Kapitel 22: Don't you Dare to give up on this Life
Eine zarte Melodie drang durch die geschlossene Tür. Sie war sanft, melancholisch und klang wie eine Seifenblase: Wunderschön und doch so zerbrechlich. Tanja klopfte und das Lied erstarb. Eine Schülerin mit zerzausten, braunen, lockigen Haaren im Schlafanzug und mit Geige bewaffnet öffnete ihr die Tür.
~*~
Wer glaubte, dass sich Katja und Tanja von den letzten Vorfällen entmutigen ließen lassen, lag vollkommen falsch. Vielmehr fühlten sich die beiden Absolventinnen in ihrer Annahme bestärkt. So viele Zufälle konnte es einfach nicht auf einmal geben! Die richtige Suche fing also gerade erst an.
Katja goss sich einen Kakao auf. "Du möchtest wahrscheinlich eher einen Tee ohne Zucker, oder?" Tanja nickte und verfrachtete geflissentlich einen Berg Notenblätter vom Bett auf den vollen Tisch.
"Ich kann es nicht glauben, dass der Rektor uns mit solchen Lügen abgespeist hat!", meckerte Tanja und betrachtete ihre Nägel. War da schon wieder Lack abgegangen, obwohl sie die Nägel erst frisch lackiert hatte? Die Nagellacke hielten auch wirklich nie das, was sie versprachen!
"Es ist unfassbar, dass man uns zu "mündigen, selbstständig denkenden Bürgern" erziehen will, nur um uns sogleich einen Haufen Lügen aufzutischen!", pflichtete Katja ihr bei und setzte sich zu ihr. "Wir brauchen einen Plan B und ich hab schon einige gute Einfälle."
Tanja grinste verschmitzt. "Deine hässlichen Augenringe lassen darauf schließen, dass du letzte Nacht kein Auge zugetan hast!"
"Das Kompliment kann ich nur zurückgeben."
Tanja grunzte. Nichts hasste sie mehr, als auf ihr nicht perfektes Äußeres angesprochen zu werden. "Meine Idee war, dass wir den ganzen Campus durchkämmen. Es gibt ja nur einen Kindergarten, eine Grundschule, eine Hauptschule, eine Realschule, ein Gymnasium und mehrere Fakultäten der Uni sowie die kleine Innenstadt und all die dazugehörigen Wohnheime. Mit dem Ausschlussverfahren dürfte es kein Problem sein, sie dingfest zu machen!", erörterte die Blonde. Katja schien nicht überzeugt. "Wenn es nach dem Ausschlussverfahren ginge, wären beide im Wohnheim oder in der Schule, um noch Organisatorisches zu klären. Aber beides ist nicht der Fall... Und ich wage zu bezweifeln, dass sie sich beim Gymnasium angemeldet oder sich eine Wohnung in der Innenstadt genommen haben. Das alles passt zeitlich und vom Charakter her überhaupt nicht zusammen. Warum sollten sie Hals über Kopf "wegfahren", wenn man dem Direx glauben schenken will? Nein, so einfach ist das nicht und außerdem würde es unendlich viel Zeit kosten, alles bis auf den letzten Winkel zu durchkämmen! Diese Zeit haben wir nicht... Ich weiß zwar nicht, wo sich die Anderen alle befinden, aber ich habe kein gutes Gefühl dabei..." Tanjas Blutdruck stieg. So rundherum hat noch niemand einer ihrer Vorschläge abgewiesen! Allerdings musste sie Katja leider in allen Punkten beipflichten. Ehrlich gesagt hatte sie auch keine große Lust, durch den ganzen Campus zu stiefeln und nach vermissten Personen Ausschau zu halten. Zumal die Suche laut Polizei eingestellt worden war. Sehr mysteriös... Als hätten sie einen Anruf bekommen, dass alles in Ordnung sei und sich nur um einen Abschlussstreich handeln würde! Allein bei dem Gedanken wollte Tanja etwas durchs geschlossene Fenster werfen.
"Schieß los.", forderte sie die Brünette barsch zum Reden auf und verschränkte die Arme.
"Wir werden heute zu den Pförtnern des Campus gehen. Jeder Schüler, der diesen Campus verlässt, muss durch eines dieser Tore. Derjenige muss sich abmelden und wird im System registriert. Wenn wir also die Information bekommen, dass einer der angeblich Ausgeflogenen sich noch auf dem Campus befindet..."
"... dann haben wir den ultimativen Gegenbeweis und können das dem blöden Rektor um die Ohren hauen!", beendete Tanja den Satz enthusiastisch und mit geballten Fäusten. Ihre künstlichen Fingernägel bohrten sich tief in ihr Fleisch, aber das störte sie herzlich wenig.
Katja lächelte gequält. "Der blöde Rektor ist nicht unser Hauptziel. Der wird früher oder später merken, dass man uns nicht so einfach aufs Glatteis führen kann..."
~*~
"Guten Tag!", begrüßte Katja den Pförtner voller Wärme und Freundlichkeit in der Stimme. Ihr strahlendes, offenes Lächeln war eine wahre Wunderwaffe.
"Guten Tag Frau Müller!", antwortete der Mann fröhlich zurück. Auf dem Campus gab es viele, die regelmäßig Katjas Konzerte besuchten oder sie zumindest vom Hörensagen kannten. "Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Oh, sie kennen mich? Das schmeichelt mir aber!", frohlockte die junge Geigenspielerin und zupfte verlegen an ihren Handschuhen. War das nicht viel zu heiß? Tanja hätte die Dinger bis in die Antarktis geworfen! "Ich hätte tatsächlich eine kleine Bitte..."
