Kapitel 1: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Stumm schaute sie geradeaus - hindurch durch Wände, Menschen und Umgebung. Ihre lapislazuliblauen Augen waren ausdruckslos und der schwarze Wasserfall ihrer Haare schien sie von der Welt abzuschotten. Es dauerte einige Sekunden bis die an sie gerichteten Worte sie erreichten.
"Heute ist wieder der Tag, hm?"
Das Mädchen schreckte hoch und blickte direkt in die warmen, haselnussbraunen Augen ihrer besten Freundin. "Katja...", wisperte sie peinlich berührt und rieb sich ungeschickt die Stirn mit ihrem Handballen, "Entschuldige bitte, wir verbringen so wenig Zeit miteinander -"
"Jetzt mach Mal halblang! Gerade weil wir so wenig Zeit miteinander verbringen können, sollten wir uns doch nichts vormachen und so tun, als hätten wir den Spaß unseres Lebens! Wahre Herzensprobleme kann man nicht einfach Mal so beiseite schaffen, wenn man gerade Bock drauf hat!", unterbrach sie das ungestüme Mädchen und stupste ihre Freundin mit dem Zeigefinger an die Nase. Diese schaute verdattert und verbarg ein schmales Lächeln hinter ihrer Hand. Eigentlich wollte Katja ihren Redefluss noch nicht abreißen lassen, doch just in dem Moment lief ein kleines Rinnsal geschmolzenen Eises ihr über die Finger. Laut fluchend versuchte sie den Schaden zu beheben. Letztlich machte sie es nur schlimmer, denn nun war auch ihr Gesicht mit Schokoeis vollgeschmiert. Davon bekam sie allerdings nichts mit.
"Ach Nia!", lachte Katja glockenhell, "Komm schon, erzähl der Alten Katja, was dich bedrückt. Geht es um deine Mama?" Der eben noch so offene und lebenslustige Blick wurde schwermütiger und ernster.
Beim letzten Wort zuckte das hübsche Mädchen zusammen und nickte stumm. Erst jetzt nahm Nia wahr, wo sie eigentlich waren – im schuleigenen, kleinen Park, ganz in der Nähe der kleinen Einkaufspassage. In dieser hatte Katja auch ihr Eis erstanden, welches Nia vehement abgelehnt hatte. Sie hatte auf nichts Appetit. Und auf nichts Lust. In ihr war nur dieser dumpfe Schmerz, den sie nicht zuordnen konnte. War es Trauer? Einsamkeit?
Schweigend und behutsam packte Katja ihre schüchterne Freundin an der Schulter und schlenderte vorbei an den Sonnenblumenbeeten, die mit blauen Gänseblümchen gesäumt waren. Unter einem gewaltigen Ahornbaum machten sie es sich auf einer morschen Bank gemütlich. Nia hatte ihren Blick stur auf ihre Zehenspitzen gerichtet und wagte es kaum zu atmen. Lässig fuhr sich Katja mit ihren klebrigen Händen durch ihre braunen, schulterlangen Haare und schlug die Beine über Kreuz.
Geduldig schaute sie auf ihre beste Freundin. Sie spürte, wie Nia mit sich kämpfte, um über dieses Thema sprechen zu können. Es fiel ihr unendlich schwer.
Ein paar lange Minuten verstrichen. Die Schuluhr schlug gerade vier. Langsam ließ Katja ihren Blick über den weiten Campus gleiten. Es war schwülheiß und sie verfluchte innerlich ihre schwarze Uniform.
"Also...", setzte Nia an und geriet bereits ins Stocken. Katja wandte sich ihr aufmerksam zu. Ihre schüchterne Freundin hatte ihr zwar bereits öfters von ihrer Mutter erzählt, aber sie hatte das Gefühl, dass es jedes Mal wieder eine große Erleichterung für Nia darstellte und es ihr danach besser ging. Zumal es sonst auch immer nur Bruchstücke waren. Oftmals drehte es sich um ihr Aussehen. Über ihren Tod hüllte sich Nia oftmals den Mantel des Schweigens. Bei jedem Gespräch dieser Art kamen mehr Details ans Licht.
Es hieß ja nicht umsonst <<Geteiltes Leid ist halbes Leid.>>
"Als ich drei war, ist meine Mama gestorben.", der Satz kam so plötzlich und hastig, dass Nia selbst einen Augenblick erschrocken schaute, ob sie es tatsächlich gesagt hatte.
Sie knetete geistesabwesend ihre eiskalten Hände, obwohl es selbst im Schatten noch unerträglich heiß war. Katja war ganz gebannt. Kein Wort, keine Mimik, keine Gestik sollte ihr entgehen. "Ich kann mich fast gar nicht mehr an sie erinnern... Ich weiß nur, dass sie der schönste Mensch auf Erden war, den ich je gesehen hatte. Sie hatte fast eine Art... Aura, die sie umgab – als wäre sie nicht von dieser Welt. Sie hat in der Forschung gearbeitet... hat mein Vater zumindest irgendwann Mal erwähnt... aber ich weiß es nicht mehr genau.", Nia kam ins Stocken, als sie sich an weitere Details versuchte zu erinnern.
"Deine Mutter kling wie ein gütiger Engel.", sagte Katja mit einem breiten Lächeln.
Ein trauriges Lächeln huschte über das Gesicht des schwarzhaarigen Mädchens. Sie hob den Blick in Richtung Himmel, doch ihre Gedanken waren ganz wo anders. "Als meine Mutter starb, war es auch so ein wunderschöner, heißer und sonniger Tag wie heute.", die Erinnerung daran schnürte Nia die Kehle zu, "Es war, als wolle das Wetter einen auslachen. Natürlich habe ich damals nicht wirklich verstanden, was "tot sein" bedeutet..."
