Kapitel 21: Flügel stutzen
Hast du überhaupt richtig zugehört?!", brauste Akuma auf. Tonia warf ihm einen vernichtenden Blick zu. "Im Gegensatz zu dir bin ich weder bescheuert noch stumpfsinnig. Nia will hier raus und ich ebenso."
"Dann geht durch die Tür und verpisst euch!", wütete Akuma und Isaac flüsterte nur leise im Hintergrund: "Zweimal derselbe Witz ist nicht lustig..."
Tonia wirbelte zu Nia herum, die immer noch stocksteif im Sessel saß. Dennoch erwiderte sie ohne zögern den Blick der Gerüchteküchechefin. "Nur damit das klar ist...", sagte sie ganz ruhig und mit verschränkten Armen, "ich hasse dich aus tiefstem Herzen. Selbst, wenn wir gemeinsame Sache machen, wird sich das niemals ändern." "Der Feind meines Feindes ist mein Freund.", zitierte Nia entschlossen und entlockte damit Tonia ein höhnisches Grinsen. "Wow, wer hätte gedacht, dass du mal den Mumm
hast, mir direkt in die Augen zu sehen und so etwas zu sagen. Da hab ich dich wohl nicht genug kaputt gemacht..."
"Lasst das.", ging Isaac dazwischen. "Sowohl diese Streiterei als auch eure verrückten Pläne! Ihr könnt nicht von hier fliehen! Allein für den Versuch wird es schwere Strafen geben... Wollt ihr das wirklich?"
Nia war aufgestanden und beide sagten aus einem Mund: "Solange wir unsere Freunde wiedersehen können, ist uns jedes Mittel recht!" Isaac seufzte und schüttelte den Kopf. Die Mobberin und ihr Opfer rauften sich zusammen? Das konnte ja heiter werden!
~*~
"Ich habe schon jeden erdenklichen Winkel draußen an der Mauer abgesucht. Es gibt keine Tür, kein Tor und kein Loch, durch das man hindurchschlüpfen könnte.", erklärte
Tonia, während sie am Tee nippte. Sie verzog das Gesicht. "Wer hat das denn zusammengebraut?" Als Isaac seine Hand hob, ging Tonia zur Spüle und schüttete das Gesöff weg. Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, setzte sie sich wieder.
"Aber wir sind ja durch einen Tunnel in die Schule gekommen. Da bringt es wenig, wenn wir die Außenmauern untersuchen.", wandte Nia ein. "Ich bin in einem ellipsenförmigen Raum angekommen... Dort müsste auch die Tür zu finden sein."
"Meinst du nicht, das wäre ein wenig zu einfach? Ich kann mir kaum vorstellen, dass dieser Gang nicht bewacht oder versiegelt ist.", warf die Brünette dazwischen. Gedankenverloren starrten sie auf die selbst gezeichnete Karte.
"Es wäre zumindest einen Versuch wert, diesen Gang zu finden und auszukundschaften. Wir dürfen keine Chance ungenutzt lassen, wenn wir hier wirklich rauskommen wollen.", meinte das schwarzhaarige Mädchen sachlich. "Was, wenn die Lösung des Rätsels ganz einfach wäre und wir uns den Kopf darüber zerbrechen?" Es widerstrebte Tonia das zuzugeben, aber Nia hatte recht. Sie mussten diesen Gang ausfindig machen und darauf hoffen, dass es einfach klappte.
~*~
"Warum zur Hölle musste ich mitkommen?!", fauchte Akuma, der am liebsten weiter Chips gefuttert und auf der Couch gegammelt hätte. Auch Isaac war im Schlepptau, der alle drei Meter einen herzzerreißenden Seufzer ausstieß. Das Ganze gefiel ihm ganz und gar nicht! Alle seine Alarmglocken schrillten, doch seine Worte stießen nur auf taube Ohren.
"Wir brauchen Jemanden, auf den wir die Schuld schieben können, falls etwas passiert.", antwortete Tonia ganz nebensächlich. Akuma drehte sich wütend zu ihr. "Du hast mich als Sündenbock mitgenommen?! Hast du nen Knall?!"
"Für Jemanden, der nicht mal sein Hemd richtig zuknöpfen kann, riskierst du ne ziemlich dicke Lippe!"
"Und einen offenen Hosenstall hat...", fügte Isaac beiläufig hinzu.
Akuma schnaubte und wurde rot. Nia konnte nicht sagen, ob es vor Scham oder Wut war, aber er schloss zumindest den Reißverschluss seiner Hose. Schnell schaute sie zur Seite. Wie konnte man nur so herumliegen? Es war dem jungen Mädchen ein Rätsel.
Das ungewöhnliche Quartett eilte durch die Gänge der Erselik-Schule, die ihnen inzwischen schon vertraut waren. Es war erstaunlich, wie schnell sie sich an ihr neues Zuhause gewöhnt hatten, auch wenn sie sich innerlich dagegen wehrten. Sie waren einfach zu schnell aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen worden. Die sonst so teilnahmslose und hochnäsige Tonia schaute überall umher, als würde gleich aus dem Nichts eine Tür auftauchen. Das Auffinden des ellipsenförmigen Raums war kein
Problem, immerhin handelte es sich um die Haupthalle, von der aus man sowohl in die Schulkantine, als auch in die Klassenzimmer oder Appartements gelangen konnte.
"Hier muss es gewesen sein...", murmelte Nia und betastete die Wand.