"Ich werde Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen!", sprudelte es aus dem Beamten hervor und zur Bestätigung klopfte er sich fest auf die Brust. Ein echter Mann eben, der Frau mit Rat und Tat zur Seite stehen wollte! Tanja verdrehte die Augen. Gab es immer so ein Affentheater, wenn Katja irgendwo aufkreuzte? Charisma hin oder her, das war ja kaum auszuhalten, wie der ihr Zucker in den...
"Es ist so", holte die Angesprochene aus und setzte einen traurigen Blick auf, "Meine Freundin Nia Toshiki wollte für ein paar Tage zurück nach Hause fahren und dann wieder zurück an den Campus kommen. Sie hat bald Geburtstag und ich wollte wissen, ob ich mir überhaupt die Mühe machen muss, eine Geburtstagsparty für sie zu organisieren oder nicht. Man feiert seinen 16. Geburtstag schließlich nur einmal im Leben und der soll etwas ganz Besonderes sein, meinen Sie nicht? Ich habe schon viel geplant und gekauft, aber ich möchte am Ende nicht mit lauter enttäuschten, wartenden Gästen dasitzen und vergeblich auf das Geburtstagskind warten... Ist es möglich, dass sie das im System nachsehen können? Nia ist leider nicht besonders reich, sodass sie kein eigenes Handy hat... Und ihre Festnetznummer habe ich leider auch nicht, da wir ja die ganze Zeit zusammen in der Schule waren und das überflüssig gewesen wäre...!"
Der Beamte nickte während der ganzen Erzählung. "Das wäre wirklich eine Verschwendung jugendlicher Energie und Elan, wenn das Geburstagskind nicht aufkreuzen sollte! Normalerweise müssen die Eltern angeben, zu welchem Datum das Kind wieder den Campus betritt. Schließlich muss man Geld für jeden einzelnen Tag hier bezahlen, das macht das ganze flexibel..."
Der Mann hakte und klickte am Computer herum. Katja und Tanja wechselten nervöse, aufgeregte Blicke. Dass es so einfach werden würde, den Mann davon zu überzeugen...! Das hätten sie sich im Traum nicht ausgemalt!
Der Mann in Uniform drückte auf Enter, als ein seltsamer Signalton ertönte. Er klang... Wie ein Alarm?
Er stockte.
Tanja hatte sich als erstes wieder gefangen. "Gibt es irgendwelche Probleme?"
Nervös befeuchtete er seine Lippen. "Nunja... ich... So gern ich Ihnen Auskunft geben möchte... Ich darf es leider nicht, das verletzt die Dienstvorschriften!"
"Aber warum das denn?", wollte Katja wissen. Das Adrenalin schoss in ihre Adern. Sie hatten nur diese eine Chance! Wenn er ihnen die Information nicht geben wollte... Was dann? Am liebsten hätte Katja...
Tanja handelte blitzschnell. Wer keine Informationen herausrückte, war ein Feind.
Mit einem Griff ihrer perfekt manikürten Hände packte sie den Mann am Kragen und schleuderte seinen Kopf mit aller Wucht gegen die Kante des Schreibtisches. Mit der anderen Hand zog sie Pfefferspray aus ihrer Hosentasche. Ohne mit der Wimper zu zucken machte Katja einen Satz nach vorne zum PC. Sie hatten nur diese eine Chance!
Sie stutzte. Eine rot umrandete Meldung blinkte.
KEINE AUSKUNFT ÜBER DEN VERBLEIB GEWISSER SCHÜLER UND SCHÜLERINNEN PREISGEBEN.
GEZ. P. SAMUI
Katja presste die Lippen zusammen und klickte die Meldung weg. Nias Profil war bereits aufgerufen und mit hektischen Blicken überflog sie die Informationen.
Größe... Gewicht... Augenfarbe... Haarfarbe... Geburtsort... Namen ihrer Eltern... Adresse... Telefonnummer... Notendurchschnitt... Sportliche Leistungen... Urkunden... In Windeseile riss sie ein Blatt Papier wahllos von einem Stapel und notierte sich Adresse und Telefonnummer.
"Was machst du da, Flötenspielerin?! Du sollst nur nachschauen, ob sie noch auf dem Campus ist oder nicht!", fauchte Tanja angespannt. "Der Typ könnte jeden Moment wieder zu Bewusstsein kommen!"
"Sei still! Das sind wichtige Informationen, falls die weitere Suche auf dem Campus ohne Erfolg bleiben sollte!"
Sie scrollte herunter. Es war eine Masse an Kontrollkästchen mit Häkchen. Club... Mensakarte... Nebenjob... Gebühr pünktlich zu Monatsanfang bezahlt... Bibliotheksausweis mit Unterpunkten zu entliehenen Medien... Waisenkind... Halbwaise... Erziehungsberechtigter sind nicht die leiblichen Eltern...
Mein Gott, die NSA konnte wohl kaum mehr Daten sammeln als dieses System! Vielleicht tauchte irgendwo noch die Schuhgröße auf? Katjas Blut kochte. Manche Dinge gingen die Leute einfach nichts an! Aber wo war die Information, ob sie sich noch auf dem Campus befand?!
Da!
"Campus"
Es hatte ein Häkchen!
~*~
"Ich kann nicht glauben, dass ich mir an diesem Scheißkerl ganze drei Nägel abgebrochen habe!", fluchte Tanja bitterböse vor sich hin. All die Mühen umsonst! Der leicht abgeblätterte Lack heute Morgen war bestimmt ein schlechtes Omen gewesen. "Von dieser Firma werde ich mir keine Nägel mehr kaufen und machen lassen!"
