Kapitel 18: Finding the Truth
eistesabwesend wurde die Stecknadel im Stoff versenkt. Das rot-schwarz karierte Muster auf der Baumwolle fühlte sich gut zwischen den Fingern an. Behutsam wurde erneut ein Lineal angelegt und nachgemessen, ob die Maße auch so stimmten. Doch das alles geschah mit weniger Elan, als er sonst für diese Arbeit verspürte. Normalerweise war er Feuer und Flamme, wenn es darum ging, etwas eigenes zu kreieren. Doch diesmal lief er auf Sparflamme, da Lorcan mit seinen Gedanken weit weg war. Immer und immer wieder lenkte sein Unterbewusstsein seinen Blick auf die Schublade in seinem Zimmer. Darin hatte er fein säuberlich in einem seiner Taschentücher das Haarband eingeschlagen, welches er von Katja bekommen hatte. Die ganze Angelegenheit war ihm nach wie vor unangenehm. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Bestimmt war es ein unbeholfenes Geschenk aus Verlegenheit gewesen, weil sie nichts besseres dabei hatte. Genau so musste es sein, denn alles andere ergab einfach keinen Sinn!
Ein jäher Schmerz holte ihn zurück in die Realität. Eine Nadel steckte in seinem Finger, weil er so unkonzentriert gewesen war. Ein langer, tiefer Seufzer entkam seinem sonnengebebräuntem Gesicht. Fragen über Fragen, auf die er wohl niemals eine Antwort finden würde. Alleine schon, weil er einfach zu schüchtern war, danach zu fragen. Und zum anderen...
Die Tür schlug gegen die Wand. Fast hätte Lorcan einen Sprung zur Decke gemacht. Sein Herz klopfte laut und vernehmlich, als er sich erschrocken umdrehte. Es konnte ja nur eine Person sein, die so übellaunig in das Zimmer platzte...
"Willkommen zurück, Lais.", begrüßte er sie freundlich. "Ist alles in Ordnung?"
"Es gibt Menschen, die machen mich fertig mit ihrer Einfältigkeit!", grunzte Lais zur Antwort.
"Pardon, ich verstehe nicht..."
"Doch nicht du!", entgegnete sie und wirbelte herum. Ihre schmalen, dunklen Augen funkelten bedrohlich. Normalerweise war Lais ruhig und gelassen und nichts konnte sie aus der Fassung bringen. Doch dies schien ein schwerwiegender Fall zu sein. "Nia Toshiki meine ich!" Mit diesen Worten schnappte sie sich die halbleere Wasserflasche neben Lorcan und trank sie in einem Zug aus. Jetzt war sie wieder heruntergefahren. Lässig schritt sie um den Tisch herum und betrachtete eindringlich den Stoff, den Lorcan in der Hand hielt.
"Nia Toshiki ist vorhin zu mir gekommen, um mir die Waffe ihres Herzschlüssels zu zeigen.", erklärte Lais nun seelenruhig. "Dabei hat sie sich selbst verletzt. Anscheinend kommuniziert sie auch nicht wirklich mit ihren Huans, obwohl wir schon zwei Wochen hier sind... Sie weiß immer noch so wenig über diese Welt. Und sie hat ernsthaft geglaubt, dass Huans für eine 'bessere Zukunft' geschaffen worden sind. Als gäbe es in der Forschung und in der Wirtschaft nur Gutmenschen, die nicht auf Profit und Macht aus sind! Ich glaube meine Erklärung hat ihr ein wenig die Augen geöffnet... Oder zumindest hoffe ich das."
Ein langer Seufzer war zu hören, als sie sich auf einen Stuhl fallenließ. Dinge selber herzustellen machte ihr Freude, aber genauso gerne beobachtete sie andere Leute bei Schaffensprozessen. Es beruhigte sie immens, Lorcan beim Nähen zuzusehen. Trotz seiner riesigen, tellerartig großen Hände konnte er wirklich sehr schöne Kleidungsstücke kreieren. Eigentlich war sein Talent an so etwas einfachem wie ein Hemd für Lais vergeudet, aber sie weigerte sich strikt, Rüschen oder ähnliches zu tragen. Trotz ihrer pinken Haare fühlte sie sich nämlich alles andere als weiblich und wollte sich auch auf gar keinen Fall so kleiden!
"Schön wäre es, wenn Huans keine Waffen wären.", murmelte sie, während ihr Blick auf Lorcans Finger fixiert war. "Schön wäre es, wenn diese Kämpfe hier keine Ausbildung für Mordinstrumente wären. Aber das Leben ist nunmal kein Ponyhof, nicht wahr?"
Ein schmerzverzerrter Ausdruck huschte für einen Augenblick über Lorcans wie in Stein gemeißeltes Gesicht. "Das ist so wahr wie ich dein Huan bin, Lais..."
Und genauso wahr war es, dass er Katja wiedersehen wollte. Unbedingt.
~*~
"Ich raste aussss.", fauchte der wackelnde Busch in der Nähe des Trainingsplatzes. Nichts! Nada! Niente!