"Lass mich auch mal!", schnaubte Tonia und schubste sie zur Seite. Die Wand war meisterhaft verputzt. Das Weiß strahlte im Licht des Kronleuchters. Einige verwunderte Blicke wurden ihnen von Mitschülern hinterhergeworfen, doch niemand wagte es, Tonia anzusprechen. Schon gar nicht, wenn das "explosive Duo" Akuma und Tonia zusammen auftraten! Die Mauer war makellos. Es gab keine Risse, keine Fugen und keine Unebenheiten. Wütend hämmerte Tonia gegen die Wand.
"Das hört sich nicht hohl an...", knurrte die Brünette. Ein leiser Seitenkommentar von Isaac ging leider unter. "Anders als der Kopf von gewissen Leuten..."
Tonia ging einen Schritt auf Nia zu. "Bist du sicher, dass es dieser Raum war?" Nia nickte. "Du bist doch ebenfalls durch den Gang hierher gelangt, oder etwa nicht?"
Die Angesprochene nickte zögerlich. "Die Erinnerung daran ist sehr verschwommen, als wäre es schon viele Jahre her... Oder als wäre ich in einer Art Trance gewesen,
aber ja... Das müsste die Stelle gewesen sein! Und dennoch sehen wir nichts! Das ist die reinste Zeitverschwendung!" Ihre Stimme wurde immer lauter.
"Was wird hier gespielt?", ertönte eine wuterstickte Stimme hinter ihnen. Nia musste sich nicht einmal umdrehen um zu wissen, wer es war.
Cedric Urs.
"Auch noch der Ceddybär...", seufzte Akuma und Isaac gab ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf, der ihn zum Schweigen brachte.
"Ich habe gefragt, was hier gespielt wird!", er ging schnurstraks zu Nia und stellte sich vor sie. Tonia war das Mädchen, welches Nia gemobbt und gedemütigt hatte. Das
Mädchen, das die Schlägerei im Bad angeordnet hatte und Nia ihre geliebten Haare abschneiden wollte! Sämtliche Muskeln des jungen Mannes waren gespannt und sein Kiefer malmte bedrohlich.
Tonia schnaubte verächtlich.
"E-Es ist nicht so, wie du denkst!", stieß Nia aus und positionierte sich vor Tonia. Ohne zu zögern nahm sie seine Hände. Cedric zuckte zusammen und sein Gesichtsausdruck wurde für eine Sekunde ganz weich. Ruckartig riss er seine Arme nach oben und drehte sich weg. Seine Ohren waren flammend rot.
"Oh la la!", stieß Isaac aus und Akuma ergänzte singend: "Das muss Liebe sein!"
"Seid still, ihr Würmer!", fauchte Cedric, doch die Beiden blieben unbeeindruckt. "Ihr macht gemeinsame Sache? Willst du mich auf den Arm nehmen, Nia? Sie... Sie ist...!"
"Die Person, die mich gemobbt hat und vor der ich riesige Angst habe.", beendete Nia den Satz. Sie atmete tief ein, bevor sie den nächsten Satz aussprach. "Aber Angst bringt mich nicht weiter. Angst behindert mich und macht mich schwach."
~*~
Nun war auch Cedric in den Gemächern des seltsamen Trios. Nia hatte ihn über die Lage und ihre Pläne aufgeklärt.
"Ich kann das gut verstehen, Nia.", begann er einfühlsam, "Aber ich sehe das genauso wie Isaac. Hier herauszukommen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst wenn es uns gelingen sollte, wird man uns in kürzester Zeit schnappen und massiv bestrafen. Und damit meine ich nicht so etwas wie Nachsitzen oder einen Aufsatz über schlechtes Benehmen zu schreiben... Ich meine körperliche Züchtigung, Folterungen und auch Psychospiele."
Isaac und Cedric sahen sehr ernst drein. Beide schienen zu wissen, wovon sie sprachen.
"Seid... Habt ihr schon mal versucht, auszubrechen?", fragte Tonia interessiert. Ihr schien die Reaktion der ungleichen Huans nicht entgangen zu sein. Sie wechselten Blicke miteinander. Isaac fuhr sich mit den Fingern durch den Pony.
"Sagen wir es so... Nicht hier... Aber bei anderen... Institutionen haben wir die Regeln auf die harte Tour gelernt.", antwortete er sehr schwammig und ausweichend. Eine unangenehme Stille trat ein. Sogar Nia merkte, dass aus ihnen nicht mehr herauszukriegen war.
Zum ersten Mal ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Es war deutlich erkennbar, dass der Raum in drei Bereiche eingeteilt war. Ein Tape auf dem Boden markierte die Grenzen. Eine der drei Seiten war total verwüstet und voller Krümel verschiedener Chips-Sorten und einigen Colaflecken. Überall lagen verteilt lieblos hingeworfene Magazine, einige Ringe und Nietenarmbänder. Ein Pali-Tuch diente als Gardine, neben der eine halbverdorrte Venusfliegenfalle stand. Einige Computerteile lagen auf einem kleinen Tisch. Nia fehlte das Fachwissen um sagen zu können, um was es sich genau dabei handelte. Ein großer Wäscheberg aus allerlei unterschiedlich kariert-gemusterten Jacken rundete das Gesamtbild ab. Das war zweifelsohne Akumas Eck. Sie konnte sich nur ausmalen, wie krass es in seinem eigenen Zimmer aussehen musste, wenn er hier schon so ein Chaos hinterließ!
