Kapitel 17: Licht ins Dunkel
Am liebsten hätte Salvatore Cedric einfach liegen gelassen. Er musste schwer mit sich ringen, keinen langen, gedehnten Seufzer auszustoßen. Dieser Nichtsnutz machte nichts als Ärger! Es geschah dem Kontrahenten mehr als recht, dass er ohnmächtig geworden war. Immerhin hatte er einen mächtigen Schlüssel verwendet, der bei der Freisetzung des Herzschlüssels seine Gefühle gegenüber Nia versiegelt hatte. Für alle außer Nia war es unübersehbar, dass Cedric etwas für das schüchterne Mädchen empfand.
Schüchternes Mädchen... Allmählich beschlich Salvatore das Gefühl, dass Nia sich weiterentwickelte. Sie veränderte sich und er konnte nicht genau sagen, warum. Natürlich waren sie in einer neuen Umgebung und in der 'Welt' der Huans, aber er hatte sie nicht so eingeschätzt, dass sie mutiger werden würde. Ganz und gar nicht.
Innerlich hoffte er, dass dies nicht noch zu einem großen Problem heranwachsen würde.
Oder eventuell doch.
Zwar saß Nia mit zusammengeballten Fäusten auf dem Schoß Salvatore im gemeinsamen Wohnzimmer gegenüber, doch ihr Blick war entschlossen. Zumindest für jemanden wie Nia. "Wir hatten ausgemacht, dass ihr beide mir mehr über Huans erzählt, wenn wir diesen Kampf gewinnen.", presste sie hervor.
Fast hätte der Frauenschwarm geantwortet, dass er aber nicht eingewilligt hatte, aber er besann sich eines Besseren. Lässig schlug er die Beine übereinander und faltete galant die Hände zusammen. Ein leicht spitzbübisches Grinsen zierte seine makellosen Gesichtszüge.
"Mein Name ist Salvatore Zefalus und ich bin der König der Huans.", erklärte er geschäftsmäßig.
Wie so oft wurden Nias Augen tellergroß. Es machte tatsächlich Spaß, sie auf den Arm zu nehmen.
"Kleiner Scherz.", lachte er schelmisch, doch dann wurde sein Gesicht ernst. "Wir Huans sind genetische Experimente aus dem Labor, die für eine... 'bessere Zukunft' erschaffen worden sind." Salvatore überlegte kurz und bestätigte sich selbst. "Doch... so kann man es wahrscheinlich sagen. Cedric und ich sind zwei der ersten 'natürlichen' Huans gewesen. Wir beide haben ein sehr spezielles..." Seine Finger verkrampften sich ein wenig und seine Mundwinkel zuckten zynisch. Er blickte kurz zu Boden und atmete tief ein. "Wir beide haben ein sehr spezielles... „Training“ genossen. Dieses Training hat uns zu den bisher stärksten Huans gemacht. Jeder andere Huan hat davon gehört, deshalb sagen alle, dass Cedric Urs und ich die Mächtigsten sind."
Nia lauschte gebannt. Noch nie zuvor hatte sie Salvatore so angespannt gesehen. Zwar versuchte er, es möglichst gut zu überspielen, aber es war nicht von der Hand zu weisen. Er wollte nicht darüber reden, was bei diesem 'speziellen Training' vorgefallen war. Wie würde wohl der Speckkopf reagieren, wenn sie ihn darauf ansprach?
"Du möchtest nicht darüber reden, nicht wahr?", fragte Nia geradeheraus. Nun war es an dem Frauenschwarm, große Augen zu machen. Er lachte etwas gequält. "Wie kommst du denn auf die..." "Ist schon okay.", unterbrach Nia ihn. "Es gibt immer Dinge im Leben, über die man ungerne spricht. Jeder hat eine dunkle Seite, die er Niemandem zeigt..." Ein langes, gedehntes Schweigen hüllte die beiden wie ein Mantel ein. Unsicher kratzte sich Salvatore an der Nase. Das kam etwas unerwartet. Hatte sein Ruler schon immer so scharfe Augen gehabt? Bislang war sie nur ein stotterndes Etwas ohne jegliches Selbstbewusstsein gewesen! Hatte der Sieg gegen Anita ihr etwa Auftrieb gegeben? Denkbar war es, auch wenn das Salvatore ganz und gar nicht gefiel.
