nicht sein! Hör auf mit diesen Plattitüden und liefere mir Ergebnisse!"
Nia schloss die Augen. Inzwischen spürte sie nicht einmal mehr den Schmerz in ihren Händen.
Wann hatte sie sich ernsthaft verletzt?
Das junge Mädchen riss die Augen auf. "Meine Hand ist einmal unter das Stuhlbein einer meiner Mitschüler geraten... Zum Glück war meine Hand nicht gebrochen und es hat nicht lange weh getan."
"Es... 'hat nicht lange weh getan'?", echote Pugal ungewöhnlich langsam, "Definiere 'nicht lange'!"
Was hatte er? Genau so hat sie es doch eben gesagt, oder etwa nicht? Langsam nickte sie. "Ja. Ich bin nicht zum Arzt gegangen, weil ich mir das nicht leisten kann und die Lehrerin es auch als unwichtig abgetan hat. Aber schon einige Minuten nachdem meine Hand unter dem Stuhl eingequetscht war, habe ich keine Schmerzen mehr gespürt. Trotzdem war Cedric sehr besorgt... "
"Wenige Minuten, so so... Ha, aber sich Sorgen zu machen sieht ihm ähnlich!", sagte er mehr zu sich selbst als zu Nia. Diese wurde hellhörig.
"Sie kennen Cedric Urs?", hakte sie interessiert nach und ignorierte die abklingenden Schmerzen.
Pugal starrte sie an, als wäre sie dumm wie Brot. "Natürlich kenne ich Cedric Urs? Er war eines der wichtigsten und mächtigsten Versuchsobjekte überhaupt!"
"Versuchsob-" Das Wort blieb dem schüchternen Mädchen direkt im Hals stecken. Gleißend heiße Wut stieg in ihr auf und wich der Todesangst, die sie im Angesicht ihres Häschers hatte. "Weder Cedric Urs noch irgendein anderer Huan ist ein Versuchsobjekt!"
"Deine Meinung interessiert keinen.", schmetterte er sie ab und hatte ganz offensichtlich auch nicht wirklich zugehört. Der Weißkittelträger schien immer noch in Gedanken versunken. "Die Wahrscheinlichkeit, dass man infolge eines solchen Traumas wie das des Stuhlbeins eine Verletzung davonträgt, ist relativ hoch. Dennoch hast du nach kurzer Zeit keine Schmerzen mehr gespürt..."
Jedes Wort von diesem Mann ließ Nia sauer aufstoßen. Wie konnte er es wagen, Huans als Objekte zu bezeichnen und sie dann einfach zu ignorieren! Und was hatte ihre bescheuerte Verletzung, die sie sich durch diese prägende Mobbingaktion zugezogen hatte, mit ihrer jetzigen Situation zu tun? Sie war gefesselt und verletzt, doch der Mann neben ihr schien so unberührt davon, als würde er den Wetterbericht des morgigen Tages studieren! Gerade öffnete sie wieder den Mund, als Pugal die linke Hand begutachtete. Das war die Hand, die er als erstes so verletzt hatte. Er verharrte kurz in seiner Bewegung, als er die Wunde in Augenschein nahm. Ein seltsamer, nicht deutbarer Ausdruck huschte über sein Gesicht.
"Es ist also wahr.", flüsterte er und konnte sich eines Grinsens nicht erwehren.
Nias Blick wurde finster. "Was ist wahr?" Alles, was er sagte, ergab für sie keinen Sinn!
"Deine Wunde ist geschlossen. Die Wunde, die ich dir vor einigen wenigen Minuten zugefügt habe, ist vollständig geheilt. Nur noch das Blut um dich herum zeugt vom Gegenteil."
Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter.
Die Wunde... war verheilt? Binnen dieser kurzen Zeit? Bedeutete das... dass...
Sie konnte den Gedanken nicht zuende führen.