Wutentbrannt schoss die Brünette in die Höhe. Wäre sie ein Drache, würden inzwischen Rauchschwaden aus ihren Nüstern hervorquellen. Voller Hass auf sich und die Menscheit riss sie sich die Blätter aus ihren Haaren. Sogar ihr Kleid war dreckig geworden, aber darauf achtete sie gar nicht mehr. Tonia hatte ganz andere Ziele als wie ein Model auszusehen! Schon wieder hatte sie mehrere Stunden ihres kostbaren Tages damit verbracht, an der Mauer entlang zu krabbeln und nach einem potentiellen Ausgang zu suchen. Aber auch dieses Mal war diese entbehrungsreiche Aufgabe nicht von Erfolg gekrönt. Anita ging es ebenso.
Aber wie war das möglich? Sie waren doch hereingekommen, also mussten sie auch wieder herauskommen!
Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Frau Wood hatte ihr und einigen anderen Schülern einen Brief zukommen lassen, in dem von einem wichtigen Meeting die Rede war. Als sie sich alle versammelt hatten, sprach die Pädagogin von einem Raumtausch und führte sie aus der Realschule in ein Waldstück. Dort passierten sie ein gusseisernes Tor, welches sich letzten Endes als Höllenpforte zu dieser verfluchten Huans-Schule herausstellte. Erselik! Wenn sie diesen Namen schön hörte, wollte sie laut schreien und Dinge zerstören! Das klang schon so abartig!
Oh, hätte Tonia doch bloß ihren Pediküretermin wahrgenommen und Anita zum Friseur gescheucht, dann wären sie noch mit Tanja vereint! Aber nein, ihre Neugierde wurde ihnen zum Verhängnis und nun saßen sie in diesem verdammten Loch fest. Fest, ohne überhaupt zu wissen, wo der Ausgang war! Ein Tor konnte sich doch nicht einfach in Luft auflösen! Das war ganz und gar unmöglich!
Andererseits waren seitdem viele Dinge geschehen, die sie für 'unmöglich' betitelt hätte, wenn ihr gesunder Menschenverstand nicht langsam seine Funktionalität einbüßen würde. Menschen, die sich in Tiere verwandelten? Schüler, die gegeneinander mit diesen seltsamen Wesen kämpfen? Sie wollte das alles nicht wahrhaben und schon gar nicht Teil dieses Irrsinns sein! Alles, was ihr Herz neben Salvatore begehrte, war Tanja... Tonia wollte einfach nur wieder mit Anita und Tanja beisammen sitzen und Spaß haben. Über die neusten Gerüchte quatschen... Die aktuelle Gerüchteküche planen... Fotos austauschen und darüber schwärmen, was für ein perfekter Mann Salvatore doch war.
Diese Gedanken versetzten ihr einen Stich. Eine Welle der Melancholie und der Einsamkeit überkam sie. Allmählich fühlte sich Tonia wie eine Ertrinkende, die spürte, wie ihr Lebenslicht erlosch. Beklommen griff sie sich an die Brust.
"Na was treiben wir denn für perverse Spielchen im Busch?", ertönte eine Stimme, die sie aus ihrer Trauer riss. Ruckartig drehte sie sich um, obwohl sie natürlich ahnte, wer sie 'beglückte'. "Akuma.", knirschte sie mit den Zähnen. Der hatte ihr gerade noch gefehlt! Hatte der keine anderen Hobbies, als ihr den ganzen lieben langen Tag nachzulaufen und blöde Kommentare abzugeben?
"Nanu? Da ist ja gar kein Mann im Busch! Wollte sich denn nicht ein einziger mit dir amüsieren...?", fragte er zynisch nach und grinste breit. "Ich frage mich, warum das wohl so ist..."
Tonia holte bereits verbal aus, als ein weiteres bekanntes Gesicht hinter dem Ekel auftauchte. Isaac, ihr anderer Huan. "'Man kann uns niedrig behandeln, nicht erniedrigen.'", sagte er galant. Akuma verdrehte die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Wutschnaubend drehte er sich um. "Wir wissen alle, dass du'n Klugscheißer bist. Niemand versteht, was du von dir gibst, Schnabelmaier!", pöbelte er seinen Mitbewohner an. Doch Tonia verstand.
Plötzlich ging ihr ein Licht auf.
"Jungs, ich habe eine Bitte.", begann sie und biss sich fast augenblicklich auf die Zunge. Eigentlich hatte sie keine Lust, mit einem Phrasendrescher und einem verzogenen Kind gemeinsame Sache zu machen... Aber sie wollte nicht noch weiter sinnlos Energie vergeuden. Innerlich machte sie sich schon auf Sprüche gefasst.
"Als könnten wir in unserem Leben etwas von unserer heiligen Kuh... erm... Rulerin abschlagen!", witzelte Akuma herum. "Sollen wir in den Busch kommen und dir zeigen, wo's langgeht?"
"Du bist so ekelhaft.", sagte Tonia mit ruhiger, gelassener Stimme. "Selbst wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst, würde ich dich nicht mal mit der Kneifzange anfassen."