"Die Armbänder...", brach Nia schließlich das unangenehme Schweigen und deutete auf ihr Handgelenk. Salvatore schaute an sein eigenes, an dem das Armband mit den 100 Perlen hing. Hauptsächlich waren sie schwarz, sodass sie bei der schwaren Uniform fast gar nicht auffielen. "Verändert sich die Prozentzahl ständig? Was hat das für Auswirkungen auf die Huans und auf mich?", löcherte sie ihren Schwarm mit ihrer hohen, nervösen Stimme. Doch sie wollte es wissen. Schließlich hatte sie den Kampf gewonnen und eine Vereinbarung getroffen. Nia wollte mehr über die Welt der Huans erfahren, in der sie nun eine Geisel war und nicht mehr entrinnen konnte.
Doch bevor Salvatore zur Antwort ansetzen konnte, ging die Tür zu Cedrics Zimmer auf. Noch blasser als üblich stand er im Türrahmen und betrachtete die beiden eingehend, aber sichtlich benebelt. Scheinbar ging es ihm immer noch nicht sonderlicht gut, obwohl Salvatore ihn ins Bett getragen hatte.
Nia hatte nur einen kurzen Blick in den Raum geworfen und war überrascht, wie ordentlich und spärlich er eingerichtet war. Ein schlichtes Holzbett mit weißer Bettwäsche stand in der hintersten Ecke, während daneben ein hoher, weiß lackierter Schrank thronte. Direkt rechts neben der Tür stand an der Wand ein großer Tisch, auf dem sich etliche Bücher und ein kleiner Bilderrahmen befanden. Darüber war eine Holzstange montiert, an der etliche Haargummis baumelten. Eine große Anzahl an Münzstapelboxen befanden sich direkt neben dem Bürotisch. Ansonsten war der Raum kahl und ohne Dekor. Es wirkte eher wie eine Arztpraxis als das Jugendzimmer eines Heranwachsenden. Kein Vergleich zu Nias Zimmer, auch wenn sie sich mehr Kleinkram wünschte. Ein Mobile mit Püppchen aus Kimonostoff wären zum Beispiel großartig! Aber dafür hatte sie einfach nicht das nötige Geld übrig.
„Das nächste Mal...“, lallte Cedric halb, weil er noch ganz schlaftrunken war, „legst du mich gefälligst ins Bett und nicht nur daneben!“
„Oh, vergib mir.“, antworte Salvatore promt und sehr höflich, aber der zynische Unterton war nicht zu überhören, „aber Ihre Durchlaucht gleicht eher einem schweren Felsbrocken denn einem Menschen, den man in ein Bett hieven könnte. Hätte ich etwa Nia bitten sollen, mit anzufassen?“
Beim letzten Wort zuckte er leicht zusammen, sagte aber nichts. Stattdessen ging er langsam an Nia vorbei und setzte sich auf das freie Sofa. „Ich wollte euch nicht unterbrechen.“, gestand er und fügte hinzu: „Wahrscheinlich hat Nia gerade ihr Versprechen eingelöst und etwas mehr über Huans erfahren?“ Salvatore und das Mädchen nickten stumm. „Wir waren gerade bei den Armbändern angekommen.“, ergänzte sie und deutete erneut auf ihr Handgelenk. „Ich würde gerne wissen, wie es funktioniert.“
Cedric runzelte die Stirn. „Also den physikalisch-chemischen-sonstwas Hintergrund kann ich dir nicht erklären, aber ich denke mal, dass du darauf auch nicht hinaus willst...“ Ein heftiges Kopfschütteln mit fliegenden, abwehrenden Händen bestätigten diese vage Vermutung. „Es zeigt die Sympathie des Rulers zu seinen Huans an. Je mehr schwarze Kugeln, desto mehr wird er gemocht. Insgesamt gibt es 100 schwarze und 100 weiße Perlen. Die schwarzen Perlen geben an, wie sehr ein Huan respektiert und wie hoch im Ansehen seines Rulers steht. Hat ein Huan beispielsweise 60 schwarze Perlen, so hat der Andere 40. Sie addieren sich gegenseitig auf 100. Zeitgleich genießt dieser Huan auch mehr Privilegien. Er hat deutlich mehr Kraft im Kampf und wird dementsprechend auch häufiger eingesetzt. Diese Armbänder sind wirklich praktisch, allerdings sind sie auch gefährlich.