"Das ist in dem Alter ja auch mehr als verständlich", brachte Katja hervor und lehnte sich nach vorne, um in Nias Gesicht sehen zu können.
"Mein Vater erklärte mir, dass Mama ein Stern geworden ist und von nun an nicht mehr bei uns sein kann. Ich habe die Leiche meiner Mutter nicht gesehen... und ich war auch nie an ihrem Grab."
Katja wurde hellhörig. Das war ihr vollkommen neu. "Du warst nie bei ihrem Grab? Was ist mit der Beerdigung? Da warst du doch bestimmt dabei!" Langsam schüttelte Nia den Kopf. "Ich war auch nicht bei ihrer Beerdigung dabei. Wahrscheinlich wollte man mir das in dem Alter nicht antun. Und Jahre später hatte ich zu große Angst, dorthin zu gehen und mich zu verabschieden. Weißt du... es hat so etwas... endgültiges."
"Das hat der Tod so an sich...", nuschelte ihre beste Freundin in sich hinein und seufzte vernehmlich.
"Nein. Es ist anders. Wenn ich nicht hingehe fühlt es sich so an, als wäre es nicht passiert, als wäre es... ein böser Traum. Natürlich bin ich jetzt 15 und weiß, dass es Unsinn ist. Aber... ich kann mich einfach nicht überwinden.", schloss Nia und schaute endlich ihre Freundin an. Ihr Blick war nicht mehr verklärt und in die Ferne gerückt. Sie starrte Katja direkt in die Augen. Die Braunhaarige war erleichtert. Zum Glück hatte sie Nia dazu überredet, darüber zu sprechen!
"Weißt du, wo sie begraben liegt? Vielleicht können wir ihr auch so Mal einen Besuch abstatten! Dann bist du auch nicht allein... Und du kannst deiner Mama ganz stolz zeigen, was für eine Schönheit aus dir geworden ist!", ermunterte sie Nia, deren Wangen eine leichte Röte annahmen.
"Aber ich kenne doch den Friedhof gar nicht! Mein Vater meinte damals nur, dass sie ein wunderschönes Grab hat. Der Grabstein soll aussehen wie eine Tür – links und rechts sind korinthische Säulen angebracht, an der sich kunstvoll Blausterne hochschlängeln. In der Mitte steht kunstvoll ihr Name "Akemi Toshiki" geschrieben und darunter befindet sich ein prachtvoller Schwan..." Nia musste selber schmunzeln, dass sie die Beschreibung des Grabes ihrer Mutter so gut kannte. Fast so gut, als wäre sie schon etliche Male selbst dort gewesen. Katja äußerte sich nicht dazu, aber sie spürte erneut, was für eine unglaubliche Bedeutung Akemi in Nias leben spielte – auch wenn sie schon vor langer Zeit verstorben war. Nia zuckte zusammen, als Katja sie in den Arm nahm. "Danke, dass du mir erneut das Vertrauen geschenkt hast und mir davon berichtet hast!" Die Angesprochene durchströmte Wärme und sie konnte direkt fühlen, wie sich der Knoten in ihrer Brust löste. Sie war so froh, dass es jemanden wie Katja gab, der ihr so aufmerksam zuhörte. Statt zu antworten lächelte sie nur und nickte. Worte wären jetzt ohnehin fehl am Platz gewesen. Katja löste sich von ihrer besten Freundin und gemeinsam schauten sie dem bunten Treiben im Park zu. Bald waren Sommerferien – süße, wohlverdiente Sommerferien! Es galt nur noch wenige Prüfungen zu bestehen und danach konnte man sich endlich dem Sommer hingeben.
Als es halb schlug, fuhr Katja hoch.
"Oh mein Gott, ich muss zum Geigenunterricht! Mein Lehrer wird mich umbringen!", kreischte sie und schnappte sich ihren Geigenkoffer. Sie rannte los und rief Nia zu: "Gönn dir heute Abend noch was schönes und entspanntes, Nia! Keiner hat es mehr verdient als du!"
"H-halt! Dein Gesicht!", fiepste Nia und deutete auf ihre eigene Wange. Verwirrt wischte Katja über ihr Gesicht und hatte ihre Hände erneut voller Schokoladeneis. Sie verzog das Gesicht. "Und damit saß ich die ganze Zeit rum, du Nuss? Wie peinlich ist das denn?!" Und mit diesen Worten war sie auch schon fort. Die Zurückgelassene lachte in sich hinein. Ihr Lehrer würde sie eher umbringen, wenn er sehen würde, wie schnell Katja läuft! Schließlich bestand immer die Gefahr, dass sie hinfiel oder mit jemanden zusammenstieß und sich dabei die Finger verletzte – das Wertvollste, was Katja seiner Meinung nach hatte. Von ihm aus konnte Katja ohne Beine und ohne Kopf ankommen, Hauptsache ihre Finger waren unversehrt! Aber das war wohl das los einer engagierten und talentierten Geigenspielerin. Eigentlich sollte sie Handschuhe zum Schutz tragen – aber Katja würde eher nackt durchs Schulhaus laufen, als bei der brütenden Hitze auch noch Handschuhe zu tragen!
Seufzend stand Nia auf und blinzelte der Sonne entgegen. Was sollte sie noch mit dem restlichen Tag tun? Sie schaute sich auf dem weitläufigen Gelände um. Der Campus war auch nach so vielen Schuljahren immer wieder atemberaubend. Er war in seiner Art auch ziemlich einmalig, hatte man den Schülern und Schülerinnen mal erzählt. Wo sonst konnte man auf einem Schulgelände sowohl Grund-, Haupt-, Realschule, Gymnasium, Fachoberschulen und Universität finden? Ohne bestimmtes Ziel setze sie sich in Bewegung und schaute ein paar Studenten beim Basketball zu, ohne wirklich mit den Gedanken bei der Sache zu sein. Schließlich schlenderte sie weiter, bis sie ein ohrenbetäubender Lärm aus den Gedanken riss. Ein hohes Kreischen, Piepsen und Gröhlen sowie der Name "Salvatore" waren deutlich zu vernehmen.