Katja beschwichtigte sie. "Na hör mal... Da steht bestimmt nicht im Kleingedruckten, dass du damit keine gestandenen Männer überwältigen sollst! Das sagt einem schon der normale, gesunde Menschenverstand, dass man sich dabei eventuell wehtun könnte...!"
Tanja hob arrogant die Nase in die Luft. "Ich weiß, dass du ihm am liebsten den Garaus gemacht hättest, aber dabei hättest du deine Finger verletzen können. Ich hab keine Lust, mich danach schuldig zu fühlen, also habe ich die Drecksarbeit gemacht."
"Na wenn das so ist, dann gehen die nächsten Nägel aufs Haus!", grinste Katja breit. "Du weißt genau, was ich hören will!", flötete die Blondine und meinte im beiläufigen Ton: "Ich wusste gar nicht, dass es bei denen Konzerten VIP-Tickets gibt...!"
"Jetzt schon!", antwortete sie ebenso beiläufig. Als kleine Entschädigung für die "Umstände" hatte Katja einen Zettel mit dem Versprechen auf ein VIP-Ticket hinterlassen. Damit konnte der Beamte auch in den Backstagebereich und kurz Smalltalk mit ihr machen. Außerdem durfte er in der ersten Reihe sitzen. Das war das Einzige, was ihr auf die Schnelle eingefallen war. Besser als nichts, oder?
Zurück in der Wohnung angekommen, machte sich Tanja auf dem Bett breit und betrauerte stumm ihre abgebrochenen Fingernägel. Katja wühlte in einem Stapel an Notenblättern und zog ein Blatt Papier heraus.
"Ich habe hier eine Karte vom Campus. Darin sind alle Schulen und Wohnheime eingetragen und auch die Innenstadt ist einigermaßen detailliert aufgezeichnet."
Der Campus war kreisförmig. In der Mitte befand sich das Verwaltungsgebäude, das von der kleinen Inntenstadt umringt war. Dort gab es das Nötigste für die Anwohner: Ein kleines Krankenhaus, eine Polizeistation, eine winzige Feuerwehr aber auch einen Supermarkt, einen Friseur, einen Schreibwarenladen, laut Tanja auch ein Schönheitssalon, eine Boutique, eine Eisdiele, einen Elektrofachhandel sowie eine Bibliothek und einen Sportladen. Außerdem gab es noch einen Schneider von der Schule, der unter anderem Uniformen verkaufte und bei Bedarf direkt anpassen konnte. Eigentlich hätte sich Katja mal wieder eine neue rote Schleife kaufen müssen, da ihre schon arg lädiert war... Aber das war nun nach dem Abschluss hinfällig. Alles Andere waren Wohnhäuser der Angestellten und Arbeitenden. Um den Innenstadtbereich waren abwechselnd die Sportplätze und die Wohnheime der Schüler aneinandergereiht. Die Sportplätze reichten von einem normalen Leichtathletikplatz über Fußball-, Volleyball- und Basketballplätzen. Die Mädchen- und Jungenwohnheime waren stets voneinander getrennt.
Im Uhrzeigersinn auf zwölf Uhr beginnend waren Kindergarten, Grundschule, Hauptschule, Realschule, dann das Gymnasium, eine extra Paukschule, ein Schwimmbad sowie fünf Fakultäten der Universität. Diese fächerte sich in die Bereiche Naturwissenschaften, Sprachwissenschaften, Sport, Musik und weitere Bereiche auf und bildete damit ein breites Spektrum an weiterführenden Möglichkeiten. Von jeder Institution führte eine Straße direkt in das Zentrum des Campus sowie eine Art Ringstraße, die kreisförmig alle Schulen miteinander verband. Zwischen den einzelnen Bereichen war oftmals Wald und neben dem Schwimmbad befand sich ein kleiner See, der um diese Zeit im Jahr vollkommen überlaufen war.
"Ich dachte mein Plan, alles abzusuchen war abgelehnt worden?", zickte Tanja, als sie sich die Ausmaße des Campus ansah. Man konnte zwar den kompletten Campus innerhalb von zwei Stunden zu Fuß durchqueren, aber das baute sie nicht gerade auf. Es war einfach viel zu groß und wo sollten sie anfangen?
"Ich habe gesagt, dass eine solche Suche ohne Hintergrundwissen unsinnig wäre.", korrigierte Katja. "Nun wissen wir ja, dass Nia und die Anderen noch hier sein müssen. Die Frage ist bloß: Wo?"
"Du hast nur schnell nachgesehen, ob Nia, Anita und Tonia noch da sind. Woher willst du wissen, ob das auch auf die restlichen Leute zutrifft?"
Katja lachte. "Überleg mal. Wenn von den ganzen angeblich "entlassenen" Personen zufällig schon drei doch noch auf dem Campus sind... Dann kann man getrost davon ausgehen, dass die dann auch noch da sind. Und überhaupt: Unser Antrieb ist die Suche nach unseren besten Freundinnen."
Die Blondine rümpfte die Nase. "Mag schon sein, dass wir jeden Stein auf dem Campus umdrehen werden, aber... wir sind nur zu zweit."
Katja grinste schelmisch. "Das meinst aber auch nur du!"