In der anderen Ecke stand ein bequemer Sessel und ein kleiner Tisch. Auf diesem waren etliche Bücher fein säuberlich gestapelt. Ein offenes Heft war mit etlichen Notizen und Grafiken gefüllt. An der Wand dahinter hingen lauter kleine Bilderrahmen. Waren da... Briefmarken eingerahmt...? Aus einem kleinen Schmuckkästchen unter dem Tisch lugten etliche Kämme und Bürsten hervor. Da es nur einen gab, der so sehr auf seine Haarpracht wert legte, musste es sich da wohl um
Isaacs Bereich handeln.
Der letzte Teil des Zimmers war ganz gewöhnlich eingerichtet. Keine persönlichen Gegenstände oder Ähnliches deuteten darauf hin, dass es wohl der von Tonia sein musste. Anscheinend hatte sie all ihre persönlichen Gegenstände in ihr Zimmer verfrachtet und dort unter Verschluss gestellt. Vielleicht hatte sie neben der Gerüchteküche ein peinliches Hobby, das sie sich preiszugeben nicht traute? Der Gedanke belustigte Nia irgendwie.
Ihr Blick fiel auf das Fenster, an dem ein Foto hing.
Es zeigte Tonia, Anita und Tanja, wie sie gerade in der 5. Klasse waren. Nias schluckte schwer. Was Katja für Nia war, waren die beiden für Tonia. Niemals würde sie ihr Ziel aufgeben - egal was für Strafen auf sie zukommen würden. Nichts hasste Nia mehr als Gewalt, aber für Katja würde sie das durchstehen.
"Ich bin bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen, solange ich nur Katja sehen kann!", sagte das Mädchen mit geballten Fäusten und Tonia pflichtete ihr bei. "Niemand von unseren Freunden weiß, wo wir gerade sind und wie es uns geht. Vielleicht sucht schon die Polizei mit einem Großgebot nach uns!"
"Als würde dich Besen überhaupt irgendjemand suchen!", flüsterte Akuma, doch Tonia hatte es vernommen. Mit einem Satz warf sie wie ein Greifvogel über ihre Beute. Isaac ging schnell dazwischen. "Wartet doch! Wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, werden wir das nicht schaffen!"
"Wir werden es auch so nicht schaffen.", grummelte Cedric mit verschränkten Armen.
"Du bist immer so ein Pessimist, Cedric!", schmollte Nia mit geblähten Backen. Warum unterstützt du mich nicht auch mal zur Abwechslung?"
~*~
Seit dem Vorfall war kein Tag vergangen, an dem er nicht daran dachte. Ihre weichen, geschmeidigen und heißen Lippen und der betörende Duft ihrer Haare. Jene Haare, die er wie Seide zwischen seinen Fingern gespürt hatte.
Schon immer hatte Cedric seine Augen auf Nia gerichtet gehabt, auch wenn sie sich nicht an ihn erinnern konnte. Stets hatte er sie im Schatten still beobachtet und bewahrt. Dabei fiel ihm immer und immer mehr auf, wie aufrichtig, ehrlich und warmherzig seine Mitschülerin war. Egal, welchen Widrigkeiten sie ausgesetzt war und wie sehr sie das auch einschüchterte, sie war niemals weggelaufen und hatte sich versteckt. An ihrer Stelle hätte er sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen, doch...
Nicht Nia. Nia stumpfte nicht ab. Nia wurde nicht kalt. Nia floh nicht. Nia war schüchtern und ängstlich, ja. Aber sie hatte stets ein Lächeln auf den Lippen und war für ihre beste Freundin da. Cedric konnte sich nur ausmalen, wie viel Unterstützung und Motivation es einer ambitionierten Musikerin gab, wenn man Jemanden wie Nia an seiner Seite wusste. Zurückhaltend und im Hintergrund, aber immer für einen da. Und mit Sicherheit hatte Nia immer die richtigen, aufbauenden Worte für Katja übrig, wenn es ihr einmal nicht so gut gehen sollte. Nicht, dass Katja diese Seite jemals offen gezeigt hätte, aber... Nia hat Katja mindestens genauso viel Stärke gegeben wie umgekehrt. Wie sonst könnte so ein unzerreißbares, starkes Band entstanden sein?Seit dem Vorfall war kein Tag vergangen, an dem er nicht daran dachte. Ihre verschreckten, tränengefüllten Augen und die blanke Angst. Jene Angst, die man bei Tieren beobachten konnte, die kein Entkommen mehr für möglich hielten.
Cedric knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste in den Hosentaschen. Er wollte Nia nicht verletzen. Er wollte ihr auch keine Angst einjagen. Am liebsten würde er sie an einen sicheren Ort bringen, wo sie glücklich werden konnte... An diesem Tag hatte er sich geschworen, Nia nie wieder anzurühren. Ganz egal, was für Wellen seine
Gefühle in seinem innersten schlugen. Nicht mehr anrühren, bewahren und... unterstützen. Sie war bereits auf ihre eigene Art und Weise stark, aber... Sie war immer noch eine Knospe, die sich nicht traute, wirklich zu erblühen. Doch als er Nia heute mit Tonia gesehen hatte... Da schien es, das alles anders werden würde. Das Opfer und die Mobberin in einem Boot, von ihr selbst initiiert? Zeugte das nicht davon, dass Nia bereits stärker geworden war? Und nun bat sie auch noch ihn um Hilfe. Nicht Salvatore Zefalus, sondern ihn! Natürlich würde es ohne den eingebildeten Schnösel nicht funktionieren, aber... Beim Gedanken daran, dass sich Nia auf ihn verließ, wurde ihm warm ums Herz. Viel zu warm für seinen Geschmack.
"Ich brauche deine Hilfe, Salvatore Zefalus.", sagte er ausdruckslos zu seinem Feind. "Du musst für Nia eine Nachricht übermitteln."