"Ah", dachte Nia und errötete leicht, "Salvatores Fanclub!"
Salvatore Zefalus war wie Nia in der zehnten Klasse der Realschule und der meist umschwärmte Junge des Campus. Er war nicht nur unglaublich intelligent und charmant, sondern war auch zudem noch so gutaussehend, dass er einen fast blendete, wenn er einem begegnete. Ihm war der Gang auf das Gymnasium und auf die Universität so gewiss wie das Amen in der Kirche.
Nia hatte erst einmal die Gelegenheit gehabt, ihn live aus der Ferne zu sehen, wie er von seinem Fanclub umgeben in Richtung Sportplatz unterwegs war. Was konnten doch Erzählungen und Fotos das wahre Äußere des jungen Mannes verzerren! Denn live und in Farbe hatte er nochmals einen ganz eigenen Herzklopfbonus, den Nia nicht in Worte fassen konnte. Seitdem hielt sie immer Ausschau nach ihm, doch eine weitere Begegnung war ihr bislang verwehrt geblieben. Das lag wahrscheinlich daran, dass immer ein ganzer Pulk von Mädchen um ihm herum war und diese alle Blicke abschirmten. Vielleicht war das eines der "Fantreffs", bei denen sie ihre neuesten privaten Schnappschüsse von Salvatore austauschten? Da schienen einige aber große Erfolge verbuchen zu können, wenn man es dem Geschrei nach beurteilte. Dennoch linste sie neugierig herüber. Kein Salvatore in Sicht.
Seufzend begab sie sich an ihren Lieblingsort: Der Bibliothek. Das schwarzhaarige junge Mädchen liebte es, stundenlang durch die meterhohen Regale zu wandern und in Geschichten von fremden Welten einzutauchen. Dieses Mal hatte es sie in die Abteilung der Mythen und Legenden verschlagen. Sie sog die stille, besinnliche Atmosphäre zwischen den hohen, steinernen Säulen geradezu in sich auf. Die schwarz polierten Regale leuchteten regelrecht in der Sonne, welche durch die bodenhohen Fenster hineinfiel. Gedankenverloren griff sie nach dem ansprechenden Titel "Die Mythen des alten Japan von Nelly Naumann". Ihre Mutter war Japanerin gewesen und auch Nia faszinierte diese Kultur sehr. Was gab es für einen günstigeren Zeitpunkt als heute, sich etwas näher damit zu beschäftigen? Noch bevor sie ihren Lieblingsplatz erreicht hatte, war sie bereits ins Lesen vertieft und legte sich auf die rot gepolsterte Couch, die etwas weiter weg von der Wand stand. Nia wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie das altbekannte Kreischen erneut vernahm. Sie schaute etwas irritiert herum und konnte einen Teil des Fanclubs vor der Bibliothek ausmachen. Das war der harte Kern, wie sie sofort erkannte, denn Tonia, Tanja und Anita, die Köpfe des Fanclubs und Chefredakteure der "Gerüchteküche", waren ganz vorne mit dabei.
Aber... Nia streckte ihren filigranen Hals. Wo die Gerüchteküche war, konnte Salvatore gar nicht weit sein!
Doch leider war der gutaussehende Mitschüler nirgendwo zu erspähen. Enttäuscht widmete sie sich wieder ihrer Lektüre – oder zumindest versuchte sie es. Der Lärm von draußen war überdeutlich zu hören, sodass die Bibliothekarin sie versuchte zum Schweigen zu bringen. Doch da jeder der Fanclubmitglieder einen ganz eigenen Charakter hatte, lies sich niemand so einfach etwas vorschreiben. Ein lautstarker Streit entbrannte. Nia mochte das nicht. Sie liebte die Stille in ihren "heiligen Hallen" und nun wurde sie von diesen Fans gestört! Erschrocken beobachtete sie, wie die Mitglieder des Salvatorefanclubs in die Bibliothek strömten. Zwar befand sich Nia im dritten Stock, aber dennoch mochte sie den Gedanken nicht, dass alsbald diese verrückten Fans ihre "heilige Ruhe" endgültig stören könnten. Seufzend lehnte sie sich zurück und blickte zwischen die menschenleeren Reg-
Nias Blut gefror in ihren Adern. Zwischen den Regalen, aus welchem sie vorhin ihre aktuelle Lektüre ausgewählt hatte, stand er!
Salvatore Zefalus!
Er war für sein Alter wirklich groß und seine dunkelbraune Haut bildeten einen anziehenden Kontrast zwischen dem hellgrünen T-Shirt, welches er trug. Seine wuscheligen, pechschwarzen Haare waren total zerzaust und die kleinen Löckchen am Ende jeder Strähne wippten, als er vorsichtig seinen hübschen Kopf bewegte. Salvatore hatte seine moosgrünen Augen nun direkt auf Nia gerichtet, die augenblicklich puterrot anlief. Sie fühlte sich wie ein Groupie, weil sie ihn so lange und auffällig angestarrt hatte.
Gerade als Nia ihren Mund aufmachte um sich kleinlaut dafür zu entschuldigen, ertönten Schritte von der Treppe. Ohne zu zögern beschleunigte Salvatore seinen Schritt und ging direkt auf das verwirrte Mädchen zu.