"Das ist deine besondere Kraft, Nia Toshiki. Du kannst selbst schlimmste Wunden in einer geringen Zeitspanne ohne zusätzlichen Aufwand von selbst heilen. Das..." Pugal beugte sich über sie und hob unsanft ihr Kinn, damit Nia ihm in die Augen sehen musste. "... und nur das macht dich zu etwas unendlich Wertvollem."
Sämtliche ihrer Nackenhaare stellten sich auf.
Unsicher fuhr sie mit ihren Fingerspitzen über die vermeintliche Wunde. Doch... es stimmte. Es war keine mehr da. Nur noch klebriges, allmählich verkrustendes Blut war übrig. Was ging hier vor? War das alles ein übler Scherz? Ein Alptraum?
"Ärzte werden sich um dich reißen, um das zu erforschen! Und ich... darf als aller Erster ran." Bei diesen Worten erschauderte Nia. Seine hoch gewachsene Gestalt überschattete ihre kleine, klägliche Existenz. Mehr denn je fürchtete sie sich. Verzweifelt riss sie an den Lederbändern, die ihre Haut aufrissen. Es kostete sie sämtliche Kraft, nicht laut zu winseln.
"Lassen Sie mich gehen!", rief sie aus und nackte, hässliche Panik machte sich in ihr breit. Wenn die Scherenaktion erst der Anfang war, wollte sie den Rest gar nicht kennenlernen! "Aber aber", beschwichtigte er sie lachend, während er immer mehr Instrumente aus den Schubladen herauskramte. "Das glaubst du selber nicht, oder? Als würde ich dich von dannen ziehen lassen, nachdem ich so ein Tohuwabohu veranstaltet habe, dich in mein Labor zu kriegen!"
Natürlich war Nia das klar, aber dennoch... Sie wollte einfach weg! War ihr simpler Wunsch, ihre eigentlichen Sommerferien mit ihrer besten Freundin zu verbringen, sich Gedanken über eine mögliche Ausbildung zu machen und ihre kurze, neu gewonnene Freizeit nach dem Abschluss zu genießen so unglaublich schwierig? Was war bloß falsch gelaufen, dass sie sich nun getrennt von ihrer besten Freundin, die einzige Person, die sie wahrlich als Familie betiteln würde in einer seltsamen Fantasyschule befand und nun sogar auf dem OP-Tisch im Labor eines Fremden zu liegen, der sie auf morbide Art und Weise untersuchen wollte? Warum konnte sie nicht einfach normal sein?
Normal und... auch nicht gemobbt? Warum konnte man ihr nicht einfach den Frieden lassen, den sie sich so sehr wünschte?
Bittere Tränen krochen in ihr hoch und bahnten sich den Weg ins Freie. Ungehemmt kullerten sie ihre vor Aufregung geröteten Wangen herab.
Ein gedehnter Seufzer entwich Pugals Kehle. "Wie um alles in der Welt kann man nur so verweichlicht sein? Ich habe schon Eigenversuche dieser Art ohne Betäubung durchgeführt." Wie zur Bestätigung deutete er nicht ohne gewissen Stolz auf die vielen Narben. Doch Nia war das vollkommen egal, zumal ihre Tränen eine klare Sicht verhinderten.
"Man ist nicht schwach, nur weil man weint!", schniefte sie und zog die Nase hoch. "Soll ich vielleicht in Freudentänze ausbrechen, weil ich entführt und gefesselt auf einem OP-Tisch liege und seltsame Versuche an mir durchgeführt werden sollen?" Bevor Pugal etwas auf diesen wider erwarten bissigen Kommentar entgegnen konnte, fügte sie bitter hinzu: "Oh VERZEIHUNG. Ich kann ja nicht tanzen, weil ich gefesselt bin!" Ihre Augen waren voller Angst und Hass zugleich.
Ein leichtes Lächeln umspielte die Mundwinkel des seltsamen Mannes. "So gefällst du mir gleich viel besser. Niemand mag Schwächlinge. Die halten nichts aus und... zerbrechen nur. Es macht keinen Spaß, mit so etwas zu arbeiten."