“ Cedric hielt inne und betrachtete eindringlich Nias Gesicht. Auf ihren Lippen brannte die Frage nach dem 'Warum'. „Sie funktionieren in Echtzeit. Hat der Ruler einen Streit oder Uneinigkeit mit einem seiner Huans, so verliert dieser schwarze Kugeln. Das klingt alles nicht sonderlich dramatisch, aber wenn ein gewisser Wert unterschritten wird...“
Cedric holte tief Luft. „Dann nennt man dies 'anreißen'. Für den Huan ist dies mit großen Schmerzen verbunden. Wird diese 5% Hürde allerdings dauerhaft unterschritten, so stirbt der Huan.“
„Ja, aber warum?“, wollte Nia wissen. Die anderen Informationen stellten nichts Neues für sie dar. Es war immer noch schockierend, dass ein Huan aufgrund dessen sterben konnte, aber es war einfach nicht nachvollziehbar, warum man solch einen Mechanismus überhaupt entwickelt hatte! „Warum erfindet man so etwas unglaublich Gefährliches und Bedrohliches? Das ergibt doch keinen Sinn!“
„Wirklich nicht?“, bohrte der blonde Hüne nach. „Vielleicht ist es auch eine Maßnahme, um Huans zu bestrafen, die ihren Rulern nicht hörig sind. Die Huans, die sich gegen ihren Ruler stellen und seinen Hass auf sich ziehen. Eine Strafe, die ganz ohne Schlüssel und damit ohne zusätzlichen Aufwand für den Ruler ist.“
Nia öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Kein Ton entwich ihrer Kehle. War das wirklich eine Art Kontrollmechanismus? Etwas, das die Huans an die Ruler band? Betroffen schaute sie auf Cedrics Handgelenk. Sein Ärmel verdeckte einen Großteil, aber sie zählte gerade Mal fünf oder sechs schwarze Perlen. Mit Glück waren es sieben.
Plötzlich ging ihr ein Licht auf. „Könnte es sein, dass du ohnmächtig geworden bist, weil du die 5% Hürde unterschritten hast?“, wollte sie wissen. Dieser Gedanke war wie ein Schlag in die Magengrube für sie. Was brachte es ihr, stärker zu werden, wenn einer ihrer wichtigen Teammitglieder litt? Sie krallte sich in ihren Rock, als sie sich ihrer Schuld bewusst wurde.
Das war Cedrics Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf das Armband zu lenken und weg vom Einsatz des Schlüssels. Natürlich war es kein feiner Schachzug, Nia den wahren Grund seiner Ohnmacht zu verheimlichen, aber... Was brachte es ihm, wenn er einen Schlüssel beim Freisetzen des Herschlüssels einsetzte um seine Gefühle zu verbergen nur um danach ihr selbst davon zu erzählen? Da hätte er sich die ganze Aktion gleich sparen können.
Aus diesem Grund gab es nur ein grimmiges Nicken, das man deuten konnte wie man wollte. Nia wurde schlecht, als sie das sah. Sie atmete tief ein, um ihr pochendes Herz wieder unter Kontrolle zu bekommen.
„Es... Es tut mir leid, dass du wegen mir so leidest.“, presste sie hervor und meinte jedes Wort genau so, wie sie es sagte. Allein konnte sie nicht stärker werden. Allein war sie schwach und hilflos. Nur gemeinsam konnten sie etwas erreichen, das war auch Nia klar. Genau deswegen wollte sie etwas an dieser verflixten Situation ändern. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund konnte sie Cedric auf den Tod nicht ausstehen und gelegentlich überrollten sie Wellen des Hasses. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie nicht etwas dagegen unternehmen und an sich arbeiten konnte!