"Entschuldige bitte, aber du musst mir helfen!", flüsterte er so leise wie möglich und kletterte geschickt hinter die Couch, auf der sich Nia gemütlich hingelegt hatte. Just in dem Moment kamen Tonia, Tanja und Anita die Treppe hinaufgelaufen – die siamesischen Drillinge, wie man hinter vorgehaltener Hand tuschelte. Als sie Nia erblickten, stürmten sie direkt auf sie zu. "Salvatore! Hast du Salvatore gesehen?", herrschte Tonia, die Anführerin, sie an. Nia brach der kalte Schweiß aus. Warum hatte sich Salvatore ausgerechnet hinter der Couch versteckt? Wäre nicht jedes Regal eine bessere Wahl gewesen? Schließlich war es doch sonnenklar, dass die Clubmitglieder auf sie zukommen würden, oder etwa nicht?
Nia schüttelte erst verhalten, dann aber deutlich den Kopf. "Nein, ich hab niemanden gesehen. Aber warum sollte er auch hier sein...?", brachte sie hervor und biss sich vor Nervosität auf die Zunge. Tanja, das blonde Amateurmodel, fixierte sie mit einem eiskalten, abschätzigen Blick. Nia konnte ihm kaum standhalten, aber sie wollte Salvatore nicht auffliegen lassen. Nach einem kurzen Schweigen schnaubte Anita und die drei zogen von dannen, die Treppen hinunter und raus aus dem Gebäude. Anscheinend hatten sie schon jede Etage abgesucht und da Nia einen direkten Blick auf die Treppe hatte, musste sie wohl die Wahrheit sprechen.
Oder besser formuliert: Sie würde wohl kaum wagen, die Gerüchteküche-Crew anzulügen.
Kaum waren die drei Furien außer Sichtweite, atmete Nia vernehmlich aus. Ihr Herz klopfte wie verrückt und sie hatte das Gefühl, soeben der Todesstrafe entgangen zu sein! Behutsam schaute sie hinter die Couch, hinter der ein leise lachender Salvatore lag. Er rappelte sich hoch, als er seine Retterin erblickte. Nia konnte sogar seine Körperwärme spüren, so nah war er ihr. Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut.
"Entschuldige, ich wollte dich da nicht mit reinziehen.", sagte er und fuhr sich durch die Haare. "Aber ich wollte heute einmal in aller Ruhe die Sonne genießen und das war mir irgendwie nicht vergönnt... Darum bin ich ausgebüchst."
Nia nickte, doch in Wirklichkeit hörte sie ihm überhaupt nicht zu. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.
Etwas verwundert schaute er in ihre marineblauen Augen und bemerkte, wie nah er ihr war. Eine leichte Röte erschien auf seinen Wangen und peinlich berührt schnellte er nach oben – nur um sich dort den Kopf an einer Lampe anzuschlagen. Tonlos aber mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich die Stelle. Er lächelte verlegen.
"Ähm... Auf alle Fälle: Danke!"
Und damit schlich er sich davon, obwohl der Fanclub schon lange nicht mehr zu sichten war. Nia blickte ihm schweigend hinterher.
W-Was war denn das gewesen?!
Nach einer gefühlten Ewigkeit begab sie sich in ihr Zimmer, welches sie sich mit Katja teilte. Es war relativ klein und schlicht eingerichtet, aber es war Nias zu Hause. Erschöpft von der heutigen Gefühlsachterbahn warf sie den Zimmerschlüssel in die Schüssel auf der Anrichte. Vor lauter unkonzentriertem Lesen hatte sie heute das Abendessen in der Schulkantine verpasst und ihr Magen grummelte empört. Sie rieb sich den Bauch und ging zu ihrem Schreibtisch, auf dem ein Brief lag. Ohne Zögern erkannte sie die schrecklich unordentliche Schrift ihres Vaters schon von weitem. Was er wohl diesmal wollte...? Normalerweise schrieb er ihr nur, wenn es etwas Organisatorisches mitzuteilen gab. Wobei – Nia hatte bald die 10. Klasse des Realschule absolviert und ihre Noten sahen alles andere als rosig aus. Hatte er vor, sie die Klasse wiederholen zu lassen?
"Hoffentlich nicht!", schoss es Nia durch den Kopf, denn dann könnte sie nicht mehr mit Katja zusammen in einer Klasse sein! Hektisch riss sie den Brief auf und entzifferte folgenden Inhalt:
Nia,
deine Abschlussprüfungen stehen bevor. Danach wirst du ein Internat besuchen.
Gruß
R. Toshiki
Die Realschülerin seufzte. Dieser Schreibstil war so typisch für ihren Vater! Kein "Hallo! Wie geht's dir?" oder eine nette Grußformel – er unterschrieb noch nicht einmal mit "Papa" oder wenigstens "Vater"! Aber sie war auch seit Jahren nichts anderes von ihm gewohnt. Er war ein vielbeschäftigter, renommierter Forscher, der viel Geld geben musste, damit Nia diesen Campus besuchen konnte. Und da er so wenig Zeit hatte war Nia nicht ohne Grund schon mehrere Jahre nicht mehr zu Hause gewesen. Das war so unglaubwürdig, dass einem das niemand abkaufen würde. Nicht einmal Katja wusste davon, da diese immer auf irgendwelchen Konzerten oder Daheim war, wenn die Ferien anbrachen. "Wenigstens muss ich nicht das Jahr wiederholen!", entfuhr es Nia erleichtert, als sie die Zeilen erneut las und es sich auf ihrem Bett bequem machte.
"Internat...? Ich soll in ein Internat gehen? Mir kommt es vor, als wäre ich schon jahrelang in einem! Aber warum soll ich überhaupt weiterhin zur Schule gehen, er kennt doch meine Noten – da wäre es sinnvoller, wenn ich eine Lehre anfangen würde, statt dass ich ihm noch mehr Geld koste.", grübelte Nia in sich hinein. Na ja, letztlich war es ihr egal, was sie tat – Schule oder Arbeit, sie hatte ohnehin noch keine Ahnung, was sie später einmal machen wollen würde.