"Ich bin kein Etwas!", fauchte Nia. "Und warum um alles in der Welt wollen immer alle, dass ich mich verändere? Wenn man mich einfach in Ruhe lassen würde, gäbe es auch kein Problem!" Ihre Stimme brach, als erneut Tränen nach außen drangen. "Ich will einfach nur... in Ruhe gelassen werden... Einfach nur... das Leben mit meiner besten Freundin genießen..." Ihre Schultern zitterten, als ein Weinkrampf über sie kam. Die letzten Sätze schrie sie. "Ich will mich nicht ändern! Bin ich denn nicht schon stark genug, dass ich die ganzen Mobbereien über mich ergehen lasse und dennoch nicht darunter zusammenbreche? Bin ich denn nicht schon stark, dass ich jeden Morgen in die Schule gehe, obwohl mich dort die Schmach und Schande meiner Häscher erwartet? Bin denn nicht gerade ich die Stärkste von allen? Alle benutzen mich als Boxsack, aber ist nicht der Boxsack der einzig Starke? Egal wie fest jemand zuschlägt und wie oft man auf ihn einschlägt, er zerfällt nicht, er reißt nicht sondern macht immer weiter, als ob nie etwas gewesen wäre!"
Aufgebracht schnappte sie nach Luft. Ihr Gesicht war vollkommen unter den Tränen verquollen und sie hasste sich dafür, dass sie Pugal Kar doch ihre Tränen gezeigt hatte. Dieser hatte für ihren kleinen Auftritt nicht mehr als ein müdes Lächeln übrig.
"Bist du endlich fertig? Nachdem du dich nun selbst auf den Stand eines Boxsackes gebracht und damit eigenständig objektiviziert hast, steht mir nichts mehr im Wege.", kommentierte er emotionslos und bückte sich, um etwas unter dem OP-Tisch hervor zu holen.
Nia traute ihren Augen nicht, als eine Motorsäge bedrohlich im künstlichen Licht der grellen Laborlampen blitzte.
Was war passiert?
Ein süßlicher, fremdartiger Geruch stieg ihr in die Nase, der allerdings in den Dämpfen von Desinfektionsspray fast unterging.
Sie war in der Schule gewesen, als plötzlich...
Schlagartig riss sie ihre Augen auf.
... als plötzlich eine Bombe fiel und sie von dem Mann, den sie damals im Wald getroffen hatte, entführt wurde!
Hektisch bewegte sie den Kopf. Weiße Laborbänken reihten sich aneinander. Auf ihnen standen Apperaturen in unterschiedlichen Größen, von denen die unbekannten Geräusche ausgingen. Eines sah aus wie die schwarze Kuppel einer Kirche, während ein anderes wirkte wie ein flaches Tablett. Es wurde stetig und sehr langsam von einer zur anderen Seite geschwenkt. Darüber befanden sich Ablageflächen, auf denen sich kleinere und größere Plastikflaschen mit weißen, verschlissenen Etiketten und seltsamen Zahlen- und Buchstabenkombinationen dicht an dicht drängten. Sogar einige dunkle, angelaufene Glasflaschen, die scheinbar Flüssigkeiten enthielten, konnte die Schülerin ausmachen. Irgendwo blitzte ein Kochtopf hervor, der vor einer merkwürdig anmutenden Glasapparatur drapiert war. Über der Tür war ein Duschkopf angebracht, der mit einem Gummihandschuh versehen war. An der Wand daneben ein Erste Hilfe Kasten und ein Feuerlöscher. Ein Waschbecken mit zwei Hähnen und etlichen Schwämmen, Flaschenreinigern und Rohrputzern vervollständigte das Bild.
Doch all das interessierte Nia nicht wirklich, denn sie war fein säuberlich auf einem Labortisch mit Schnallen an Händen und Füßen festgepinnt. Das Leder schnitt ihr in die Haut und in ihren Fingerspitzen hatte sie inzwischen kein Gefühl mehr.