Der Huan saß in seinem Zimmer und verspeiste gerade ein Schinkenbrot mit... einer braunen Creme, die Cedric nicht zuordnen konnte. Schnell schob er den Teller außer
Sichtweite.
"Wie komme ich zu der zweifelhaften Ehre, von meinem Lieblingsmitstreiter um so einen Gefallen gebeten zu werden?", lächelte Salvatore zynisch.
"Nia möchte Katja wiedersehen und Tonia möchte Tanja wiedersehen.", antwortete Cedric steif.
Der dunkelhäutige Huan stockte. "Sie möchten... aus der Erselik-Schule ausbrechen?" Der Blonde nickte stumm und bierernst. Ein missbilligendes Lachen entfleuchte Salvatore. "Das ist ganz und gar unmöglich! Wisst ihr denn alle nicht, was für Strafen da beim bloßen Versuch auf uns zukommen würden? Nichts wird so gut bewacht wie diese Schule! Wir sind ein Top Secret Internat, in denen Neobiowaffen getestet werden! Sie können doch nicht ernsthaft glauben...?"
"Doch, genau das tun sie. Sie haben sich die Köpfe heiß geredet und sich reingesteigert. Nur Isaac und ich haben sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen können. Ich habe sie überzeugt, dass du zumindest eine Nachricht an Katja und Tanja schicken kannst..."
Salvatore faltete die Hände zusammen. "Und wie um alles in der Welt soll ich das anstellen? Ich bin schließlich keine Brieftaube..."
Cedric hob die Augenbrauen. "Jetzt schon."
~*~
Es war bereits tiefste Nacht, als sich eine kleine Gruppe von Schülern draußen im Dickicht traf. Tonia und Akuma stritten in gedämpfter Lautstärke und Isaac hatte es aufgegeben, sie davon abzuhalten. Seine Kapazitäten für den heutigen Tag waren schon lange erschöpft. Salvatore und Cedric schwiegen sich wie immer an und Nia befand sich wortwörtlich zwischen den Fronten. "Ich halte das immer noch für eine sehr ungeschickte Idee.", meinte Nias Schwarm behutsam und mit gequältem Lächeln.
Alle Gespräche erstarben und waren gespannt auf ihre Reaktion.
"Ich weiß, dass ich etwas Schreckliches von dir verlange, Salvatore.", setzte Nia an und nahm dabei seine Hände in die ihre. Cedric schnaubte. "Aber du bist unsere letzte Hoffnung. Du bist der einzige Huan, der fliegen kann... Ich vertraue dir und weiß, dass man sich auf dich verlassen kann. Weder Tonia noch ich wollen, dass Tanja und Katja im Unklaren über unseren Aufenthaltsort und unseren Gesundheitszustand gelassen werden. Darum... Darum bitte ich dich, mir... nein... uns diesen sehr egoistischen Wunsch zu erfüllen, wenn wir es schon nicht schaffen, sie selber zu sehen!"
Salvatore staunte nicht schlecht über den emotionalen Wortschwall seines Rulers. Da musste sich erstaunlich viel angestaut haben, wenn sie so aus sich herausging! Er seufzte und kratzte sich den Nacken.
"Also gut... Ich werde es zumindest versuchen. Aber seid bitte nicht enttäuscht, falls es nicht funktionieren sollte.", gab Salvatore den bettelnden Blicken der beiden Ruler nach. Nia strahlte. "Ohhhh, Dankeschön, Salvatore! Ich wusste, dass du uns nicht im Stich lassen würdest! Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll...!"
"Jetzt bleib mal auf dem Boden, noch hat er die Briefe nicht abgeliefert.", katapultierte Isaac alle Beteiligten wieder in die Realität zurück.
"Versuch macht klug.", konterte Akuma und Isaac riss die Augen weit auf.
"Oh du meine Güte! War das etwa ein guter, korrekt zitierter, intelligenter Konter von unserem Spatzenhirn? Das ich diesen Tag noch erleben dürfte...!" Theatralisch warf Isaac die Hände in die Luft. Nia hatte ihren Blick nicht von Salvatores eisernem Lächeln abgewandt. "Ich wäre soweit.", sagte er aufmunternd zu ihr und sie nickte. Sie holte tief Luft. "Salvatore - connect!"
Nia bekam Gänsehaut, als sie in der Dunkelheit die schemenhafte Verwandlung sah. Wie schnell sich die Knochen streckten und stauchten! Wie sich die Muskeln dem neuen Körperbau anpassten und einzelne Organe sich komplett verformten...! Ob sie sich wohl jemals an diesen Anblick gewöhnen konnte? Wahrscheinlich nicht, schließlich war es ein echtes Wunder der Natur!
Der Weißkopfseeadler raschelte mit seinen Flügeln, als wäre es eine Aufforderung an Tonia und Nia. Beide überreichtem ihm ihren Brief, der so viele wichtige Informationen und angestaute Gefühle enthielt. Hoffentlich würde alles gutgehen! Dieses Stoßgebet sendete das schwarzhaarige Mädchen gen Himmel. Den Gedanken an die Strafen hatte sie zwar bisher verdrängt und als unwichtig abgetan, aber dennoch war ihr leicht mulmig zumute. Andererseits: Wer sollte sie bitte schon mitten in der Nacht aufspüren und zur Rechenschaft ziehen können?
Mit einer geschmeidigen Bewegung hob der Greifvogel vom Boden ab und segelte Richtung Mauer. Nias Mund war staubtrocken und das Herz der Brünetten klopfte bis zum Hals. Sie konnten nicht wirklich etwas sehen... War er schon drüben? Die Sekunden schienen wie Ewigkeiten zu vergehen.