"Aber... es steht ja gar nicht da, was für ein Internat das sein wird!", erkannte Nia gebannt. Es sah ihrem Vater gar nicht ähnlich, dass er eine solche Information ihr nicht mitteilte...
"Heute ist wieder der Tag, hm?"
Das Mädchen schreckte hoch und blickte direkt in die warmen, haselnussbraunen Augen ihrer besten Freundin. "Katja...", wisperte sie peinlich berührt und rieb sich ungeschickt die Stirn mit ihrem Handballen, "Entschuldige bitte, wir verbringen so wenig Zeit miteinander -"
"Jetzt mach Mal halblang! Gerade weil wir so wenig Zeit miteinander verbringen können, sollten wir uns doch nichts vormachen und so tun, als hätten wir den Spaß unseres Lebens! Wahre Herzensprobleme kann man nicht einfach Mal so beiseite schaffen, wenn man gerade Bock drauf hat!", unterbrach sie das ungestüme Mädchen und stupste ihre Freundin mit dem Zeigefinger an die Nase. Diese schaute verdattert und verbarg ein schmales Lächeln hinter ihrer Hand. Eigentlich wollte Katja ihren Redefluss noch nicht abreißen lassen, doch just in dem Moment lief ein kleines Rinnsal geschmolzenen Eises ihr über die Finger. Laut fluchend versuchte sie den Schaden zu beheben. Letztlich machte sie es nur schlimmer, denn nun war auch ihr Gesicht mit Schokoeis vollgeschmiert. Davon bekam sie allerdings nichts mit.
"Ach Nia!", lachte Katja glockenhell, "Komm schon, erzähl der Alten Katja, was dich bedrückt. Geht es um deine Mama?" Der eben noch so offene und lebenslustige Blick wurde schwermütiger und ernster.
Beim letzten Wort zuckte das hübsche Mädchen zusammen und nickte stumm. Erst jetzt nahm Nia wahr, wo sie eigentlich waren – im schuleigenen, kleinen Park, ganz in der Nähe der kleinen Einkaufspassage. In dieser hatte Katja auch ihr Eis erstanden, welches Nia vehement abgelehnt hatte. Sie hatte auf nichts Appetit. Und auf nichts Lust. In ihr war nur dieser dumpfe Schmerz, den sie nicht zuordnen konnte. War es Trauer? Einsamkeit?
Schweigend und behutsam packte Katja ihre schüchterne Freundin an der Schulter und schlenderte vorbei an den Sonnenblumenbeeten, die mit blauen Gänseblümchen gesäumt waren. Unter einem gewaltigen Ahornbaum machten sie es sich auf einer morschen Bank gemütlich. Nia hatte ihren Blick stur auf ihre Zehenspitzen gerichtet und wagte es kaum zu atmen. Lässig fuhr sich Katja mit ihren klebrigen Händen durch ihre braunen, schulterlangen Haare und schlug die Beine über Kreuz.
Geduldig schaute sie auf ihre beste Freundin. Sie spürte, wie Nia mit sich kämpfte, um über dieses Thema sprechen zu können. Es fiel ihr unendlich schwer.
Ein paar lange Minuten verstrichen. Die Schuluhr schlug gerade vier. Langsam ließ Katja ihren Blick über den weiten Campus gleiten. Es war schwülheiß und sie verfluchte innerlich ihre schwarze Uniform.
"Also...", setzte Nia an und geriet bereits ins Stocken. Katja wandte sich ihr aufmerksam zu. Ihre schüchterne Freundin hatte ihr zwar bereits öfters von ihrer Mutter erzählt, aber sie hatte das Gefühl, dass es jedes Mal wieder eine große Erleichterung für Nia darstellte und es ihr danach besser ging. Zumal es sonst auch immer nur Bruchstücke waren. Oftmals drehte es sich um ihr Aussehen. Über ihren Tod hüllte sich Nia oftmals den Mantel des Schweigens. Bei jedem Gespräch dieser Art kamen mehr Details ans Licht.
Es hieß ja nicht umsonst <<Geteiltes Leid ist halbes Leid.>>
"Als ich drei war, ist meine Mama gestorben.", der Satz kam so plötzlich und hastig, dass Nia selbst einen Augenblick erschrocken schaute, ob sie es tatsächlich gesagt hatte.
Sie knetete geistesabwesend ihre eiskalten Hände, obwohl es selbst im Schatten noch unerträglich heiß war. Katja war ganz gebannt. Kein Wort, keine Mimik, keine Gestik sollte ihr entgehen. "Ich kann mich fast gar nicht mehr an sie erinnern... Ich weiß nur, dass sie der schönste Mensch auf Erden war, den ich je gesehen hatte. Sie hatte fast eine Art... Aura, die sie umgab – als wäre sie nicht von dieser Welt. Sie hat in der Forschung gearbeitet... hat mein Vater zumindest irgendwann Mal erwähnt... aber ich weiß es nicht mehr genau.", Nia kam ins Stocken, als sie sich an weitere Details versuchte zu erinnern.
"Deine Mutter kling wie ein gütiger Engel.", sagte Katja mit einem breiten Lächeln.
Ein trauriges Lächeln huschte über das Gesicht des schwarzhaarigen Mädchens. Sie hob den Blick in Richtung Himmel, doch ihre Gedanken waren ganz wo anders. "Als meine Mutter starb, war es auch so ein wunderschöner, heißer und sonniger Tag wie heute.", die Erinnerung daran schnürte Nia die Kehle zu, "Es war, als wolle das Wetter einen auslachen. Natürlich habe ich damals nicht wirklich verstanden, was "tot sein" bedeutet..."
"Das ist in dem Alter ja auch mehr als verständlich", brachte Katja hervor und lehnte sich nach vorne, um in Nias Gesicht sehen zu können.