Zuerst zerrte sie vorsichtig an ihren Fesseln und als sich nichts rührte, zog sie fester. Allerdings half nichts davon. Sie schluckte schwer. Entführt, gefesselt in einem fremden Labor, da fehlte eigentlich nur noch-
"Oh, unser schüchternes Dornröschen ist erwacht!", ertönte die beschwingte Stimme ihres Häschers, der in strahlend weißem Laborkittel bekleidet den Raum betrat. Mit einem Schwung setzte er sich die Laborbrille auf die Nase, als er immer näher kam.
"Wer sind Sie?", presste Nia heiser hervor. Ihre Stimme klang nervös und zittrig. Und rau, da sie scheinbar seit einiger Zeit nicht mehr gesprochen hatte. Ihre Stirn war mit Sorgenfalten durchzogen, auch wenn sie sich sichtlich Mühe gab, ihre Furcht nicht zu zeigen.
"Eigentlich dachte ich, ich hätte mich schon vorgestellt, Nia Toshiki.", antwortete ihr Entführer und zog einen Stuhl zu ihrem Liegeplatz. Die Metallbeine quietschten
und kratzten laut und unangenehm auf dem gefliesten Boden. "Pugal Kar lautete mein bescheidener Name. Ich bin Forscher. Genauer gesagt bin ich ein Genetiker, der unter anderem an dem großen Projekt namens 'Huans' beteiligt war." Während er das sagte, streifte er sich mit geübten Bewegungen zwei blaue Handschuhe über.
Nia wurde hellhörig. Zum ersten Mal begegnete sie jemanden, der vielleicht bedeutend mehr über die Huans wusste als die Lehrer oder die Huans selbst! Vielleicht konnte sie endlich mehr herausfinden und ein paar der ihr auf der Seele brennenden Fragen beantworten.
"K-kennen Sie auch meinen Vater? Roy Toshiki?", stotterte Nia vor lauter Aufregung und biss sich dabei fast versehentlich auf die Zunge. Ihr Gegenüber verharrte einen reglosen Augenblick, während sich ein morbides Grinsen auf sein Gesicht stahl.
"Roy Toshiki?", wiederholte er dümmlich und gedehnt, "Nie von ihm gehört."
Bevor Nia etwas darauf erwidern konnte, holte Pugal eine Metallschere aus einer Schublade. Plötzlich holte er aus und stach dem schüchternen Mädchen in die Handfläche.
Ein schmerzverzerrter Schrei entwich ihren vor Nervosität gespannten Stimmbändern. Warmes Blut tropfte auf die metallische Unterfläche, auf der sie sich befand. Mit einem schmallippigen Lächeln bohrte Nias Häscher die Schere weiter in die Wunde. Ihr Atem ging stoßweise und sie versuchte verzweifelt, ihre Hand wegzureißen.
Vergeblich. Das Leder hielt sie fest im Griff und bohrte sich noch tiefer in ihre Haut. Jeder Atemzug war ein qualvolles Pfeifen. Tränen schossen ihr in die Augen und vernebelten ihr die Sicht.
"Ich denke", setzte Pugal an und drehte die Schere bei jedem Wort ein wenig weiter in der blutenden, pulsierenden Wunde, "Dass dir bewusst ist, dass ich dich nicht zum Quatschen hergeholt habe, oder?"
Nias ganzes Sein war darauf gerichtet, nicht unkontrolliert zu schreien oder panisch an den Lederbändern zu reißen. Heißes Adrenalin schoss ihr in die Adern. Sie musste weg! Weg! Alles brannte. Es schmerzte so sehr. Entsetzt presste sie ihre Augenlider zusammen, als sie das viele Blut sah, welches aus der Wunde tropfte. Der metallische Geruch von Blut stieg ihr in die Nase. Ihr war schlecht. Sie öffnete den Mund, um zu schreien. "Schreien ist zwecklos. Den Raum habe ich von innen abgeriegelt und er ist außerdem schalldicht. Niemand wird dich hören oder retten können. Du bist nicht zum Spaß hier, haben wir uns verstanden?"