Plötzlich gab es einen lauten Knall.
Etwas ging in Flammen auf.
"Dann geht durch die Tür und verpisst euch!", wütete Akuma und Isaac flüsterte nur leise im Hintergrund: "Zweimal derselbe Witz ist nicht lustig..."
Tonia wirbelte zu Nia herum, die immer noch stocksteif im Sessel saß. Dennoch erwiderte sie ohne zögern den Blick der Gerüchteküchechefin. "Nur damit das klar ist...", sagte sie ganz ruhig und mit verschränkten Armen, "ich hasse dich aus tiefstem Herzen. Selbst, wenn wir gemeinsame Sache machen, wird sich das niemals ändern." "Der Feind meines Feindes ist mein Freund.", zitierte Nia entschlossen und entlockte damit Tonia ein höhnisches Grinsen. "Wow, wer hätte gedacht, dass du mal den Mumm
hast, mir direkt in die Augen zu sehen und so etwas zu sagen. Da hab ich dich wohl nicht genug kaputt gemacht..."
"Lasst das.", ging Isaac dazwischen. "Sowohl diese Streiterei als auch eure verrückten Pläne! Ihr könnt nicht von hier fliehen! Allein für den Versuch wird es schwere Strafen geben... Wollt ihr das wirklich?"
Nia war aufgestanden und beide sagten aus einem Mund: "Solange wir unsere Freunde wiedersehen können, ist uns jedes Mittel recht!" Isaac seufzte und schüttelte den Kopf. Die Mobberin und ihr Opfer rauften sich zusammen? Das konnte ja heiter werden!
~*~
"Ich habe schon jeden erdenklichen Winkel draußen an der Mauer abgesucht. Es gibt keine Tür, kein Tor und kein Loch, durch das man hindurchschlüpfen könnte.", erklärte
Tonia, während sie am Tee nippte. Sie verzog das Gesicht. "Wer hat das denn zusammengebraut?" Als Isaac seine Hand hob, ging Tonia zur Spüle und schüttete das Gesöff weg. Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, setzte sie sich wieder.
"Aber wir sind ja durch einen Tunnel in die Schule gekommen. Da bringt es wenig, wenn wir die Außenmauern untersuchen.", wandte Nia ein. "Ich bin in einem ellipsenförmigen Raum angekommen... Dort müsste auch die Tür zu finden sein."
"Meinst du nicht, das wäre ein wenig zu einfach? Ich kann mir kaum vorstellen, dass dieser Gang nicht bewacht oder versiegelt ist.", warf die Brünette dazwischen. Gedankenverloren starrten sie auf die selbst gezeichnete Karte.
"Es wäre zumindest einen Versuch wert, diesen Gang zu finden und auszukundschaften. Wir dürfen keine Chance ungenutzt lassen, wenn wir hier wirklich rauskommen wollen.", meinte das schwarzhaarige Mädchen sachlich. "Was, wenn die Lösung des Rätsels ganz einfach wäre und wir uns den Kopf darüber zerbrechen?" Es widerstrebte Tonia das zuzugeben, aber Nia hatte recht. Sie mussten diesen Gang ausfindig machen und darauf hoffen, dass es einfach klappte.
~*~
"Warum zur Hölle musste ich mitkommen?!", fauchte Akuma, der am liebsten weiter Chips gefuttert und auf der Couch gegammelt hätte. Auch Isaac war im Schlepptau, der alle drei Meter einen herzzerreißenden Seufzer ausstieß. Das Ganze gefiel ihm ganz und gar nicht! Alle seine Alarmglocken schrillten, doch seine Worte stießen nur auf taube Ohren.
"Wir brauchen Jemanden, auf den wir die Schuld schieben können, falls etwas passiert.", antwortete Tonia ganz nebensächlich. Akuma drehte sich wütend zu ihr. "Du hast mich als Sündenbock mitgenommen?! Hast du nen Knall?!"
"Für Jemanden, der nicht mal sein Hemd richtig zuknöpfen kann, riskierst du ne ziemlich dicke Lippe!"
"Und einen offenen Hosenstall hat...", fügte Isaac beiläufig hinzu.
Akuma schnaubte und wurde rot. Nia konnte nicht sagen, ob es vor Scham oder Wut war, aber er schloss zumindest den Reißverschluss seiner Hose. Schnell schaute sie zur Seite. Wie konnte man nur so herumliegen? Es war dem jungen Mädchen ein Rätsel.
Das ungewöhnliche Quartett eilte durch die Gänge der Erselik-Schule, die ihnen inzwischen schon vertraut waren. Es war erstaunlich, wie schnell sie sich an ihr neues Zuhause gewöhnt hatten, auch wenn sie sich innerlich dagegen wehrten. Sie waren einfach zu schnell aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen worden. Die sonst so teilnahmslose und hochnäsige Tonia schaute überall umher, als würde gleich aus dem Nichts eine Tür auftauchen. Das Auffinden des ellipsenförmigen Raums war kein
Problem, immerhin handelte es sich um die Haupthalle, von der aus man sowohl in die Schulkantine, als auch in die Klassenzimmer oder Appartements gelangen konnte.
"Hier muss es gewesen sein...", murmelte Nia und betastete die Wand.
"Lass mich auch mal!", schnaubte Tonia und schubste sie zur Seite. Die Wand war meisterhaft verputzt. Das Weiß strahlte im Licht des Kronleuchters. Einige verwunderte Blicke wurden ihnen von Mitschülern hinterhergeworfen, doch niemand wagte es, Tonia anzusprechen. Schon gar nicht, wenn das "explosive Duo" Akuma und Tonia zusammen auftraten! Die Mauer war makellos. Es gab keine Risse, keine Fugen und keine Unebenheiten. Wütend hämmerte Tonia gegen die Wand.