~*~
"Das sollte alle offenen Fragen beantwortet haben. Findet ihr einen der angeblich Ausgeflogenen, kontaktiert mich sofort via Smartphone! Falls der Empfang schlecht oder nicht vorhanden sein sollte, feuert ihr eine grüne Leuchtrakete ab! Geratet ihr in Schwierigkeiten oder gibt es ernsthafte Gefahr, feuert ihr ohne zu Zögern die rote Leuchtrakete! Vorbeugen ist besser als heilen und ich möchte keinen von euch verlieren.", ordnete Katja im sachlichen Ton an. Vor ihr standen sieben Gruppen mit jeweils fünf Personen. Tanja und ein weiterer Schüler standen neben ihr. Sie hatte nicht eine Sekunde gezögert und etliche noch dagebliebene Schüler und Schülerinnen zusammengetrommelt, um einen eigenen Suchtrupp zu starten. Wenn die Polizei beeinflusst wurde, Herr Samui Lügen verbreitete und auch sonst auf Niemanden verlass war, musste man die Dinge eben selbst in die Hand nehmen! Glücklicherweise stellte sich heraus, dass einer der Absolventen freiwillig bei der Feuerwehr gearbeitet hatte. Dieser wurde sofort beauftragt, so viele Leuchtraketen wie nur möglich herbeizuschaffen. Tanja verteilte gerade noch kleine Zettel, die Katja eiligst kopiert hatte, auf dem die soeben zusammengefassten Informationen nochmals notiert waren.
"Da es insgesamt 11 Fakultäten, etliche andere Gebäude, Wohnheime und Geschäfte sind, werden wir heute ganz sicher nicht fertig. Lasst euch nicht entmutigen, wenn wir heute nichts finden. Sucht lieber gründlich und genau, als eilig. Schließlich geht es darum, sehr gute Freunde wieder aufzufinden, die verschollen sind...!" Katja ging auf und ab. Immer wieder musste sie bewusst ihre Hände entspannen, um sie nicht wütend und entschlossen zusammenzuballen. "Heute Abend um 19 Uhr treffen wir uns wieder hier und machen eine Lagebesprechung. Bei aller Eile, mit der wir die Verschwundenen finden wollen..."
Katjas Stimme erstarb. "Bitte macht ausreichend Pausen und achtet auf euch. Wenn eure verschwundenen Freunde erfahren, dass euch etwas zugestoßen ist wegen ihnen, werden sie sich das niemals verzeihen!"
Damit schwärmten die Gruppen aus. Jeder war mit einer kleinen Provianttasche bewaffnet und hochkonzentriert. In jedem Gesicht war Anspannung, Ungewissheit, Entschlossenheit und... Kampfeswille. Jeder von ihnen hatte mindestens einen vermissten Freund oder Freundin und der Kummer hatte sie die letzten Tage regelrecht zerfressen. Nun hatten sie einen Hoffnungsschimmer, sie zu finden. Der Plan war kühn und gewagt, ja. Aber es war ihre einzige Hoffnung, da keiner von ihnen Kontakt zu den Anderen hatte aufnehmen können. Und lieber begaben sie sich auf eine aussichtslose Suche, anstatt untätig herumzusitzen und sich den Kopf zu zerbrechen. Untätigkeit hatte noch nie geholfen. Katja hatte sie über die aktuelle Lage aufgeklärt und kein Detail ausgelassen. Einige Jungs hatten gegröhlt und gepfiffen, als sie hörten, dass ausgerechnet die eingebildete, hochnäsige Tanja Suck ernsthaft einen Beamten ausgeknockt hatte. Sie wurde tiefrot und fluchte wie ein Rohrspatz. Scheinbar war sie es nicht gewohnt, wenn sie solche ehrliche Anerkennung erlangte. Katja sollte es gleich sein. Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
"Du bist der Knirps, der Miguel und Salvatore das letzte Mal gesehen hat, richtig?", begrüßte Katja schließlich auch ihr Teammitglied. Dieser zuckte beim Ansprechen zusammen und stotterte: "G-ganz genau! M-m-mein Name ist Mike!"
"Okay, Mike. Hör am besten ganz schnell damit auf, so zu stottern wie Nia Toshiki. Das treibt mich sonst noch in den Wahnsinn.", schnaubte Tanja und warf ihre Haare nach hinten. "Nicht jeder kann so ein arrogantes, fluchendes Gör sein wie du, Tanja Suck.", konterte Katja, die den Kleinen sofort sympathisch fand. Tanja kochte vor Wut. "Wer zum vermaledeiten Geier flucht hier bitteschön? Ich ganz bestimmt nicht, verdammte Scheiße!"
Mike und Katja wechselten vielsagende Blicke und fingen an zu lachen.
Tanja schnappte Mike am Ohr und flüsterte laut und vernehmlich: "Hast du vorhin nicht zugehört, was ich heute schon gemacht habe? Ich habe einen Erwachsenen niedergerungen! So eine halbe Portion wie dich verspeise ich zum Frühstück! Und mir macht es auch nichts aus, wenn ich noch ein paar künstliche Fingernägel verliere, da lass ichs drauf ankommen!"
Das Gezeter und Gefluche ging weiter, als sie sich in Bewegung setzten. Katja verharrte kurz und starrte in den stahlblauen Himmel.
Nia. Wo war sie? Wie ging es ihr? Warum war sie so urplötzlich verschwunden? Wer war dafür verantwortlich?
Fragen über Fragen, die Katja auf der Seele brannten. Sie wollte ihre beste Freundin wiedersehen. Um jeden Preis. Der erste Schritt war getan worden, jetzt hieß es beständig weiterarbeiten und nicht aufgeben.