"Mein Vater erklärte mir, dass Mama ein Stern geworden ist und von nun an nicht mehr bei uns sein kann. Ich habe die Leiche meiner Mutter nicht gesehen... und ich war auch nie an ihrem Grab."
Katja wurde hellhörig. Das war ihr vollkommen neu. "Du warst nie bei ihrem Grab? Was ist mit der Beerdigung? Da warst du doch bestimmt dabei!" Langsam schüttelte Nia den Kopf. "Ich war auch nicht bei ihrer Beerdigung dabei. Wahrscheinlich wollte man mir das in dem Alter nicht antun. Und Jahre später hatte ich zu große Angst, dorthin zu gehen und mich zu verabschieden. Weißt du... es hat so etwas... endgültiges."
"Das hat der Tod so an sich...", nuschelte ihre beste Freundin in sich hinein und seufzte vernehmlich.
"Nein. Es ist anders. Wenn ich nicht hingehe fühlt es sich so an, als wäre es nicht passiert, als wäre es... ein böser Traum. Natürlich bin ich jetzt 15 und weiß, dass es Unsinn ist. Aber... ich kann mich einfach nicht überwinden.", schloss Nia und schaute endlich ihre Freundin an. Ihr Blick war nicht mehr verklärt und in die Ferne gerückt. Sie starrte Katja direkt in die Augen. Die Braunhaarige war erleichtert. Zum Glück hatte sie Nia dazu überredet, darüber zu sprechen!
"Weißt du, wo sie begraben liegt? Vielleicht können wir ihr auch so Mal einen Besuch abstatten! Dann bist du auch nicht allein... Und du kannst deiner Mama ganz stolz zeigen, was für eine Schönheit aus dir geworden ist!", ermunterte sie Nia, deren Wangen eine leichte Röte annahmen.
"Aber ich kenne doch den Friedhof gar nicht! Mein Vater meinte damals nur, dass sie ein wunderschönes Grab hat. Der Grabstein soll aussehen wie eine Tür – links und rechts sind korinthische Säulen angebracht, an der sich kunstvoll Blausterne hochschlängeln. In der Mitte steht kunstvoll ihr Name "Akemi Toshiki" geschrieben und darunter befindet sich ein prachtvoller Schwan..." Nia musste selber schmunzeln, dass sie die Beschreibung des Grabes ihrer Mutter so gut kannte. Fast so gut, als wäre sie schon etliche Male selbst dort gewesen. Katja äußerte sich nicht dazu, aber sie spürte erneut, was für eine unglaubliche Bedeutung Akemi in Nias leben spielte – auch wenn sie schon vor langer Zeit verstorben war. Nia zuckte zusammen, als Katja sie in den Arm nahm. "Danke, dass du mir erneut das Vertrauen geschenkt hast und mir davon berichtet hast!" Die Angesprochene durchströmte Wärme und sie konnte direkt fühlen, wie sich der Knoten in ihrer Brust löste. Sie war so froh, dass es jemanden wie Katja gab, der ihr so aufmerksam zuhörte. Statt zu antworten lächelte sie nur und nickte. Worte wären jetzt ohnehin fehl am Platz gewesen. Katja löste sich von ihrer besten Freundin und gemeinsam schauten sie dem bunten Treiben im Park zu. Bald waren Sommerferien – süße, wohlverdiente Sommerferien! Es galt nur noch wenige Prüfungen zu bestehen und danach konnte man sich endlich dem Sommer hingeben.
Als es halb schlug, fuhr Katja hoch.
"Oh mein Gott, ich muss zum Geigenunterricht! Mein Lehrer wird mich umbringen!", kreischte sie und schnappte sich ihren Geigenkoffer. Sie rannte los und rief Nia zu: "Gönn dir heute Abend noch was schönes und entspanntes, Nia! Keiner hat es mehr verdient als du!"
"H-halt! Dein Gesicht!", fiepste Nia und deutete auf ihre eigene Wange. Verwirrt wischte Katja über ihr Gesicht und hatte ihre Hände erneut voller Schokoladeneis. Sie verzog das Gesicht. "Und damit saß ich die ganze Zeit rum, du Nuss? Wie peinlich ist das denn?!" Und mit diesen Worten war sie auch schon fort. Die Zurückgelassene lachte in sich hinein. Ihr Lehrer würde sie eher umbringen, wenn er sehen würde, wie schnell Katja läuft! Schließlich bestand immer die Gefahr, dass sie hinfiel oder mit jemanden zusammenstieß und sich dabei die Finger verletzte – das Wertvollste, was Katja seiner Meinung nach hatte. Von ihm aus konnte Katja ohne Beine und ohne Kopf ankommen, Hauptsache ihre Finger waren unversehrt! Aber das war wohl das los einer engagierten und talentierten Geigenspielerin. Eigentlich sollte sie Handschuhe zum Schutz tragen – aber Katja würde eher nackt durchs Schulhaus laufen, als bei der brütenden Hitze auch noch Handschuhe zu tragen!
Seufzend stand Nia auf und blinzelte der Sonne entgegen. Was sollte sie noch mit dem restlichen Tag tun? Sie schaute sich auf dem weitläufigen Gelände um. Der Campus war auch nach so vielen Schuljahren immer wieder atemberaubend. Er war in seiner Art auch ziemlich einmalig, hatte man den Schülern und Schülerinnen mal erzählt. Wo sonst konnte man auf einem Schulgelände sowohl Grund-, Haupt-, Realschule, Gymnasium, Fachoberschulen und Universität finden? Ohne bestimmtes Ziel setze sie sich in Bewegung und schaute ein paar Studenten beim Basketball zu, ohne wirklich mit den Gedanken bei der Sache zu sein. Schließlich schlenderte sie weiter, bis sie ein ohrenbetäubender Lärm aus den Gedanken riss. Ein hohes Kreischen, Piepsen und Gröhlen sowie der Name "Salvatore" waren deutlich zu vernehmen.