"Das hört sich nicht hohl an...", knurrte die Brünette. Ein leiser Seitenkommentar von Isaac ging leider unter. "Anders als der Kopf von gewissen Leuten..."
Tonia ging einen Schritt auf Nia zu. "Bist du sicher, dass es dieser Raum war?" Nia nickte. "Du bist doch ebenfalls durch den Gang hierher gelangt, oder etwa nicht?"
Die Angesprochene nickte zögerlich. "Die Erinnerung daran ist sehr verschwommen, als wäre es schon viele Jahre her... Oder als wäre ich in einer Art Trance gewesen,
aber ja... Das müsste die Stelle gewesen sein! Und dennoch sehen wir nichts! Das ist die reinste Zeitverschwendung!" Ihre Stimme wurde immer lauter.
"Was wird hier gespielt?", ertönte eine wuterstickte Stimme hinter ihnen. Nia musste sich nicht einmal umdrehen um zu wissen, wer es war.
Cedric Urs.
"Auch noch der Ceddybär...", seufzte Akuma und Isaac gab ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf, der ihn zum Schweigen brachte.
"Ich habe gefragt, was hier gespielt wird!", er ging schnurstraks zu Nia und stellte sich vor sie. Tonia war das Mädchen, welches Nia gemobbt und gedemütigt hatte. Das
Mädchen, das die Schlägerei im Bad angeordnet hatte und Nia ihre geliebten Haare abschneiden wollte! Sämtliche Muskeln des jungen Mannes waren gespannt und sein Kiefer malmte bedrohlich.
Tonia schnaubte verächtlich.
"E-Es ist nicht so, wie du denkst!", stieß Nia aus und positionierte sich vor Tonia. Ohne zu zögern nahm sie seine Hände. Cedric zuckte zusammen und sein Gesichtsausdruck wurde für eine Sekunde ganz weich. Ruckartig riss er seine Arme nach oben und drehte sich weg. Seine Ohren waren flammend rot.
"Oh la la!", stieß Isaac aus und Akuma ergänzte singend: "Das muss Liebe sein!"
"Seid still, ihr Würmer!", fauchte Cedric, doch die Beiden blieben unbeeindruckt. "Ihr macht gemeinsame Sache? Willst du mich auf den Arm nehmen, Nia? Sie... Sie ist...!"
"Die Person, die mich gemobbt hat und vor der ich riesige Angst habe.", beendete Nia den Satz. Sie atmete tief ein, bevor sie den nächsten Satz aussprach. "Aber Angst bringt mich nicht weiter. Angst behindert mich und macht mich schwach."
~*~
Nun war auch Cedric in den Gemächern des seltsamen Trios. Nia hatte ihn über die Lage und ihre Pläne aufgeklärt.
"Ich kann das gut verstehen, Nia.", begann er einfühlsam, "Aber ich sehe das genauso wie Isaac. Hier herauszukommen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst wenn es uns gelingen sollte, wird man uns in kürzester Zeit schnappen und massiv bestrafen. Und damit meine ich nicht so etwas wie Nachsitzen oder einen Aufsatz über schlechtes Benehmen zu schreiben... Ich meine körperliche Züchtigung, Folterungen und auch Psychospiele."
Isaac und Cedric sahen sehr ernst drein. Beide schienen zu wissen, wovon sie sprachen.
"Seid... Habt ihr schon mal versucht, auszubrechen?", fragte Tonia interessiert. Ihr schien die Reaktion der ungleichen Huans nicht entgangen zu sein. Sie wechselten Blicke miteinander. Isaac fuhr sich mit den Fingern durch den Pony.
"Sagen wir es so... Nicht hier... Aber bei anderen... Institutionen haben wir die Regeln auf die harte Tour gelernt.", antwortete er sehr schwammig und ausweichend. Eine unangenehme Stille trat ein. Sogar Nia merkte, dass aus ihnen nicht mehr herauszukriegen war.
Zum ersten Mal ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Es war deutlich erkennbar, dass der Raum in drei Bereiche eingeteilt war. Ein Tape auf dem Boden markierte die Grenzen. Eine der drei Seiten war total verwüstet und voller Krümel verschiedener Chips-Sorten und einigen Colaflecken. Überall lagen verteilt lieblos hingeworfene Magazine, einige Ringe und Nietenarmbänder. Ein Pali-Tuch diente als Gardine, neben der eine halbverdorrte Venusfliegenfalle stand. Einige Computerteile lagen auf einem kleinen Tisch. Nia fehlte das Fachwissen um sagen zu können, um was es sich genau dabei handelte. Ein großer Wäscheberg aus allerlei unterschiedlich kariert-gemusterten Jacken rundete das Gesamtbild ab. Das war zweifelsohne Akumas Eck. Sie konnte sich nur ausmalen, wie krass es in seinem eigenen Zimmer aussehen musste, wenn er hier schon so ein Chaos hinterließ!
In der anderen Ecke stand ein bequemer Sessel und ein kleiner Tisch. Auf diesem waren etliche Bücher fein säuberlich gestapelt. Ein offenes Heft war mit etlichen Notizen und Grafiken gefüllt. An der Wand dahinter hingen lauter kleine Bilderrahmen. Waren da... Briefmarken eingerahmt...? Aus einem kleinen Schmuckkästchen unter dem Tisch lugten etliche Kämme und Bürsten hervor. Da es nur einen gab, der so sehr auf seine Haarpracht wert legte, musste es sich da wohl um
Isaacs Bereich handeln.