"Nia... Warte auf mich. Katja ist auf dem Weg und holt dich da raus!", flüsterte sie und ein Luftstoß fuhr ihr durch die Haare. In Gedanken hoffte sie, dass der Wind ihrer besten Freundin diese Nachricht übermitteln würde.
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Wer glaubte, dass sich Katja und Tanja von den letzten Vorfällen entmutigen ließen lassen, lag vollkommen falsch. Vielmehr fühlten sich die beiden Absolventinnen in ihrer Annahme bestärkt. So viele Zufälle konnte es einfach nicht auf einmal geben! Die richtige Suche fing also gerade erst an.
Katja goss sich einen Kakao auf. "Du möchtest wahrscheinlich eher einen Tee ohne Zucker, oder?" Tanja nickte und verfrachtete geflissentlich einen Berg Notenblätter vom Bett auf den vollen Tisch.
"Ich kann es nicht glauben, dass der Rektor uns mit solchen Lügen abgespeist hat!", meckerte Tanja und betrachtete ihre Nägel. War da schon wieder Lack abgegangen, obwohl sie die Nägel erst frisch lackiert hatte? Die Nagellacke hielten auch wirklich nie das, was sie versprachen!
"Es ist unfassbar, dass man uns zu "mündigen, selbstständig denkenden Bürgern" erziehen will, nur um uns sogleich einen Haufen Lügen aufzutischen!", pflichtete Katja ihr bei und setzte sich zu ihr. "Wir brauchen einen Plan B und ich hab schon einige gute Einfälle."
Tanja grinste verschmitzt. "Deine hässlichen Augenringe lassen darauf schließen, dass du letzte Nacht kein Auge zugetan hast!"
"Das Kompliment kann ich nur zurückgeben."
Tanja grunzte. Nichts hasste sie mehr, als auf ihr nicht perfektes Äußeres angesprochen zu werden. "Meine Idee war, dass wir den ganzen Campus durchkämmen. Es gibt ja nur einen Kindergarten, eine Grundschule, eine Hauptschule, eine Realschule, ein Gymnasium und mehrere Fakultäten der Uni sowie die kleine Innenstadt und all die dazugehörigen Wohnheime. Mit dem Ausschlussverfahren dürfte es kein Problem sein, sie dingfest zu machen!", erörterte die Blonde. Katja schien nicht überzeugt. "Wenn es nach dem Ausschlussverfahren ginge, wären beide im Wohnheim oder in der Schule, um noch Organisatorisches zu klären. Aber beides ist nicht der Fall... Und ich wage zu bezweifeln, dass sie sich beim Gymnasium angemeldet oder sich eine Wohnung in der Innenstadt genommen haben. Das alles passt zeitlich und vom Charakter her überhaupt nicht zusammen. Warum sollten sie Hals über Kopf "wegfahren", wenn man dem Direx glauben schenken will? Nein, so einfach ist das nicht und außerdem würde es unendlich viel Zeit kosten, alles bis auf den letzten Winkel zu durchkämmen! Diese Zeit haben wir nicht... Ich weiß zwar nicht, wo sich die Anderen alle befinden, aber ich habe kein gutes Gefühl dabei..." Tanjas Blutdruck stieg. So rundherum hat noch niemand einer ihrer Vorschläge abgewiesen! Allerdings musste sie Katja leider in allen Punkten beipflichten. Ehrlich gesagt hatte sie auch keine große Lust, durch den ganzen Campus zu stiefeln und nach vermissten Personen Ausschau zu halten. Zumal die Suche laut Polizei eingestellt worden war. Sehr mysteriös... Als hätten sie einen Anruf bekommen, dass alles in Ordnung sei und sich nur um einen Abschlussstreich handeln würde! Allein bei dem Gedanken wollte Tanja etwas durchs geschlossene Fenster werfen.
"Schieß los.", forderte sie die Brünette barsch zum Reden auf und verschränkte die Arme.
"Wir werden heute zu den Pförtnern des Campus gehen. Jeder Schüler, der diesen Campus verlässt, muss durch eines dieser Tore. Derjenige muss sich abmelden und wird im System registriert. Wenn wir also die Information bekommen, dass einer der angeblich Ausgeflogenen sich noch auf dem Campus befindet..."
"... dann haben wir den ultimativen Gegenbeweis und können das dem blöden Rektor um die Ohren hauen!", beendete Tanja den Satz enthusiastisch und mit geballten Fäusten. Ihre künstlichen Fingernägel bohrten sich tief in ihr Fleisch, aber das störte sie herzlich wenig.
Katja lächelte gequält. "Der blöde Rektor ist nicht unser Hauptziel. Der wird früher oder später merken, dass man uns nicht so einfach aufs Glatteis führen kann..."
~*~
"Guten Tag!", begrüßte Katja den Pförtner voller Wärme und Freundlichkeit in der Stimme. Ihr strahlendes, offenes Lächeln war eine wahre Wunderwaffe.
"Guten Tag Frau Müller!", antwortete der Mann fröhlich zurück. Auf dem Campus gab es viele, die regelmäßig Katjas Konzerte besuchten oder sie zumindest vom Hörensagen kannten. "Wie kann ich Ihnen helfen?"
"Oh, sie kennen mich? Das schmeichelt mir aber!", frohlockte die junge Geigenspielerin und zupfte verlegen an ihren Handschuhen. War das nicht viel zu heiß? Tanja hätte die Dinger bis in die Antarktis geworfen! "Ich hätte tatsächlich eine kleine Bitte..."