Einen Moment schaute der Angesprochene verdutzt, dann explodierte er vor lachen. "Jetzt... hast du's mir... aber voll gegeben!", keuchte er atemlos, während er immer noch kicherte. Dieses erstarb augenblicklich.
Die blank polierte Klinge einer langen Schwertlanze deutete mit der Spitze auf seine Nase. "Hör zu, was dein Ruler zu sagen hat.", sagte Tonia ganz ruhig, als würde es sich um ein normales Gespräch handeln. Isaac stand da wie versteinert. Seine Seele hatte scheinbar vor Schreck seinen Körper verlassen, als er die lilafarbene Naginata erblickt hatte.
"Ihr zwei werdet mir helfen, einen Ausgang aus dieser Schule zu finden."
~*~
Ehrlich gesagt hatte Cedric im tiefsten Inneren gehofft, dass Nia an seinem Bett wartete, wenn er aus seiner Ohnmacht erwachte. Natürlich war das reines Wunschdenken gewesen, aber die Realität war trotzdem bitter. Andererseits hoffte er auch, dass sie sich ihm nicht näherte. Er wollte auf keinen Fall, dass sie seine Gefühle herausfand!
Sobald Nia nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe war, wurde er rastlos. Seit Jahren war er es gewohnt, immer bei ihr zu sein – egal ob bewusst oder unbewusst. Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass sie einfach aufstand und ging. Schon gar nicht, nachdem Nia ihre beiden Huans so zurechtgewiesen hatte! Ihre Kritik war mehr als berechtigt gewesen, aber dennoch wollten die beiden jungen Männer auf Teufel komm raus nicht darüber reden. Eher hätten sie sich gegenseitig zerfleischt oder schlicht und ergreifend die Zunge abgebissen! Keiner traute dem Anderen oder wollte gar miteinander kommunizieren.
Es war bereits mehr als eine Stunde vergangen und es war immer noch keine Spur von Nia zu entdecken. Was, wenn sie in die Klauen von Anita oder Tonia gelangt war? So hießen doch die beiden Hexen aus der Gerüchteküche, oder? Nicht, dass sie ihr den Sieg streitig machen und sich an ihr rächen wollten! Kalter Schweiß perlte Cedric bei diesem Gedanken von der Stirn. Er hatte sie doch nicht all die Zeit beschützt, damit sie jetzt Opfer einer gefährlichen Intrige dieser Mädchen werden konnte? Ohne zu überlegen stürzte er aus dem Raum und hinterließ einen seufzenden Salvatore.
"Die Jugend von heute...", murmelte er und lachte über seinen eigenen Witz, während er eine Seite seines Buches umblätterte. Er hatte keinen Grund zur Eile. Noch verlief alles wunderbar nach Plan...
Auf dem Gang rannte er eine Schülerin im wahrsten Sinne des Wortes über den Haufen. Seine schiere Größe hatte sie einfach überrollt. Als er sich etwas angefressen und leicht besorgt umdrehte, erkannte er Anita, die sich wieder aufrappelte. Vorsichtig klopfte sie ihren Rock aus und verschränkte die Arme. "Bist du ein Yeti, oder was trampelst du hier so herum und killst fast andere Leute?", forderte sie ihn heraus. Cedric hasste Menschen. Aber die holde Weiblichkeit stellte die Krönung dar. Bislang hatte er sämtliche Interaktionen wunderbar vermieden, aber hier gab es wohl kein Entkommen. Innerlich fiel ihm ein Stein vom Herzen, Anita zu sehen... Das bedeutete zumindest, dass sie sich nicht an Nia vergriffen hatten... Oder aber bereits damit fertig waren.
"Hast du Nia gesehen?", wollte er geradeheraus und ohne Umschweife wissen.
Anitas Blut schlug Blasen vor Wut. Eine Entschuldigung war ja auch zu viel verlangt. Nia hier, Nia da, Nia tralala... Hatte der Kerl überhaupt irgendetwas oder irgendjemand Anderen im Sinn? "Dein Herzblatt habe ich vorhin bei Lais im Töpferraum gesehen oder wie das heißt." Eigentlich wollte sich Cedric ohne Worte umdrehen und weitergehen, aber er besann sich im letzten Augenblick eines besseren. "Wie geht es deinen Huans?", fragte er ohne sichtliches Interesse in der Stimme. "Danke für dein Mitgefühl, nachdem du einen von ihnen die Augäpfel fast aus den Höhlen gerissen hast.", schnaubte Anita mit verschränkten Armen und aufgeblähten Backen. "Aber nachdem sie ihr Busshitsu, genommen hatten, ging es ihnen wieder wunderprächtig. Zum Glück." Im letzten Satz klang echte, ehrliche Erleichterung mit.
"Wir kriegen noch einen Stempel von euch.", konstatierte Cedric, als wäre dies ein Geschäftsgespräch. Das war wahrscheinlich auch die einzige Art, wie er einigermaßen mit Mädchen umgehen konnte. Anita seufzte.
"Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Morgen im Unterricht bekommt ihr ihn natürlich. Dachtest du ernsthaft, dass ich den unterschlagen wollte, nur weil ich als Zicke gelte? Meine erste Priorität war die Heilung meiner Huans. Verzeih mir, dass ich dabei mit voller Absicht den Stempel vergessen habe." Der Sarkasmus triefte direkt heraus. "Ich habe verloren. Auch wenn ich Nia hasse, sie wird den blöden Stempel morgen bekommen, das verspreche ich."
Cedric wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Für ihn war alles geklärt und unter Dach und Fach, darum drehte er sich um und ging in Richtung Töpferraum.
"Na dir auch noch nen schönen Tag, Mr. Soziale Inkompetenz.", seufzte Anita und kräuselte die Lippen.
Als er den Raum betrat, saß Nia geistesabwesend auf einem Tisch und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Sonnenlicht schillerte in ihren Haaren und eine sanfte Brise wehte. Zunächst bemerkte sie Cedric gar nicht, bis er sich neben sie setzte. Einige Minuten verstrichen, ohne dass jemand etwas sagte.
"Wusstest du, dass es eine Lüge war, dass 'Huans für eine bessere Zukunft erschaffen worden waren'?"
"Ja.", antwortete er ohne Umschweife.
"Wusstest du, dass ihr als Neo Biowaffen bezeichnet werdet? So wie ein Giftgas oder eine andere tödliche Waffe... ein Objekt?"
"Ja.", lautete auch diesmal die Antwort.
"Wusstest du, dass das hier eigentlich eine Ausbildung für euch 'Waffen' ist?"
"Ja."
Ihre Blicke trafen sich. Nias war ganz ruhig und gefasst. "'Eine bessere Zukunft'", echote sie. "Das ist natürlich eine Sache des Betrachtungswinkels." Sie seufzte. "Wir sind gefangen in einem System, aus dem wir nicht ausbrechen können, aber auch nicht erfüllen möchten."
Darauf antwortete Cedric nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Lais hatte ihr anscheinend davon erzählt, denn alleine wäre sie bestimmt nicht draufgekommen. Das war vielleicht auch besser so, bevor der Schock zu groß wurde.
"Erst jetzt wird mir bewusst, was für eine große Verantwortung ich mit zwei Huans habe. Davor war mir nicht klar, was es bedeutet zu kämpfen... Ich bin nicht allein. Aber..."
Ihre Stimme veränderte sich. Plötzlich war sie ganz kalt und klar. "Ich möchte auch nicht hierbleiben. Ich... nein... Wir gehören hier nicht hin."
"Du möchtest von hier fliehen?", fragte Cedric etwas überrascht. Die regelkonforme, schüchterne Schülerin wollte aus einem schwer bewachten Käfig ausbrechen? Ausgerechnet Nia Toshiki? Sie wusste tatsächlich, wie man ihn ein ums andere Mal überraschen konnte.
"Ich möchte meinen Vater treffen und mit ihm reden.", sagte Nia, als stünde ihr Entschluss schon lange fest. Cedric schluckte und hakte hastig nach: "Was hat denn dein Vater damit zu tun?" Ein Lächeln huschte über ihr ebenmäßiges Gesicht.
"Keine Ahnung. Aber er ist Forscher, weißt du? Es wäre schön, wenn er mir in dieser Sache helfen könnte. Vielleicht weiß er etwas über Huans?"
"Hast du schon vergessen, dass die Existenz von Huans fast schon so was wie ein Staatsgeheimnis ist? Warum sonst sollte man den Aufwand betreiben, uns in eine eigene, hermetrisch abgeriegelte Schule zu stecken? Oder wusstest du davor von der Existenz von Huans? Warum sollte also ausgerechnet dein Vater etwas darüber wissen?", konterte er und brachte Nia zum Grübeln.
Ganz Unrecht hatte Cedric mit seinen Überlegungen nicht. Das Mädchen hatte sich als Kind nie sonderlich für die Forschungen ihres Vaters interessiert – es war aber auch zu viel verlangt, im Kindergartenalter etwas davon zu verstehen. Zwar war sie ein paar Mal im Labor gewesen, aber alles sah gleich für sie aus. Hohe Tische mit etlichen Gerätschaften, Männer in weißen Kitteln mit seltsamen Brillen... Ein süßlicher Geruch und das sanfte Sirren einer Zentrifuge im Hintergrund. Es war wirklich lange her, als Nia sich das letzte Mal in einem Labor befunden hatte. Schließlich war sie seit Ewigkeiten nicht einmal mehr zu Hause gewesen, da ihr Vater so in der Forschung eingespannt war. Nia war das mehr als recht, da sie nicht wusste, was sie im Haus machen sollte, wenn er Tag und Nacht arbeitete. Ihre Mutter war ja bereits verstorben, also wäre sie ganz auf sich gestellt. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Nein, da hatte sie lieber das etwas ruhigere, aber dennoch lebendige Campusleben um sich herum. Außerdem war sie immer glücklich, wenn Katja etwas eher aus den Ferien ins Mädchenwohnheim zurükkam, um noch ein wenig Zeit mit ihr zu verbringen. Ihr Vater dagegen zeigte keinerlei Interesse an seiner Tochter, nur an seiner Arbeit. Und genau deswegen wäre es interessant zu wissen, ob er Huans kannte...