Als sie nicht gleich eine Reaktion zeigte, stach der Wissenschaftler erneut und mit noch größerer Wucht in die Wunde. Nia keuchte laut auf und nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Pugal strahlte. "Dann sind wir uns ja wenigstens in einem Punkt schon mal einig!" Beschwingt zog er die Schere heraus und putzte sie geflissentlich ab, bevor er sie wieder neben Nia legte. "Bevor die völlig überflüssige Frage kommt, was ich eigentlich von dir will, erzähle ich dir lieber ein wenig. Ich nehme nämlich stark an, dass dir deine süßen, kleinen, knuffigen Huans keinen Einblick in ihr Wissen gegeben haben. Oder besser gesagt: In ihre Vermutungen und in die Mysterien, die deine Person umgeben."
"Ich...", fing Nia an, doch ihre Stimme erstarb in dem Moment, als Pugal mit seinem behandschuhten Zeigefinger auf die Wunde tippte. "Ich habe keine Mysterien, die mich umgeben.", brachte sie den Satz schließlich doch noch zu Ende.
Dabei schaute sie ihn mit festen, entschlossenen Augen an. Sie hatte nichts zu verbergen. Seit der fünften Klasse war sie unentwegt im Internat gewesen und damit hatte sich auch der Großteil ihres gesamten Lebens dort abgespielt. Bis auf Katja hatte sie keine Freunde und dass sie in Salvatore verliebt war, war eigentlich ein offenes Geheimnis. Nahezu jede Schülerin hatte früher oder später einmal etwas für ihn übrig gehabt. Das einzige 'Geheimnis', das sie hatte war die Sache rund um die Huans und die neue Schule namens Erselik. Aber da Pugal Kar wortwörtlich wie eine Bombe eingeschlagen war und sie entführt hatte, konnte auch das nichts Neues für ihn sein.
Und dennoch... Seitdem sie auf der Erselik-Schule war, behandelten sie viele wie ein rohes Ei. Zumindest ihre beiden Huans, die einfach nicht mit der Sprache herausrücken wollten.
Geräuschvoll öffnete der junge Wissenschaftler eine schwere Schublade unter einem leise dröhnenden Abzug und fischte eine dunkle Glasflasche heraus. Aus den Augenwinkeln und unter dem Tränenschleier konnte Nia nur ein "HCl" wahrnehmen. Chemie war nie ihre Stärke gewesen. Allgemein war außer Sport nichts ihre Stärke gewesen!
Aber allzu gefährlich konnte es nicht sein... oder?
Damit ließ sich Pugal mit Schwung auf den Stuhl fallen und schaute Nia für einige quälend Lange Minuten schweigend an. Sein Blick wanderte von Scheitel bis zur Sohle. Was wollte er von ihr? Was genau hatte er vor?
Mit ernster, wissenschaftlicher Miene fragte er sie sachlich: "Gab es einmal einen Vorfall, bei dem du dich ernsthaft verletzt hast?"
Die Frage überraschte sie und am liebsten hätte sie ihn wütend angeschrien.
"Natürlich habe ich das! Vor ein paar Minuten haben sie mir erst ein Loch in die Hand gebohrt!", schnaubte sie und blinzelte ihre aufkommenden Tränen hinfort. Sie war einem verrückten Mann ausgeliefert und es gab keine Chance, zu entkommen. Ihre Brust schnürte sich bei diesem Gedanken zu. Was sollte aus ihr werden? Wohin führte das alles?
"Oh ja, ich vergaß.", antwortete Pugal hämisch und strich sich über den Bart. "Gut, dass du meinem altersschwachen Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hast." Mit diesen Worten erhob er sich und bohrte die Schere voller Hass in die andere Hand. Nias Körper bäumte sich vor Schmerz auf, doch es war kein Ton zu hören.