"Ich werde Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen!", sprudelte es aus dem Beamten hervor und zur Bestätigung klopfte er sich fest auf die Brust. Ein echter Mann eben, der Frau mit Rat und Tat zur Seite stehen wollte! Tanja verdrehte die Augen. Gab es immer so ein Affentheater, wenn Katja irgendwo aufkreuzte? Charisma hin oder her, das war ja kaum auszuhalten, wie der ihr Zucker in den...
"Es ist so", holte die Angesprochene aus und setzte einen traurigen Blick auf, "Meine Freundin Nia Toshiki wollte für ein paar Tage zurück nach Hause fahren und dann wieder zurück an den Campus kommen. Sie hat bald Geburtstag und ich wollte wissen, ob ich mir überhaupt die Mühe machen muss, eine Geburtstagsparty für sie zu organisieren oder nicht. Man feiert seinen 16. Geburtstag schließlich nur einmal im Leben und der soll etwas ganz Besonderes sein, meinen Sie nicht? Ich habe schon viel geplant und gekauft, aber ich möchte am Ende nicht mit lauter enttäuschten, wartenden Gästen dasitzen und vergeblich auf das Geburtstagskind warten... Ist es möglich, dass sie das im System nachsehen können? Nia ist leider nicht besonders reich, sodass sie kein eigenes Handy hat... Und ihre Festnetznummer habe ich leider auch nicht, da wir ja die ganze Zeit zusammen in der Schule waren und das überflüssig gewesen wäre...!"
Der Beamte nickte während der ganzen Erzählung. "Das wäre wirklich eine Verschwendung jugendlicher Energie und Elan, wenn das Geburstagskind nicht aufkreuzen sollte! Normalerweise müssen die Eltern angeben, zu welchem Datum das Kind wieder den Campus betritt. Schließlich muss man Geld für jeden einzelnen Tag hier bezahlen, das macht das ganze flexibel..."
Der Mann hakte und klickte am Computer herum. Katja und Tanja wechselten nervöse, aufgeregte Blicke. Dass es so einfach werden würde, den Mann davon zu überzeugen...! Das hätten sie sich im Traum nicht ausgemalt!
Der Mann in Uniform drückte auf Enter, als ein seltsamer Signalton ertönte. Er klang... Wie ein Alarm?
Er stockte.
Tanja hatte sich als erstes wieder gefangen. "Gibt es irgendwelche Probleme?"
Nervös befeuchtete er seine Lippen. "Nunja... ich... So gern ich Ihnen Auskunft geben möchte... Ich darf es leider nicht, das verletzt die Dienstvorschriften!"
"Aber warum das denn?", wollte Katja wissen. Das Adrenalin schoss in ihre Adern. Sie hatten nur diese eine Chance! Wenn er ihnen die Information nicht geben wollte... Was dann? Am liebsten hätte Katja...
Tanja handelte blitzschnell. Wer keine Informationen herausrückte, war ein Feind.
Mit einem Griff ihrer perfekt manikürten Hände packte sie den Mann am Kragen und schleuderte seinen Kopf mit aller Wucht gegen die Kante des Schreibtisches. Mit der anderen Hand zog sie Pfefferspray aus ihrer Hosentasche. Ohne mit der Wimper zu zucken machte Katja einen Satz nach vorne zum PC. Sie hatten nur diese eine Chance!
Sie stutzte. Eine rot umrandete Meldung blinkte.
KEINE AUSKUNFT ÜBER DEN VERBLEIB GEWISSER SCHÜLER UND SCHÜLERINNEN PREISGEBEN.
GEZ. P. SAMUI
Katja presste die Lippen zusammen und klickte die Meldung weg. Nias Profil war bereits aufgerufen und mit hektischen Blicken überflog sie die Informationen.
Größe... Gewicht... Augenfarbe... Haarfarbe... Geburtsort... Namen ihrer Eltern... Adresse... Telefonnummer... Notendurchschnitt... Sportliche Leistungen... Urkunden... In Windeseile riss sie ein Blatt Papier wahllos von einem Stapel und notierte sich Adresse und Telefonnummer.
"Was machst du da, Flötenspielerin?! Du sollst nur nachschauen, ob sie noch auf dem Campus ist oder nicht!", fauchte Tanja angespannt. "Der Typ könnte jeden Moment wieder zu Bewusstsein kommen!"
"Sei still! Das sind wichtige Informationen, falls die weitere Suche auf dem Campus ohne Erfolg bleiben sollte!"
Sie scrollte herunter. Es war eine Masse an Kontrollkästchen mit Häkchen. Club... Mensakarte... Nebenjob... Gebühr pünktlich zu Monatsanfang bezahlt... Bibliotheksausweis mit Unterpunkten zu entliehenen Medien... Waisenkind... Halbwaise... Erziehungsberechtigter sind nicht die leiblichen Eltern...
Mein Gott, die NSA konnte wohl kaum mehr Daten sammeln als dieses System! Vielleicht tauchte irgendwo noch die Schuhgröße auf? Katjas Blut kochte. Manche Dinge gingen die Leute einfach nichts an! Aber wo war die Information, ob sie sich noch auf dem Campus befand?!
Da!
"Campus"
Es hatte ein Häkchen!
~*~
"Ich kann nicht glauben, dass ich mir an diesem Scheißkerl ganze drei Nägel abgebrochen habe!", fluchte Tanja bitterböse vor sich hin. All die Mühen umsonst! Der leicht abgeblätterte Lack heute Morgen war bestimmt ein schlechtes Omen gewesen. "Von dieser Firma werde ich mir keine Nägel mehr kaufen und machen lassen!"