Vielleicht wusste ihr Vater nichts über Huans...
Vielleicht aber doch.
Nia wollte es drauf ankommen lassen. Sie wollte ihn persönlich befragen und ihren Wissensdurst stillen.
Doch dafür musste sie erst einmal hier rauskommen.
Ein jäher Schmerz holte ihn zurück in die Realität. Eine Nadel steckte in seinem Finger, weil er so unkonzentriert gewesen war. Ein langer, tiefer Seufzer entkam seinem sonnengebebräuntem Gesicht. Fragen über Fragen, auf die er wohl niemals eine Antwort finden würde. Alleine schon, weil er einfach zu schüchtern war, danach zu fragen. Und zum anderen...
Die Tür schlug gegen die Wand. Fast hätte Lorcan einen Sprung zur Decke gemacht. Sein Herz klopfte laut und vernehmlich, als er sich erschrocken umdrehte. Es konnte ja nur eine Person sein, die so übellaunig in das Zimmer platzte...
"Willkommen zurück, Lais.", begrüßte er sie freundlich. "Ist alles in Ordnung?"
"Es gibt Menschen, die machen mich fertig mit ihrer Einfältigkeit!", grunzte Lais zur Antwort.
"Pardon, ich verstehe nicht..."
"Doch nicht du!", entgegnete sie und wirbelte herum. Ihre schmalen, dunklen Augen funkelten bedrohlich. Normalerweise war Lais ruhig und gelassen und nichts konnte sie aus der Fassung bringen. Doch dies schien ein schwerwiegender Fall zu sein. "Nia Toshiki meine ich!" Mit diesen Worten schnappte sie sich die halbleere Wasserflasche neben Lorcan und trank sie in einem Zug aus. Jetzt war sie wieder heruntergefahren. Lässig schritt sie um den Tisch herum und betrachtete eindringlich den Stoff, den Lorcan in der Hand hielt.
"Nia Toshiki ist vorhin zu mir gekommen, um mir die Waffe ihres Herzschlüssels zu zeigen.", erklärte Lais nun seelenruhig. "Dabei hat sie sich selbst verletzt. Anscheinend kommuniziert sie auch nicht wirklich mit ihren Huans, obwohl wir schon zwei Wochen hier sind... Sie weiß immer noch so wenig über diese Welt. Und sie hat ernsthaft geglaubt, dass Huans für eine 'bessere Zukunft' geschaffen worden sind. Als gäbe es in der Forschung und in der Wirtschaft nur Gutmenschen, die nicht auf Profit und Macht aus sind! Ich glaube meine Erklärung hat ihr ein wenig die Augen geöffnet... Oder zumindest hoffe ich das."
Ein langer Seufzer war zu hören, als sie sich auf einen Stuhl fallenließ. Dinge selber herzustellen machte ihr Freude, aber genauso gerne beobachtete sie andere Leute bei Schaffensprozessen. Es beruhigte sie immens, Lorcan beim Nähen zuzusehen. Trotz seiner riesigen, tellerartig großen Hände konnte er wirklich sehr schöne Kleidungsstücke kreieren. Eigentlich war sein Talent an so etwas einfachem wie ein Hemd für Lais vergeudet, aber sie weigerte sich strikt, Rüschen oder ähnliches zu tragen. Trotz ihrer pinken Haare fühlte sie sich nämlich alles andere als weiblich und wollte sich auch auf gar keinen Fall so kleiden!
"Schön wäre es, wenn Huans keine Waffen wären.", murmelte sie, während ihr Blick auf Lorcans Finger fixiert war. "Schön wäre es, wenn diese Kämpfe hier keine Ausbildung für Mordinstrumente wären. Aber das Leben ist nunmal kein Ponyhof, nicht wahr?"
Ein schmerzverzerrter Ausdruck huschte für einen Augenblick über Lorcans wie in Stein gemeißeltes Gesicht. "Das ist so wahr wie ich dein Huan bin, Lais..."
Und genauso wahr war es, dass er Katja wiedersehen wollte. Unbedingt.
~*~
"Ich raste aussss.", fauchte der wackelnde Busch in der Nähe des Trainingsplatzes. Nichts! Nada! Niente!
Wutentbrannt schoss die Brünette in die Höhe. Wäre sie ein Drache, würden inzwischen Rauchschwaden aus ihren Nüstern hervorquellen. Voller Hass auf sich und die Menscheit riss sie sich die Blätter aus ihren Haaren. Sogar ihr Kleid war dreckig geworden, aber darauf achtete sie gar nicht mehr. Tonia hatte ganz andere Ziele als wie ein Model auszusehen! Schon wieder hatte sie mehrere Stunden ihres kostbaren Tages damit verbracht, an der Mauer entlang zu krabbeln und nach einem potentiellen Ausgang zu suchen. Aber auch dieses Mal war diese entbehrungsreiche Aufgabe nicht von Erfolg gekrönt. Anita ging es ebenso.