Der letzte Teil des Zimmers war ganz gewöhnlich eingerichtet. Keine persönlichen Gegenstände oder Ähnliches deuteten darauf hin, dass es wohl der von Tonia sein musste. Anscheinend hatte sie all ihre persönlichen Gegenstände in ihr Zimmer verfrachtet und dort unter Verschluss gestellt. Vielleicht hatte sie neben der Gerüchteküche ein peinliches Hobby, das sie sich preiszugeben nicht traute? Der Gedanke belustigte Nia irgendwie.
Ihr Blick fiel auf das Fenster, an dem ein Foto hing.
Es zeigte Tonia, Anita und Tanja, wie sie gerade in der 5. Klasse waren. Nias schluckte schwer. Was Katja für Nia war, waren die beiden für Tonia. Niemals würde sie ihr Ziel aufgeben - egal was für Strafen auf sie zukommen würden. Nichts hasste Nia mehr als Gewalt, aber für Katja würde sie das durchstehen.
"Ich bin bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen, solange ich nur Katja sehen kann!", sagte das Mädchen mit geballten Fäusten und Tonia pflichtete ihr bei. "Niemand von unseren Freunden weiß, wo wir gerade sind und wie es uns geht. Vielleicht sucht schon die Polizei mit einem Großgebot nach uns!"
"Als würde dich Besen überhaupt irgendjemand suchen!", flüsterte Akuma, doch Tonia hatte es vernommen. Mit einem Satz warf sie wie ein Greifvogel über ihre Beute. Isaac ging schnell dazwischen. "Wartet doch! Wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, werden wir das nicht schaffen!"
"Wir werden es auch so nicht schaffen.", grummelte Cedric mit verschränkten Armen.
"Du bist immer so ein Pessimist, Cedric!", schmollte Nia mit geblähten Backen. Warum unterstützt du mich nicht auch mal zur Abwechslung?"
~*~
Seit dem Vorfall war kein Tag vergangen, an dem er nicht daran dachte. Ihre weichen, geschmeidigen und heißen Lippen und der betörende Duft ihrer Haare. Jene Haare, die er wie Seide zwischen seinen Fingern gespürt hatte.
Schon immer hatte Cedric seine Augen auf Nia gerichtet gehabt, auch wenn sie sich nicht an ihn erinnern konnte. Stets hatte er sie im Schatten still beobachtet und bewahrt. Dabei fiel ihm immer und immer mehr auf, wie aufrichtig, ehrlich und warmherzig seine Mitschülerin war. Egal, welchen Widrigkeiten sie ausgesetzt war und wie sehr sie das auch einschüchterte, sie war niemals weggelaufen und hatte sich versteckt. An ihrer Stelle hätte er sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen, doch...
Nicht Nia. Nia stumpfte nicht ab. Nia wurde nicht kalt. Nia floh nicht. Nia war schüchtern und ängstlich, ja. Aber sie hatte stets ein Lächeln auf den Lippen und war für ihre beste Freundin da. Cedric konnte sich nur ausmalen, wie viel Unterstützung und Motivation es einer ambitionierten Musikerin gab, wenn man Jemanden wie Nia an seiner Seite wusste. Zurückhaltend und im Hintergrund, aber immer für einen da. Und mit Sicherheit hatte Nia immer die richtigen, aufbauenden Worte für Katja übrig, wenn es ihr einmal nicht so gut gehen sollte. Nicht, dass Katja diese Seite jemals offen gezeigt hätte, aber... Nia hat Katja mindestens genauso viel Stärke gegeben wie umgekehrt. Wie sonst könnte so ein unzerreißbares, starkes Band entstanden sein?Seit dem Vorfall war kein Tag vergangen, an dem er nicht daran dachte. Ihre verschreckten, tränengefüllten Augen und die blanke Angst. Jene Angst, die man bei Tieren beobachten konnte, die kein Entkommen mehr für möglich hielten.
Cedric knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste in den Hosentaschen. Er wollte Nia nicht verletzen. Er wollte ihr auch keine Angst einjagen. Am liebsten würde er sie an einen sicheren Ort bringen, wo sie glücklich werden konnte... An diesem Tag hatte er sich geschworen, Nia nie wieder anzurühren. Ganz egal, was für Wellen seine
Gefühle in seinem innersten schlugen. Nicht mehr anrühren, bewahren und... unterstützen. Sie war bereits auf ihre eigene Art und Weise stark, aber... Sie war immer noch eine Knospe, die sich nicht traute, wirklich zu erblühen. Doch als er Nia heute mit Tonia gesehen hatte... Da schien es, das alles anders werden würde. Das Opfer und die Mobberin in einem Boot, von ihr selbst initiiert? Zeugte das nicht davon, dass Nia bereits stärker geworden war? Und nun bat sie auch noch ihn um Hilfe. Nicht Salvatore Zefalus, sondern ihn! Natürlich würde es ohne den eingebildeten Schnösel nicht funktionieren, aber... Beim Gedanken daran, dass sich Nia auf ihn verließ, wurde ihm warm ums Herz. Viel zu warm für seinen Geschmack.
"Ich brauche deine Hilfe, Salvatore Zefalus.", sagte er ausdruckslos zu seinem Feind. "Du musst für Nia eine Nachricht übermitteln."
Der Huan saß in seinem Zimmer und verspeiste gerade ein Schinkenbrot mit... einer braunen Creme, die Cedric nicht zuordnen konnte. Schnell schob er den Teller außer
Sichtweite.