„Ich werde versuchen, dich nicht mehr so auszugrenzen und...“, sie schluckte beim letzten Satzteil, weil sie befürchtete, dass man es falsch verstehen könnte, „versuchen, dich mehr zu mögen.“ Zum Glück war Nia ganz auf ihre Fußspitzen fixiert, sodass sie nicht sehen konnte, wie sich die Schamesröte auf Cedrics Gesicht stahl. Sogar seine Nase wurde rot. „Das... erm...“, stammelte der junge Mann und wusste nicht genau, wie er den Satz vollenden sollte.
Salvatore konnte diesem Trauerspiel nicht länger zusehen. Stattdessen klinkte er sich wieder galant aber bestimmt in das Gespräch ein. „Hast du sonst noch irgendwelche Fragen, Nia?“
Dies holte das Mädchen wieder auf den Boden der Tatsachen. „Ich habe unendlich viele Fragen, aber einige werdet ihr mir nicht beantworten können. Zum Beispiel bin ich total neugierig, wer die Huans von Lais und Miguel sind!“, sprudelte es aus ihr hervor und ein kindliches Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. „Aber vorrangig hab ich eine Bitte.“ Damit wurde ihr Blick ernst. Die beiden Jungs horchten auf. Eine direkte Aufforderung kannte man so gar nicht von Nia. Was hatte sich bloß in ihrem Inneren verändert seit dem letzten Kampf? Hat der erste Sieg sie wirklich so beflügelt oder war diese zarte Knospe an Selbstbewusstsein schon immer in ihr gewesen und allmählich begann sie, sich zu entfalten?
„Es war ausgemacht, dass ich bei dem Kampf gegen Anita mit euch kämpfe. Stattdessen habt ihr aber nichts anderes getan als euch eigenmächtig in den Kampf zu stürzen und zu tun, worauf ihr gerade Lust hattet.“, konstatierte Nia. Sie seufzte. „Ich denke nicht, dass das Sinn der Sache ist. Schließlich bin ich euer Ruler... Und wenn nicht ich euch lenke und leite, wer dann? Wir haben diesen Kampf zwar gewonnen, aber ihr habt mir nicht das Gefühl gegeben, dass es Teamwork war. Jeder hat seinen persönlichen Kampf gewonnen und wir haben den Sieg davongetragen...“ Sie schwieg kurz und bedachte ihre nächsten Worte, die sie sehr langsam aussprach. „Ich weiß, dass ich noch schwach und unerfahren bin. Man muss mich noch an die Hand nehmen und führen. Aber wie soll man gegenseitiges Vertrauen aufbauen, wenn ihr mir nicht zutraut, dass ich euch führen kann? Denn nichts anderes war es, was ihr mir mit eurem Alleingang gezeigt habt!“ Den letzten Satz hatte sie fast geschrien, weil sie so frustriert war.
Ja, sie war schwach. Aber sahen ihre beiden Huans nicht auch, dass sie sich nach Kräften mühte, sich zu ändern? Es war nicht einfach, aus seiner Haut zu kommen und über seinen eigenen Schatten zu springen! Trotzdem hatte sie in den wenigen Tagen, die sie an dieser neuen Schule verbracht hatte das Gefühl, dass sich etwas in ihr verändert hatte. Allmählich akzeptierte sie, dass sie sich nicht mehr auf ihre beste Freundin Katja verlassen konnte und selber die Dinge in die Hand nehmen musste. Nia war alles andere als klug. Ihre Zeugnisnoten spiegelten dies sehr gut wieder. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie nicht lernfähig war!
Die beiden Huans wussten nicht, was sie darauf antworten sollten. Tatsächlich hatte Nia Recht – sie hatten vor dem Kampf nicht das Gefühl gehabt, dass sie wusste, was sie tat... Und anstatt ihr zu zeigen, wie es funktionierte und sie mit Leibeskräften zu unterstützen, hatten sie sich nur auf sich selbst verlassen.
Erneut schwieg sich das Trio an. Dieses Mal war es ein unangenehmes, ratloses Schweigen, auf das keiner wusste, was man erwidern sollte.
„Denkt darüber nach.“, bat Nia und stand auf. Vorsichtig glättete sie ihren Rock und richtete die stechend gelbe Schleife ihrer Uniform. Dann ging sie zur Tür.