Aber wie war das möglich? Sie waren doch hereingekommen, also mussten sie auch wieder herauskommen!
Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Frau Wood hatte ihr und einigen anderen Schülern einen Brief zukommen lassen, in dem von einem wichtigen Meeting die Rede war. Als sie sich alle versammelt hatten, sprach die Pädagogin von einem Raumtausch und führte sie aus der Realschule in ein Waldstück. Dort passierten sie ein gusseisernes Tor, welches sich letzten Endes als Höllenpforte zu dieser verfluchten Huans-Schule herausstellte. Erselik! Wenn sie diesen Namen schön hörte, wollte sie laut schreien und Dinge zerstören! Das klang schon so abartig!
Oh, hätte Tonia doch bloß ihren Pediküretermin wahrgenommen und Anita zum Friseur gescheucht, dann wären sie noch mit Tanja vereint! Aber nein, ihre Neugierde wurde ihnen zum Verhängnis und nun saßen sie in diesem verdammten Loch fest. Fest, ohne überhaupt zu wissen, wo der Ausgang war! Ein Tor konnte sich doch nicht einfach in Luft auflösen! Das war ganz und gar unmöglich!
Andererseits waren seitdem viele Dinge geschehen, die sie für 'unmöglich' betitelt hätte, wenn ihr gesunder Menschenverstand nicht langsam seine Funktionalität einbüßen würde. Menschen, die sich in Tiere verwandelten? Schüler, die gegeneinander mit diesen seltsamen Wesen kämpfen? Sie wollte das alles nicht wahrhaben und schon gar nicht Teil dieses Irrsinns sein! Alles, was ihr Herz neben Salvatore begehrte, war Tanja... Tonia wollte einfach nur wieder mit Anita und Tanja beisammen sitzen und Spaß haben. Über die neusten Gerüchte quatschen... Die aktuelle Gerüchteküche planen... Fotos austauschen und darüber schwärmen, was für ein perfekter Mann Salvatore doch war.
Diese Gedanken versetzten ihr einen Stich. Eine Welle der Melancholie und der Einsamkeit überkam sie. Allmählich fühlte sich Tonia wie eine Ertrinkende, die spürte, wie ihr Lebenslicht erlosch. Beklommen griff sie sich an die Brust.
"Na was treiben wir denn für perverse Spielchen im Busch?", ertönte eine Stimme, die sie aus ihrer Trauer riss. Ruckartig drehte sie sich um, obwohl sie natürlich ahnte, wer sie 'beglückte'. "Akuma.", knirschte sie mit den Zähnen. Der hatte ihr gerade noch gefehlt! Hatte der keine anderen Hobbies, als ihr den ganzen lieben langen Tag nachzulaufen und blöde Kommentare abzugeben?
"Nanu? Da ist ja gar kein Mann im Busch! Wollte sich denn nicht ein einziger mit dir amüsieren...?", fragte er zynisch nach und grinste breit. "Ich frage mich, warum das wohl so ist..."
Tonia holte bereits verbal aus, als ein weiteres bekanntes Gesicht hinter dem Ekel auftauchte. Isaac, ihr anderer Huan. "'Man kann uns niedrig behandeln, nicht erniedrigen.'", sagte er galant. Akuma verdrehte die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Wutschnaubend drehte er sich um. "Wir wissen alle, dass du'n Klugscheißer bist. Niemand versteht, was du von dir gibst, Schnabelmaier!", pöbelte er seinen Mitbewohner an. Doch Tonia verstand.
Plötzlich ging ihr ein Licht auf.
"Jungs, ich habe eine Bitte.", begann sie und biss sich fast augenblicklich auf die Zunge. Eigentlich hatte sie keine Lust, mit einem Phrasendrescher und einem verzogenen Kind gemeinsame Sache zu machen... Aber sie wollte nicht noch weiter sinnlos Energie vergeuden. Innerlich machte sie sich schon auf Sprüche gefasst.
"Als könnten wir in unserem Leben etwas von unserer heiligen Kuh... erm... Rulerin abschlagen!", witzelte Akuma herum. "Sollen wir in den Busch kommen und dir zeigen, wo's langgeht?"
"Du bist so ekelhaft.", sagte Tonia mit ruhiger, gelassener Stimme. "Selbst wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst, würde ich dich nicht mal mit der Kneifzange anfassen."
Einen Moment schaute der Angesprochene verdutzt, dann explodierte er vor lachen. "Jetzt... hast du's mir... aber voll gegeben!", keuchte er atemlos, während er immer noch kicherte. Dieses erstarb augenblicklich.
Die blank polierte Klinge einer langen Schwertlanze deutete mit der Spitze auf seine Nase. "Hör zu, was dein Ruler zu sagen hat.", sagte Tonia ganz ruhig, als würde es sich um ein normales Gespräch handeln. Isaac stand da wie versteinert. Seine Seele hatte scheinbar vor Schreck seinen Körper verlassen, als er die lilafarbene Naginata erblickt hatte.