"Ah", dachte Nia und errötete leicht, "Salvatores Fanclub!"
Salvatore Zefalus war wie Nia in der zehnten Klasse der Realschule und der meist umschwärmte Junge des Campus. Er war nicht nur unglaublich intelligent und charmant, sondern war auch zudem noch so gutaussehend, dass er einen fast blendete, wenn er einem begegnete. Ihm war der Gang auf das Gymnasium und auf die Universität so gewiss wie das Amen in der Kirche.
Nia hatte erst einmal die Gelegenheit gehabt, ihn live aus der Ferne zu sehen, wie er von seinem Fanclub umgeben in Richtung Sportplatz unterwegs war. Was konnten doch Erzählungen und Fotos das wahre Äußere des jungen Mannes verzerren! Denn live und in Farbe hatte er nochmals einen ganz eigenen Herzklopfbonus, den Nia nicht in Worte fassen konnte. Seitdem hielt sie immer Ausschau nach ihm, doch eine weitere Begegnung war ihr bislang verwehrt geblieben. Das lag wahrscheinlich daran, dass immer ein ganzer Pulk von Mädchen um ihm herum war und diese alle Blicke abschirmten. Vielleicht war das eines der "Fantreffs", bei denen sie ihre neuesten privaten Schnappschüsse von Salvatore austauschten? Da schienen einige aber große Erfolge verbuchen zu können, wenn man es dem Geschrei nach beurteilte. Dennoch linste sie neugierig herüber. Kein Salvatore in Sicht.
Seufzend begab sie sich an ihren Lieblingsort: Der Bibliothek. Das schwarzhaarige junge Mädchen liebte es, stundenlang durch die meterhohen Regale zu wandern und in Geschichten von fremden Welten einzutauchen. Dieses Mal hatte es sie in die Abteilung der Mythen und Legenden verschlagen. Sie sog die stille, besinnliche Atmosphäre zwischen den hohen, steinernen Säulen geradezu in sich auf. Die schwarz polierten Regale leuchteten regelrecht in der Sonne, welche durch die bodenhohen Fenster hineinfiel. Gedankenverloren griff sie nach dem ansprechenden Titel "Die Mythen des alten Japan von Nelly Naumann". Ihre Mutter war Japanerin gewesen und auch Nia faszinierte diese Kultur sehr. Was gab es für einen günstigeren Zeitpunkt als heute, sich etwas näher damit zu beschäftigen? Noch bevor sie ihren Lieblingsplatz erreicht hatte, war sie bereits ins Lesen vertieft und legte sich auf die rot gepolsterte Couch, die etwas weiter weg von der Wand stand. Nia wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie das altbekannte Kreischen erneut vernahm. Sie schaute etwas irritiert herum und konnte einen Teil des Fanclubs vor der Bibliothek ausmachen. Das war der harte Kern, wie sie sofort erkannte, denn Tonia, Tanja und Anita, die Köpfe des Fanclubs und Chefredakteure der "Gerüchteküche", waren ganz vorne mit dabei.
Aber... Nia streckte ihren filigranen Hals. Wo die Gerüchteküche war, konnte Salvatore gar nicht weit sein!
Doch leider war der gutaussehende Mitschüler nirgendwo zu erspähen. Enttäuscht widmete sie sich wieder ihrer Lektüre – oder zumindest versuchte sie es. Der Lärm von draußen war überdeutlich zu hören, sodass die Bibliothekarin sie versuchte zum Schweigen zu bringen. Doch da jeder der Fanclubmitglieder einen ganz eigenen Charakter hatte, lies sich niemand so einfach etwas vorschreiben. Ein lautstarker Streit entbrannte. Nia mochte das nicht. Sie liebte die Stille in ihren "heiligen Hallen" und nun wurde sie von diesen Fans gestört! Erschrocken beobachtete sie, wie die Mitglieder des Salvatorefanclubs in die Bibliothek strömten. Zwar befand sich Nia im dritten Stock, aber dennoch mochte sie den Gedanken nicht, dass alsbald diese verrückten Fans ihre "heilige Ruhe" endgültig stören könnten. Seufzend lehnte sie sich zurück und blickte zwischen die menschenleeren Reg-
Nias Blut gefror in ihren Adern. Zwischen den Regalen, aus welchem sie vorhin ihre aktuelle Lektüre ausgewählt hatte, stand er!
Salvatore Zefalus!
Er war für sein Alter wirklich groß und seine dunkelbraune Haut bildeten einen anziehenden Kontrast zwischen dem hellgrünen T-Shirt, welches er trug. Seine wuscheligen, pechschwarzen Haare waren total zerzaust und die kleinen Löckchen am Ende jeder Strähne wippten, als er vorsichtig seinen hübschen Kopf bewegte. Salvatore hatte seine moosgrünen Augen nun direkt auf Nia gerichtet, die augenblicklich puterrot anlief. Sie fühlte sich wie ein Groupie, weil sie ihn so lange und auffällig angestarrt hatte.
Gerade als Nia ihren Mund aufmachte um sich kleinlaut dafür zu entschuldigen, ertönten Schritte von der Treppe. Ohne zu zögern beschleunigte Salvatore seinen Schritt und ging direkt auf das verwirrte Mädchen zu.
"Entschuldige bitte, aber du musst mir helfen!", flüsterte er so leise wie möglich und kletterte geschickt hinter die Couch, auf der sich Nia gemütlich hingelegt hatte. Just in dem Moment kamen Tonia, Tanja und Anita die Treppe hinaufgelaufen – die siamesischen Drillinge, wie man hinter vorgehaltener Hand tuschelte. Als sie Nia erblickten, stürmten sie direkt auf sie zu. "Salvatore! Hast du Salvatore gesehen?", herrschte Tonia, die Anführerin, sie an. Nia brach der kalte Schweiß aus. Warum hatte sich Salvatore ausgerechnet hinter der Couch versteckt? Wäre nicht jedes Regal eine bessere Wahl gewesen? Schließlich war es doch sonnenklar, dass die Clubmitglieder auf sie zukommen würden, oder etwa nicht?