„Wo willst du hin?“, fragte Salvatore interessiert. Es war ja nicht so, als hätte seine Rulerin irgendwelche Freunde gewonnen oder sonstige Zufluchtsorte als die eigenen vier Wände...
„Ich gehe zu Lais und erzähle ihr vom Sieg. Schließich hat die Niederlage gegen sie mich dazu animiert, an mir zu arbeiten.“, meinte Nia knapp und ging hinaus.
Irgendwie fühlte sie sich anders. Normalerweise stammelte und stockte sie, wenn sie mit Salvatore sprach, aber seit dem Kampf war dem nicht mehr so. Vielmehr war sie erleichtert und glücklich, dass sie gewonnen hatten. Auch wenn es einen fahlen Beigeschmack hatte, dass ihre Huans ihr nicht vertrauten. Andererseits... Woher sollte das Vertrauen auch kommen? Bisher war sie so schwächlich und zittrig gewesen und hatte sich nur auf andere verlassen! Sie musste ihnen beweisen, dass sie sich veränderte.
Langsam.
Aber stetig.
Es dauerte mal wieder seine Zeit, bis Nia Lais erspäht hatte. Dieses Mal hatte sie sich im Töpferraum versteckt. Zum Glück hatte ihr eine Mitschülerin den entscheidenden Hinweis gegeben, sonst wäre die Suche wahrscheinlich vergeblich gewesen.
Konzentriert, vornübergebeugt und mit schmutzigen Händen und Gesicht saß das pinkhaarige Mädchen auf ihrem Schemel über der Drehscheibe. Wie von Zauberhand formte sie mit ihren kleinen Fingern eine Schüssel. Nia schaute begeistert zu. Lais bemerkte sie erst, als sie näher zu ihr herantrat.
„Was willst du?“, lautete die schroffe Begrüßung ohne aufzusehen.
„Ich habe gegen Anita gewonnen.“, platzte Nia glücklich heraus. Bei diesen enthusiastischen und überraschenden Worten hob Lais eine Augenbraue. „Aha.“
Keine weitere Reaktion. Als sich Nia nicht vom Fleck rührte, fragte Lais brüsk: „Willst du etwa, dass ich dich lobe? Für einen Sieg, der mit solch starken Huans wie den deinen längst überfällig war? Dann bist du hier eindeutig an der falschen Adresse.“
Nia spielte mit ihrer Schleife. Nein, das hatte sie nicht erwartet. Ehrlich gesagt wusste sie nicht, was sie sich überhaupt erhofft hatte, wenn sie Lais davon berichten würde. „Und um eins nochmals klarzustellen: Ich bin nicht dein Katja-Ersatz, kapiert?“, dunkle, stechende Augen bohrten sich in Nias Blick.
„Das weiß ich besser als irgendjemand anderes.“, meinte die Angesprochene beschwichtigend und ging in die Hocke, um auf Augenhöhe zu sein. „Ich wollte dir nur stolz davon erzählen, dass ich einen kleinen Schritt in die richtige Richtung gemacht habe. Und ich wollte dir meinen Herzschlüssel präsentieren! Immerhin warst du die erste, die mir ihren gezeigt hat!“ Ein liebliches Lächeln trat auf Nias Gesicht und ihre Wangen waren leicht gerötet vor Aufregung und Vorfreude.
Lais Blick dagegen war ein klarer Fall von tu-was-du-nicht-lassen-kannst.
Unbeholfen kramte Nia den besagten Schlüssel aus ihrer Rocktasche und hielt ihn stolz vor die Nase ihrer Mitschülerin. Diese zeigte keine sichtbare Emotion außer großes Desinteresse. Tollpatschig wie Nia war ließ sie ihn fallen, als er sich plötzlich in den Degen verwandelte.
Die Klinge schoss quer durch Lais' getöpferte Schüssel hindurch. Ton spritzte den beiden Mädchen ins Gesicht. Die Spitze des Degens bohrte sich in Nias linke Hand.