"Wie komme ich zu der zweifelhaften Ehre, von meinem Lieblingsmitstreiter um so einen Gefallen gebeten zu werden?", lächelte Salvatore zynisch.
"Nia möchte Katja wiedersehen und Tonia möchte Tanja wiedersehen.", antwortete Cedric steif.
Der dunkelhäutige Huan stockte. "Sie möchten... aus der Erselik-Schule ausbrechen?" Der Blonde nickte stumm und bierernst. Ein missbilligendes Lachen entfleuchte Salvatore. "Das ist ganz und gar unmöglich! Wisst ihr denn alle nicht, was für Strafen da beim bloßen Versuch auf uns zukommen würden? Nichts wird so gut bewacht wie diese Schule! Wir sind ein Top Secret Internat, in denen Neobiowaffen getestet werden! Sie können doch nicht ernsthaft glauben...?"
"Doch, genau das tun sie. Sie haben sich die Köpfe heiß geredet und sich reingesteigert. Nur Isaac und ich haben sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen können. Ich habe sie überzeugt, dass du zumindest eine Nachricht an Katja und Tanja schicken kannst..."
Salvatore faltete die Hände zusammen. "Und wie um alles in der Welt soll ich das anstellen? Ich bin schließlich keine Brieftaube..."
Cedric hob die Augenbrauen. "Jetzt schon."
~*~
Es war bereits tiefste Nacht, als sich eine kleine Gruppe von Schülern draußen im Dickicht traf. Tonia und Akuma stritten in gedämpfter Lautstärke und Isaac hatte es aufgegeben, sie davon abzuhalten. Seine Kapazitäten für den heutigen Tag waren schon lange erschöpft. Salvatore und Cedric schwiegen sich wie immer an und Nia befand sich wortwörtlich zwischen den Fronten. "Ich halte das immer noch für eine sehr ungeschickte Idee.", meinte Nias Schwarm behutsam und mit gequältem Lächeln.
Alle Gespräche erstarben und waren gespannt auf ihre Reaktion.
"Ich weiß, dass ich etwas Schreckliches von dir verlange, Salvatore.", setzte Nia an und nahm dabei seine Hände in die ihre. Cedric schnaubte. "Aber du bist unsere letzte Hoffnung. Du bist der einzige Huan, der fliegen kann... Ich vertraue dir und weiß, dass man sich auf dich verlassen kann. Weder Tonia noch ich wollen, dass Tanja und Katja im Unklaren über unseren Aufenthaltsort und unseren Gesundheitszustand gelassen werden. Darum... Darum bitte ich dich, mir... nein... uns diesen sehr egoistischen Wunsch zu erfüllen, wenn wir es schon nicht schaffen, sie selber zu sehen!"
Salvatore staunte nicht schlecht über den emotionalen Wortschwall seines Rulers. Da musste sich erstaunlich viel angestaut haben, wenn sie so aus sich herausging! Er seufzte und kratzte sich den Nacken.
"Also gut... Ich werde es zumindest versuchen. Aber seid bitte nicht enttäuscht, falls es nicht funktionieren sollte.", gab Salvatore den bettelnden Blicken der beiden Ruler nach. Nia strahlte. "Ohhhh, Dankeschön, Salvatore! Ich wusste, dass du uns nicht im Stich lassen würdest! Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll...!"
"Jetzt bleib mal auf dem Boden, noch hat er die Briefe nicht abgeliefert.", katapultierte Isaac alle Beteiligten wieder in die Realität zurück.
"Versuch macht klug.", konterte Akuma und Isaac riss die Augen weit auf.
"Oh du meine Güte! War das etwa ein guter, korrekt zitierter, intelligenter Konter von unserem Spatzenhirn? Das ich diesen Tag noch erleben dürfte...!" Theatralisch warf Isaac die Hände in die Luft. Nia hatte ihren Blick nicht von Salvatores eisernem Lächeln abgewandt. "Ich wäre soweit.", sagte er aufmunternd zu ihr und sie nickte. Sie holte tief Luft. "Salvatore - connect!"
Nia bekam Gänsehaut, als sie in der Dunkelheit die schemenhafte Verwandlung sah. Wie schnell sich die Knochen streckten und stauchten! Wie sich die Muskeln dem neuen Körperbau anpassten und einzelne Organe sich komplett verformten...! Ob sie sich wohl jemals an diesen Anblick gewöhnen konnte? Wahrscheinlich nicht, schließlich war es ein echtes Wunder der Natur!
Der Weißkopfseeadler raschelte mit seinen Flügeln, als wäre es eine Aufforderung an Tonia und Nia. Beide überreichtem ihm ihren Brief, der so viele wichtige Informationen und angestaute Gefühle enthielt. Hoffentlich würde alles gutgehen! Dieses Stoßgebet sendete das schwarzhaarige Mädchen gen Himmel. Den Gedanken an die Strafen hatte sie zwar bisher verdrängt und als unwichtig abgetan, aber dennoch war ihr leicht mulmig zumute. Andererseits: Wer sollte sie bitte schon mitten in der Nacht aufspüren und zur Rechenschaft ziehen können?
Mit einer geschmeidigen Bewegung hob der Greifvogel vom Boden ab und segelte Richtung Mauer. Nias Mund war staubtrocken und das Herz der Brünetten klopfte bis zum Hals. Sie konnten nicht wirklich etwas sehen... War er schon drüben? Die Sekunden schienen wie Ewigkeiten zu vergehen.
Plötzlich gab es einen lauten Knall.
Etwas ging in Flammen auf.