Sie wollte ihm nicht die Genugtuung geben, sie schreien zu hören wie ein erbärmliches Tier.
"Meine Frage bezog sich nicht auf eben." Dabei kam er ihrem Gesicht unangenehm nahe. "Sondern auf Verletzungen innerhalb der Schule... des Internats oder sonstwo. Alles außerhalb dieser vier Wände." Nia sog die Luft scharf ein. Beide Hände pulsierten und es war schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
"Denk scharf nach", hauchte er in ihr Ohr. Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken, während ihre kleinen grauen Gehirnzellen auf Hochtouren liefen. Ungeduldig drehte der Bärtige die Schere in der Wunde. Nia zuckte zusammen und keuchte unter Qualen.
"Sie...", begann sie und die Tränen in ihrer Stimme waren nicht zu überhören, "machen es nicht besser oder schneller, wenn Sie mich ständig verletzen."
Pugal stockte für einen Augenblick, um Nias Worte zu verarbeiten. Dann brach er in schallendes Gelächter aus, zog die Schere heraus und klopfte sich auf die Schenkel, bevor er sich theatralisch eine Träne aus dem Augenwinkel wischte.
"Oh VERZEIHUNG, Miss! Ich wollte ja nicht unhöflich sein, aber es kam so über mich!" Er kicherte in seinen Handschuh und schmierte sich dabei etwas Blut ins Gesicht.
Mit einem Schlag erstarb das Lächeln auf seinem Gesicht und er war mit einem Satz über sie gebeugt, die Schere erneut in die Hand gebohrt.
"Ist es DAS, was du dachtest, das ich tun würde, Nia Toshiki?!" Jede Silbe ihres Namens triefte vor Hass und Abscheu. "Denk gefälligst nach! So dumm kannst selbst du nicht sein! Hör auf mit diesen Plattitüden und liefere mir Ergebnisse!"
Nia schloss die Augen. Inzwischen spürte sie nicht einmal mehr den Schmerz in ihren Händen.
Wann hatte sie sich ernsthaft verletzt?
Das junge Mädchen riss die Augen auf. "Meine Hand ist einmal unter das Stuhlbein einer meiner Mitschüler geraten... Zum Glück war meine Hand nicht gebrochen und es hat nicht lange weh getan."
"Es... 'hat nicht lange weh getan'?", echote Pugal ungewöhnlich langsam, "Definiere 'nicht lange'!"
Was hatte er? Genau so hat sie es doch eben gesagt, oder etwa nicht? Langsam nickte sie. "Ja. Ich bin nicht zum Arzt gegangen, weil ich mir das nicht leisten kann und die Lehrerin es auch als unwichtig abgetan hat. Aber schon einige Minuten nachdem meine Hand unter dem Stuhl eingequetscht war, habe ich keine Schmerzen mehr gespürt. Trotzdem war Cedric sehr besorgt... "
"Wenige Minuten, so so... Ha, aber sich Sorgen zu machen sieht ihm ähnlich!", sagte er mehr zu sich selbst als zu Nia. Diese wurde hellhörig.
"Sie kennen Cedric Urs?", hakte sie interessiert nach und ignorierte die abklingenden Schmerzen.
Pugal starrte sie an, als wäre sie dumm wie Brot. "Natürlich kenne ich Cedric Urs? Er war eines der wichtigsten und mächtigsten Versuchsobjekte überhaupt!"
"Versuchsob-" Das Wort blieb dem schüchternen Mädchen direkt im Hals stecken. Gleißend heiße Wut stieg in ihr auf und wich der Todesangst, die sie im Angesicht ihres Häschers hatte. "Weder Cedric Urs noch irgendein anderer Huan ist ein Versuchsobjekt!"