Nia schüttelte erst verhalten, dann aber deutlich den Kopf. "Nein, ich hab niemanden gesehen. Aber warum sollte er auch hier sein...?", brachte sie hervor und biss sich vor Nervosität auf die Zunge. Tanja, das blonde Amateurmodel, fixierte sie mit einem eiskalten, abschätzigen Blick. Nia konnte ihm kaum standhalten, aber sie wollte Salvatore nicht auffliegen lassen. Nach einem kurzen Schweigen schnaubte Anita und die drei zogen von dannen, die Treppen hinunter und raus aus dem Gebäude. Anscheinend hatten sie schon jede Etage abgesucht und da Nia einen direkten Blick auf die Treppe hatte, musste sie wohl die Wahrheit sprechen.
Oder besser formuliert: Sie würde wohl kaum wagen, die Gerüchteküche-Crew anzulügen.
Kaum waren die drei Furien außer Sichtweite, atmete Nia vernehmlich aus. Ihr Herz klopfte wie verrückt und sie hatte das Gefühl, soeben der Todesstrafe entgangen zu sein! Behutsam schaute sie hinter die Couch, hinter der ein leise lachender Salvatore lag. Er rappelte sich hoch, als er seine Retterin erblickte. Nia konnte sogar seine Körperwärme spüren, so nah war er ihr. Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut.
"Entschuldige, ich wollte dich da nicht mit reinziehen.", sagte er und fuhr sich durch die Haare. "Aber ich wollte heute einmal in aller Ruhe die Sonne genießen und das war mir irgendwie nicht vergönnt... Darum bin ich ausgebüchst."
Nia nickte, doch in Wirklichkeit hörte sie ihm überhaupt nicht zu. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.
Etwas verwundert schaute er in ihre marineblauen Augen und bemerkte, wie nah er ihr war. Eine leichte Röte erschien auf seinen Wangen und peinlich berührt schnellte er nach oben – nur um sich dort den Kopf an einer Lampe anzuschlagen. Tonlos aber mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich die Stelle. Er lächelte verlegen.
"Ähm... Auf alle Fälle: Danke!"
Und damit schlich er sich davon, obwohl der Fanclub schon lange nicht mehr zu sichten war. Nia blickte ihm schweigend hinterher.
W-Was war denn das gewesen?!
Nach einer gefühlten Ewigkeit begab sie sich in ihr Zimmer, welches sie sich mit Katja teilte. Es war relativ klein und schlicht eingerichtet, aber es war Nias zu Hause. Erschöpft von der heutigen Gefühlsachterbahn warf sie den Zimmerschlüssel in die Schüssel auf der Anrichte. Vor lauter unkonzentriertem Lesen hatte sie heute das Abendessen in der Schulkantine verpasst und ihr Magen grummelte empört. Sie rieb sich den Bauch und ging zu ihrem Schreibtisch, auf dem ein Brief lag. Ohne Zögern erkannte sie die schrecklich unordentliche Schrift ihres Vaters schon von weitem. Was er wohl diesmal wollte...? Normalerweise schrieb er ihr nur, wenn es etwas Organisatorisches mitzuteilen gab. Wobei – Nia hatte bald die 10. Klasse des Realschule absolviert und ihre Noten sahen alles andere als rosig aus. Hatte er vor, sie die Klasse wiederholen zu lassen?
"Hoffentlich nicht!", schoss es Nia durch den Kopf, denn dann könnte sie nicht mehr mit Katja zusammen in einer Klasse sein! Hektisch riss sie den Brief auf und entzifferte folgenden Inhalt:
Nia,
deine Abschlussprüfungen stehen bevor. Danach wirst du ein Internat besuchen.
Gruß
R. Toshiki
Die Realschülerin seufzte. Dieser Schreibstil war so typisch für ihren Vater! Kein "Hallo! Wie geht's dir?" oder eine nette Grußformel – er unterschrieb noch nicht einmal mit "Papa" oder wenigstens "Vater"! Aber sie war auch seit Jahren nichts anderes von ihm gewohnt. Er war ein vielbeschäftigter, renommierter Forscher, der viel Geld geben musste, damit Nia diesen Campus besuchen konnte. Und da er so wenig Zeit hatte war Nia nicht ohne Grund schon mehrere Jahre nicht mehr zu Hause gewesen. Das war so unglaubwürdig, dass einem das niemand abkaufen würde. Nicht einmal Katja wusste davon, da diese immer auf irgendwelchen Konzerten oder Daheim war, wenn die Ferien anbrachen. "Wenigstens muss ich nicht das Jahr wiederholen!", entfuhr es Nia erleichtert, als sie die Zeilen erneut las und es sich auf ihrem Bett bequem machte.
"Internat...? Ich soll in ein Internat gehen? Mir kommt es vor, als wäre ich schon jahrelang in einem! Aber warum soll ich überhaupt weiterhin zur Schule gehen, er kennt doch meine Noten – da wäre es sinnvoller, wenn ich eine Lehre anfangen würde, statt dass ich ihm noch mehr Geld koste.", grübelte Nia in sich hinein. Na ja, letztlich war es ihr egal, was sie tat – Schule oder Arbeit, sie hatte ohnehin noch keine Ahnung, was sie später einmal machen wollen würde.
"Aber... es steht ja gar nicht da, was für ein Internat das sein wird!", erkannte Nia gebannt. Es sah ihrem Vater gar nicht ähnlich, dass er eine solche Information ihr nicht mitteilte...
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