Katja beschwichtigte sie. "Na hör mal... Da steht bestimmt nicht im Kleingedruckten, dass du damit keine gestandenen Männer überwältigen sollst! Das sagt einem schon der normale, gesunde Menschenverstand, dass man sich dabei eventuell wehtun könnte...!"
Tanja hob arrogant die Nase in die Luft. "Ich weiß, dass du ihm am liebsten den Garaus gemacht hättest, aber dabei hättest du deine Finger verletzen können. Ich hab keine Lust, mich danach schuldig zu fühlen, also habe ich die Drecksarbeit gemacht."
"Na wenn das so ist, dann gehen die nächsten Nägel aufs Haus!", grinste Katja breit. "Du weißt genau, was ich hören will!", flötete die Blondine und meinte im beiläufigen Ton: "Ich wusste gar nicht, dass es bei denen Konzerten VIP-Tickets gibt...!"
"Jetzt schon!", antwortete sie ebenso beiläufig. Als kleine Entschädigung für die "Umstände" hatte Katja einen Zettel mit dem Versprechen auf ein VIP-Ticket hinterlassen. Damit konnte der Beamte auch in den Backstagebereich und kurz Smalltalk mit ihr machen. Außerdem durfte er in der ersten Reihe sitzen. Das war das Einzige, was ihr auf die Schnelle eingefallen war. Besser als nichts, oder?
Zurück in der Wohnung angekommen, machte sich Tanja auf dem Bett breit und betrauerte stumm ihre abgebrochenen Fingernägel. Katja wühlte in einem Stapel an Notenblättern und zog ein Blatt Papier heraus.
"Ich habe hier eine Karte vom Campus. Darin sind alle Schulen und Wohnheime eingetragen und auch die Innenstadt ist einigermaßen detailliert aufgezeichnet."
Der Campus war kreisförmig. In der Mitte befand sich das Verwaltungsgebäude, das von der kleinen Inntenstadt umringt war. Dort gab es das Nötigste für die Anwohner: Ein kleines Krankenhaus, eine Polizeistation, eine winzige Feuerwehr aber auch einen Supermarkt, einen Friseur, einen Schreibwarenladen, laut Tanja auch ein Schönheitssalon, eine Boutique, eine Eisdiele, einen Elektrofachhandel sowie eine Bibliothek und einen Sportladen. Außerdem gab es noch einen Schneider von der Schule, der unter anderem Uniformen verkaufte und bei Bedarf direkt anpassen konnte. Eigentlich hätte sich Katja mal wieder eine neue rote Schleife kaufen müssen, da ihre schon arg lädiert war... Aber das war nun nach dem Abschluss hinfällig. Alles Andere waren Wohnhäuser der Angestellten und Arbeitenden. Um den Innenstadtbereich waren abwechselnd die Sportplätze und die Wohnheime der Schüler aneinandergereiht. Die Sportplätze reichten von einem normalen Leichtathletikplatz über Fußball-, Volleyball- und Basketballplätzen. Die Mädchen- und Jungenwohnheime waren stets voneinander getrennt.
Im Uhrzeigersinn auf zwölf Uhr beginnend waren Kindergarten, Grundschule, Hauptschule, Realschule, dann das Gymnasium, eine extra Paukschule, ein Schwimmbad sowie fünf Fakultäten der Universität. Diese fächerte sich in die Bereiche Naturwissenschaften, Sprachwissenschaften, Sport, Musik und weitere Bereiche auf und bildete damit ein breites Spektrum an weiterführenden Möglichkeiten. Von jeder Institution führte eine Straße direkt in das Zentrum des Campus sowie eine Art Ringstraße, die kreisförmig alle Schulen miteinander verband. Zwischen den einzelnen Bereichen war oftmals Wald und neben dem Schwimmbad befand sich ein kleiner See, der um diese Zeit im Jahr vollkommen überlaufen war.
"Ich dachte mein Plan, alles abzusuchen war abgelehnt worden?", zickte Tanja, als sie sich die Ausmaße des Campus ansah. Man konnte zwar den kompletten Campus innerhalb von zwei Stunden zu Fuß durchqueren, aber das baute sie nicht gerade auf. Es war einfach viel zu groß und wo sollten sie anfangen?
"Ich habe gesagt, dass eine solche Suche ohne Hintergrundwissen unsinnig wäre.", korrigierte Katja. "Nun wissen wir ja, dass Nia und die Anderen noch hier sein müssen. Die Frage ist bloß: Wo?"
"Du hast nur schnell nachgesehen, ob Nia, Anita und Tonia noch da sind. Woher willst du wissen, ob das auch auf die restlichen Leute zutrifft?"
Katja lachte. "Überleg mal. Wenn von den ganzen angeblich "entlassenen" Personen zufällig schon drei doch noch auf dem Campus sind... Dann kann man getrost davon ausgehen, dass die dann auch noch da sind. Und überhaupt: Unser Antrieb ist die Suche nach unseren besten Freundinnen."
Die Blondine rümpfte die Nase. "Mag schon sein, dass wir jeden Stein auf dem Campus umdrehen werden, aber... wir sind nur zu zweit."
Katja grinste schelmisch. "Das meinst aber auch nur du!"