"Deine Meinung interessiert keinen.", schmetterte er sie ab und hatte ganz offensichtlich auch nicht wirklich zugehört. Der Weißkittelträger schien immer noch in Gedanken versunken. "Die Wahrscheinlichkeit, dass man infolge eines solchen Traumas wie das des Stuhlbeins eine Verletzung davonträgt, ist relativ hoch. Dennoch hast du nach kurzer Zeit keine Schmerzen mehr gespürt..."
Jedes Wort von diesem Mann ließ Nia sauer aufstoßen. Wie konnte er es wagen, Huans als Objekte zu bezeichnen und sie dann einfach zu ignorieren! Und was hatte ihre bescheuerte Verletzung, die sie sich durch diese prägende Mobbingaktion zugezogen hatte, mit ihrer jetzigen Situation zu tun? Sie war gefesselt und verletzt, doch der Mann neben ihr schien so unberührt davon, als würde er den Wetterbericht des morgigen Tages studieren! Gerade öffnete sie wieder den Mund, als Pugal die linke Hand begutachtete. Das war die Hand, die er als erstes so verletzt hatte. Er verharrte kurz in seiner Bewegung, als er die Wunde in Augenschein nahm. Ein seltsamer, nicht deutbarer Ausdruck huschte über sein Gesicht.
"Es ist also wahr.", flüsterte er und konnte sich eines Grinsens nicht erwehren.
Nias Blick wurde finster. "Was ist wahr?" Alles, was er sagte, ergab für sie keinen Sinn!
"Deine Wunde ist geschlossen. Die Wunde, die ich dir vor einigen wenigen Minuten zugefügt habe, ist vollständig geheilt. Nur noch das Blut um dich herum zeugt vom Gegenteil."
Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter.
Die Wunde... war verheilt? Binnen dieser kurzen Zeit? Bedeutete das... dass...
Sie konnte den Gedanken nicht zuende führen.
"Das ist deine besondere Kraft, Nia Toshiki. Du kannst selbst schlimmste Wunden in einer geringen Zeitspanne ohne zusätzlichen Aufwand von selbst heilen. Das..." Pugal beugte sich über sie und hob unsanft ihr Kinn, damit Nia ihm in die Augen sehen musste. "... und nur das macht dich zu etwas unendlich Wertvollem."
Sämtliche ihrer Nackenhaare stellten sich auf.
Unsicher fuhr sie mit ihren Fingerspitzen über die vermeintliche Wunde. Doch... es stimmte. Es war keine mehr da. Nur noch klebriges, allmählich verkrustendes Blut war übrig. Was ging hier vor? War das alles ein übler Scherz? Ein Alptraum?
"Ärzte werden sich um dich reißen, um das zu erforschen! Und ich... darf als aller Erster ran." Bei diesen Worten erschauderte Nia. Seine hoch gewachsene Gestalt überschattete ihre kleine, klägliche Existenz. Mehr denn je fürchtete sie sich. Verzweifelt riss sie an den Lederbändern, die ihre Haut aufrissen. Es kostete sie sämtliche Kraft, nicht laut zu winseln.
"Lassen Sie mich gehen!", rief sie aus und nackte, hässliche Panik machte sich in ihr breit. Wenn die Scherenaktion erst der Anfang war, wollte sie den Rest gar nicht kennenlernen! "Aber aber", beschwichtigte er sie lachend, während er immer mehr Instrumente aus den Schubladen herauskramte. "Das glaubst du selber nicht, oder? Als würde ich dich von dannen ziehen lassen, nachdem ich so ein Tohuwabohu veranstaltet habe, dich in mein Labor zu kriegen!"
Natürlich war Nia das klar, aber dennoch... Sie wollte einfach weg! War ihr simpler Wunsch, ihre eigentlichen Sommerferien mit ihrer besten Freundin zu verbringen, sich Gedanken über eine mögliche Ausbildung zu machen und ihre kurze, neu gewonnene Freizeit nach dem Abschluss zu genießen so unglaublich schwierig? Was war bloß falsch gelaufen, dass sie sich nun getrennt von ihrer besten Freundin, die einzige Person, die sie wahrlich als Familie betiteln würde in einer seltsamen Fantasyschule befand und nun sogar auf dem OP-Tisch im Labor eines Fremden zu liegen, der sie auf morbide Art und Weise untersuchen wollte? Warum konnte sie nicht einfach normal sein?