"Ihr zwei werdet mir helfen, einen Ausgang aus dieser Schule zu finden."
~*~
Ehrlich gesagt hatte Cedric im tiefsten Inneren gehofft, dass Nia an seinem Bett wartete, wenn er aus seiner Ohnmacht erwachte. Natürlich war das reines Wunschdenken gewesen, aber die Realität war trotzdem bitter. Andererseits hoffte er auch, dass sie sich ihm nicht näherte. Er wollte auf keinen Fall, dass sie seine Gefühle herausfand!
Sobald Nia nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe war, wurde er rastlos. Seit Jahren war er es gewohnt, immer bei ihr zu sein – egal ob bewusst oder unbewusst. Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass sie einfach aufstand und ging. Schon gar nicht, nachdem Nia ihre beiden Huans so zurechtgewiesen hatte! Ihre Kritik war mehr als berechtigt gewesen, aber dennoch wollten die beiden jungen Männer auf Teufel komm raus nicht darüber reden. Eher hätten sie sich gegenseitig zerfleischt oder schlicht und ergreifend die Zunge abgebissen! Keiner traute dem Anderen oder wollte gar miteinander kommunizieren.
Es war bereits mehr als eine Stunde vergangen und es war immer noch keine Spur von Nia zu entdecken. Was, wenn sie in die Klauen von Anita oder Tonia gelangt war? So hießen doch die beiden Hexen aus der Gerüchteküche, oder? Nicht, dass sie ihr den Sieg streitig machen und sich an ihr rächen wollten! Kalter Schweiß perlte Cedric bei diesem Gedanken von der Stirn. Er hatte sie doch nicht all die Zeit beschützt, damit sie jetzt Opfer einer gefährlichen Intrige dieser Mädchen werden konnte? Ohne zu überlegen stürzte er aus dem Raum und hinterließ einen seufzenden Salvatore.
"Die Jugend von heute...", murmelte er und lachte über seinen eigenen Witz, während er eine Seite seines Buches umblätterte. Er hatte keinen Grund zur Eile. Noch verlief alles wunderbar nach Plan...
Auf dem Gang rannte er eine Schülerin im wahrsten Sinne des Wortes über den Haufen. Seine schiere Größe hatte sie einfach überrollt. Als er sich etwas angefressen und leicht besorgt umdrehte, erkannte er Anita, die sich wieder aufrappelte. Vorsichtig klopfte sie ihren Rock aus und verschränkte die Arme. "Bist du ein Yeti, oder was trampelst du hier so herum und killst fast andere Leute?", forderte sie ihn heraus. Cedric hasste Menschen. Aber die holde Weiblichkeit stellte die Krönung dar. Bislang hatte er sämtliche Interaktionen wunderbar vermieden, aber hier gab es wohl kein Entkommen. Innerlich fiel ihm ein Stein vom Herzen, Anita zu sehen... Das bedeutete zumindest, dass sie sich nicht an Nia vergriffen hatten... Oder aber bereits damit fertig waren.
"Hast du Nia gesehen?", wollte er geradeheraus und ohne Umschweife wissen.
Anitas Blut schlug Blasen vor Wut. Eine Entschuldigung war ja auch zu viel verlangt. Nia hier, Nia da, Nia tralala... Hatte der Kerl überhaupt irgendetwas oder irgendjemand Anderen im Sinn? "Dein Herzblatt habe ich vorhin bei Lais im Töpferraum gesehen oder wie das heißt." Eigentlich wollte sich Cedric ohne Worte umdrehen und weitergehen, aber er besann sich im letzten Augenblick eines besseren. "Wie geht es deinen Huans?", fragte er ohne sichtliches Interesse in der Stimme. "Danke für dein Mitgefühl, nachdem du einen von ihnen die Augäpfel fast aus den Höhlen gerissen hast.", schnaubte Anita mit verschränkten Armen und aufgeblähten Backen. "Aber nachdem sie ihr Busshitsu, genommen hatten, ging es ihnen wieder wunderprächtig. Zum Glück." Im letzten Satz klang echte, ehrliche Erleichterung mit.
"Wir kriegen noch einen Stempel von euch.", konstatierte Cedric, als wäre dies ein Geschäftsgespräch. Das war wahrscheinlich auch die einzige Art, wie er einigermaßen mit Mädchen umgehen konnte. Anita seufzte.
"Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Morgen im Unterricht bekommt ihr ihn natürlich. Dachtest du ernsthaft, dass ich den unterschlagen wollte, nur weil ich als Zicke gelte? Meine erste Priorität war die Heilung meiner Huans. Verzeih mir, dass ich dabei mit voller Absicht den Stempel vergessen habe." Der Sarkasmus triefte direkt heraus. "Ich habe verloren. Auch wenn ich Nia hasse, sie wird den blöden Stempel morgen bekommen, das verspreche ich."
Cedric wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Für ihn war alles geklärt und unter Dach und Fach, darum drehte er sich um und ging in Richtung Töpferraum.