~*~
"Das sollte alle offenen Fragen beantwortet haben. Findet ihr einen der angeblich Ausgeflogenen, kontaktiert mich sofort via Smartphone! Falls der Empfang schlecht oder nicht vorhanden sein sollte, feuert ihr eine grüne Leuchtrakete ab! Geratet ihr in Schwierigkeiten oder gibt es ernsthafte Gefahr, feuert ihr ohne zu Zögern die rote Leuchtrakete! Vorbeugen ist besser als heilen und ich möchte keinen von euch verlieren.", ordnete Katja im sachlichen Ton an. Vor ihr standen sieben Gruppen mit jeweils fünf Personen. Tanja und ein weiterer Schüler standen neben ihr. Sie hatte nicht eine Sekunde gezögert und etliche noch dagebliebene Schüler und Schülerinnen zusammengetrommelt, um einen eigenen Suchtrupp zu starten. Wenn die Polizei beeinflusst wurde, Herr Samui Lügen verbreitete und auch sonst auf Niemanden verlass war, musste man die Dinge eben selbst in die Hand nehmen! Glücklicherweise stellte sich heraus, dass einer der Absolventen freiwillig bei der Feuerwehr gearbeitet hatte. Dieser wurde sofort beauftragt, so viele Leuchtraketen wie nur möglich herbeizuschaffen. Tanja verteilte gerade noch kleine Zettel, die Katja eiligst kopiert hatte, auf dem die soeben zusammengefassten Informationen nochmals notiert waren.
"Da es insgesamt 11 Fakultäten, etliche andere Gebäude, Wohnheime und Geschäfte sind, werden wir heute ganz sicher nicht fertig. Lasst euch nicht entmutigen, wenn wir heute nichts finden. Sucht lieber gründlich und genau, als eilig. Schließlich geht es darum, sehr gute Freunde wieder aufzufinden, die verschollen sind...!" Katja ging auf und ab. Immer wieder musste sie bewusst ihre Hände entspannen, um sie nicht wütend und entschlossen zusammenzuballen. "Heute Abend um 19 Uhr treffen wir uns wieder hier und machen eine Lagebesprechung. Bei aller Eile, mit der wir die Verschwundenen finden wollen..."
Katjas Stimme erstarb. "Bitte macht ausreichend Pausen und achtet auf euch. Wenn eure verschwundenen Freunde erfahren, dass euch etwas zugestoßen ist wegen ihnen, werden sie sich das niemals verzeihen!"
Damit schwärmten die Gruppen aus. Jeder war mit einer kleinen Provianttasche bewaffnet und hochkonzentriert. In jedem Gesicht war Anspannung, Ungewissheit, Entschlossenheit und... Kampfeswille. Jeder von ihnen hatte mindestens einen vermissten Freund oder Freundin und der Kummer hatte sie die letzten Tage regelrecht zerfressen. Nun hatten sie einen Hoffnungsschimmer, sie zu finden. Der Plan war kühn und gewagt, ja. Aber es war ihre einzige Hoffnung, da keiner von ihnen Kontakt zu den Anderen hatte aufnehmen können. Und lieber begaben sie sich auf eine aussichtslose Suche, anstatt untätig herumzusitzen und sich den Kopf zu zerbrechen. Untätigkeit hatte noch nie geholfen. Katja hatte sie über die aktuelle Lage aufgeklärt und kein Detail ausgelassen. Einige Jungs hatten gegröhlt und gepfiffen, als sie hörten, dass ausgerechnet die eingebildete, hochnäsige Tanja Suck ernsthaft einen Beamten ausgeknockt hatte. Sie wurde tiefrot und fluchte wie ein Rohrspatz. Scheinbar war sie es nicht gewohnt, wenn sie solche ehrliche Anerkennung erlangte. Katja sollte es gleich sein. Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
"Du bist der Knirps, der Miguel und Salvatore das letzte Mal gesehen hat, richtig?", begrüßte Katja schließlich auch ihr Teammitglied. Dieser zuckte beim Ansprechen zusammen und stotterte: "G-ganz genau! M-m-mein Name ist Mike!"
"Okay, Mike. Hör am besten ganz schnell damit auf, so zu stottern wie Nia Toshiki. Das treibt mich sonst noch in den Wahnsinn.", schnaubte Tanja und warf ihre Haare nach hinten. "Nicht jeder kann so ein arrogantes, fluchendes Gör sein wie du, Tanja Suck.", konterte Katja, die den Kleinen sofort sympathisch fand. Tanja kochte vor Wut. "Wer zum vermaledeiten Geier flucht hier bitteschön? Ich ganz bestimmt nicht, verdammte Scheiße!"
Mike und Katja wechselten vielsagende Blicke und fingen an zu lachen.
Tanja schnappte Mike am Ohr und flüsterte laut und vernehmlich: "Hast du vorhin nicht zugehört, was ich heute schon gemacht habe? Ich habe einen Erwachsenen niedergerungen! So eine halbe Portion wie dich verspeise ich zum Frühstück! Und mir macht es auch nichts aus, wenn ich noch ein paar künstliche Fingernägel verliere, da lass ichs drauf ankommen!"
Das Gezeter und Gefluche ging weiter, als sie sich in Bewegung setzten. Katja verharrte kurz und starrte in den stahlblauen Himmel.
Nia. Wo war sie? Wie ging es ihr? Warum war sie so urplötzlich verschwunden? Wer war dafür verantwortlich?
Fragen über Fragen, die Katja auf der Seele brannten. Sie wollte ihre beste Freundin wiedersehen. Um jeden Preis. Der erste Schritt war getan worden, jetzt hieß es beständig weiterarbeiten und nicht aufgeben.
"Nia... Warte auf mich. Katja ist auf dem Weg und holt dich da raus!", flüsterte sie und ein Luftstoß fuhr ihr durch die Haare. In Gedanken hoffte sie, dass der Wind ihrer besten Freundin diese Nachricht übermitteln würde.