Normal und... auch nicht gemobbt? Warum konnte man ihr nicht einfach den Frieden lassen, den sie sich so sehr wünschte?
Bittere Tränen krochen in ihr hoch und bahnten sich den Weg ins Freie. Ungehemmt kullerten sie ihre vor Aufregung geröteten Wangen herab.
Ein gedehnter Seufzer entwich Pugals Kehle. "Wie um alles in der Welt kann man nur so verweichlicht sein? Ich habe schon Eigenversuche dieser Art ohne Betäubung durchgeführt." Wie zur Bestätigung deutete er nicht ohne gewissen Stolz auf die vielen Narben. Doch Nia war das vollkommen egal, zumal ihre Tränen eine klare Sicht verhinderten.
"Man ist nicht schwach, nur weil man weint!", schniefte sie und zog die Nase hoch. "Soll ich vielleicht in Freudentänze ausbrechen, weil ich entführt und gefesselt auf einem OP-Tisch liege und seltsame Versuche an mir durchgeführt werden sollen?" Bevor Pugal etwas auf diesen wider erwarten bissigen Kommentar entgegnen konnte, fügte sie bitter hinzu: "Oh VERZEIHUNG. Ich kann ja nicht tanzen, weil ich gefesselt bin!" Ihre Augen waren voller Angst und Hass zugleich.
Ein leichtes Lächeln umspielte die Mundwinkel des seltsamen Mannes. "So gefällst du mir gleich viel besser. Niemand mag Schwächlinge. Die halten nichts aus und... zerbrechen nur. Es macht keinen Spaß, mit so etwas zu arbeiten."
"Ich bin kein Etwas!", fauchte Nia. "Und warum um alles in der Welt wollen immer alle, dass ich mich verändere? Wenn man mich einfach in Ruhe lassen würde, gäbe es auch kein Problem!" Ihre Stimme brach, als erneut Tränen nach außen drangen. "Ich will einfach nur... in Ruhe gelassen werden... Einfach nur... das Leben mit meiner besten Freundin genießen..." Ihre Schultern zitterten, als ein Weinkrampf über sie kam. Die letzten Sätze schrie sie. "Ich will mich nicht ändern! Bin ich denn nicht schon stark genug, dass ich die ganzen Mobbereien über mich ergehen lasse und dennoch nicht darunter zusammenbreche? Bin ich denn nicht schon stark, dass ich jeden Morgen in die Schule gehe, obwohl mich dort die Schmach und Schande meiner Häscher erwartet? Bin denn nicht gerade ich die Stärkste von allen? Alle benutzen mich als Boxsack, aber ist nicht der Boxsack der einzig Starke? Egal wie fest jemand zuschlägt und wie oft man auf ihn einschlägt, er zerfällt nicht, er reißt nicht sondern macht immer weiter, als ob nie etwas gewesen wäre!"
Aufgebracht schnappte sie nach Luft. Ihr Gesicht war vollkommen unter den Tränen verquollen und sie hasste sich dafür, dass sie Pugal Kar doch ihre Tränen gezeigt hatte. Dieser hatte für ihren kleinen Auftritt nicht mehr als ein müdes Lächeln übrig.
"Bist du endlich fertig? Nachdem du dich nun selbst auf den Stand eines Boxsackes gebracht und damit eigenständig objektiviziert hast, steht mir nichts mehr im Wege.", kommentierte er emotionslos und bückte sich, um etwas unter dem OP-Tisch hervor zu holen.
Nia traute ihren Augen nicht, als eine Motorsäge bedrohlich im künstlichen Licht der grellen Laborlampen blitzte.