"Na dir auch noch nen schönen Tag, Mr. Soziale Inkompetenz.", seufzte Anita und kräuselte die Lippen.
Als er den Raum betrat, saß Nia geistesabwesend auf einem Tisch und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Sonnenlicht schillerte in ihren Haaren und eine sanfte Brise wehte. Zunächst bemerkte sie Cedric gar nicht, bis er sich neben sie setzte. Einige Minuten verstrichen, ohne dass jemand etwas sagte.
"Wusstest du, dass es eine Lüge war, dass 'Huans für eine bessere Zukunft erschaffen worden waren'?"
"Ja.", antwortete er ohne Umschweife.
"Wusstest du, dass ihr als Neo Biowaffen bezeichnet werdet? So wie ein Giftgas oder eine andere tödliche Waffe... ein Objekt?"
"Ja.", lautete auch diesmal die Antwort.
"Wusstest du, dass das hier eigentlich eine Ausbildung für euch 'Waffen' ist?"
"Ja."
Ihre Blicke trafen sich. Nias war ganz ruhig und gefasst. "'Eine bessere Zukunft'", echote sie. "Das ist natürlich eine Sache des Betrachtungswinkels." Sie seufzte. "Wir sind gefangen in einem System, aus dem wir nicht ausbrechen können, aber auch nicht erfüllen möchten."
Darauf antwortete Cedric nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Lais hatte ihr anscheinend davon erzählt, denn alleine wäre sie bestimmt nicht draufgekommen. Das war vielleicht auch besser so, bevor der Schock zu groß wurde.
"Erst jetzt wird mir bewusst, was für eine große Verantwortung ich mit zwei Huans habe. Davor war mir nicht klar, was es bedeutet zu kämpfen... Ich bin nicht allein. Aber..."
Ihre Stimme veränderte sich. Plötzlich war sie ganz kalt und klar. "Ich möchte auch nicht hierbleiben. Ich... nein... Wir gehören hier nicht hin."
"Du möchtest von hier fliehen?", fragte Cedric etwas überrascht. Die regelkonforme, schüchterne Schülerin wollte aus einem schwer bewachten Käfig ausbrechen? Ausgerechnet Nia Toshiki? Sie wusste tatsächlich, wie man ihn ein ums andere Mal überraschen konnte.
"Ich möchte meinen Vater treffen und mit ihm reden.", sagte Nia, als stünde ihr Entschluss schon lange fest. Cedric schluckte und hakte hastig nach: "Was hat denn dein Vater damit zu tun?" Ein Lächeln huschte über ihr ebenmäßiges Gesicht.
"Keine Ahnung. Aber er ist Forscher, weißt du? Es wäre schön, wenn er mir in dieser Sache helfen könnte. Vielleicht weiß er etwas über Huans?"
"Hast du schon vergessen, dass die Existenz von Huans fast schon so was wie ein Staatsgeheimnis ist? Warum sonst sollte man den Aufwand betreiben, uns in eine eigene, hermetrisch abgeriegelte Schule zu stecken? Oder wusstest du davor von der Existenz von Huans? Warum sollte also ausgerechnet dein Vater etwas darüber wissen?", konterte er und brachte Nia zum Grübeln.
Ganz Unrecht hatte Cedric mit seinen Überlegungen nicht. Das Mädchen hatte sich als Kind nie sonderlich für die Forschungen ihres Vaters interessiert – es war aber auch zu viel verlangt, im Kindergartenalter etwas davon zu verstehen. Zwar war sie ein paar Mal im Labor gewesen, aber alles sah gleich für sie aus. Hohe Tische mit etlichen Gerätschaften, Männer in weißen Kitteln mit seltsamen Brillen... Ein süßlicher Geruch und das sanfte Sirren einer Zentrifuge im Hintergrund. Es war wirklich lange her, als Nia sich das letzte Mal in einem Labor befunden hatte. Schließlich war sie seit Ewigkeiten nicht einmal mehr zu Hause gewesen, da ihr Vater so in der Forschung eingespannt war. Nia war das mehr als recht, da sie nicht wusste, was sie im Haus machen sollte, wenn er Tag und Nacht arbeitete. Ihre Mutter war ja bereits verstorben, also wäre sie ganz auf sich gestellt. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Nein, da hatte sie lieber das etwas ruhigere, aber dennoch lebendige Campusleben um sich herum. Außerdem war sie immer glücklich, wenn Katja etwas eher aus den Ferien ins Mädchenwohnheim zurükkam, um noch ein wenig Zeit mit ihr zu verbringen. Ihr Vater dagegen zeigte keinerlei Interesse an seiner Tochter, nur an seiner Arbeit. Und genau deswegen wäre es interessant zu wissen, ob er Huans kannte...
Vielleicht wusste ihr Vater nichts über Huans...
Vielleicht aber doch.
Nia wollte es drauf ankommen lassen. Sie wollte ihn persönlich befragen und ihren Wissensdurst stillen.
Doch dafür musste sie erst einmal hier rauskommen.