Tonlose Schreie und großer Schmerz standen dem Mädchen ins Gesicht geschrieben. Mit einem Ruck zog sie den Degen aus ihrer Hand. „Sag mal...“, setzte Lais an, die als erste wieder ihre Worte gefunden hatte, „Bist du so doof oder tust du nur so?“ Damit stand sie auf und ging zu ihrer Sanitöter-Tasche. Unter einem Tränenschleier erkannte Nia, wie ihre Schultern bebten. Was hatte Lais?
Lachte sie etwa?
Tatsächlich entwich der Mitschülerin ein belustigtes und gleichzeitig missbilligendes Schnauben, als sie zu Nia zurückkehrte. Sie hatte Alkohol, eine Pinzette, einen Tupfer und ein Pflaster in den Händen. „Alter... wenn man nicht auf dich aufpasst richtest du dich noch selber zugrunde!“
„Das... war keine Absicht.“, presste Nia unter Schmerzen hervor. Am liebsten hätte sie laut aufgejault, als der Alkohol die offene Wunde berührte. Die Hölle auf Erden konnte nicht schlimmer schmerzen!
Lais seufzte. „Hübscher Degen. Aber in deinen Händen noch nichts weiter als Spielzeug. Feuer, Schere, Degen, Licht gibt man kleinen Nias nicht.“
„Sagte die kleine Lais...“, flüsterte Nia und zog eine Schnute. Zu ihrem Glück hatte das ihre Mitschülerin nicht gehört! Ansonsten wäre Nia wahrscheinlich in Alkohol ertränkt worden. Oder so ähnlich. Sie hatte sich so darauf gerfreut, den Degen zu präsentieren und dann so eine Flaute! Aber immerhin missachtete Lais sie nun nicht mehr. Andererseits könnten böse Zungen behaupten, dass sie nur ihren Pflichten als Sanitäterin nachkam... Aber das war Nia auch recht.
„Hast du dir wenigstens deinen Stempel geben lassen?“, fragte Lais ganz nebensächlich. Die Angesprochene runzelte die Stirn. „Stempel?“, echote sie.
Lais Seufzer war lang und gedehnt. „Wenn du wüsstest, was für Kopfschmerzen du anderen bereitest, würdest du nie ohne Aspirin außer Haus gehen... Ich meine den Stempel nach einem Sieg. Beim Kampf gegen dich hab ich mir keinen geben lassen, weil... Es für mich traurig gewesen wäre.“
„Halt, halt, halt!“, schritt Nia dazwischen. „Willst du damit sagen, dass man nach jedem siegreichen Kampf einen Stempel bekommt? Und dass du uns als zu schwach empfandest, um dir einen Stempel geben zu lassen?“
„Genau das meine ich. Hörst du nicht zu? Oder hast du keine Ahnung von nichts?“, fragte Lais nebensächlich. „Erm... Ich glaube es ist eine Mischung aus Beidem...“, gestand sich Nia ein. „Ich habe noch nichts von einem Stempel gehört...“
„Dein begünstigter Huan muss sowohl das Stempelbuch als auch den Stempel haben. Je mehr Siege darin verzeichnet sind, desto bessere, seltenere Schlüssel kannst du dir aussuchen. Es sind quasi Boni, mit denen du stärker werden kannst und dich animieren, immer weiter zu kämpfen.“, erklärte Lais knapp. Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: „Wenn ich für jede Erklärung bezahlt werden würde, hätte ich mir an dir bereits eine goldene Nase verdient.“
„S... Sorry!“, quetschte Nia hervor, der gerade das Pflaster auf die Wunde geklebt wurde. Lais stand auf, um ihre Gerätschaften wieder in der Tasche zu verstauen. „Aber ich habe schon einiges mehr in Erfahrung gebracht. Abgesehen vom Stempelbuch natürlich. Zum Beispiel weiß ich nun, dass Huans in Laboren erschaffen worden sind und für eine bessere Zukunft bestimmt sind. Frau Wood hat das ganz am Anfang ja erklärt.“
Lais hielt in ihren Bewegungen inne.
„Eine 'bessere Zukunft'“?, wiederholte sie emotionslos.
„Ja genau!“, ereiferte sich Nia. Sie mochte den Gedanken, dass sie etwas dazu beitragen konnte.
„Und du glaubst das wirklich?“ Diese Frage kam wie ein Peitschenschlag.
„Wie meinen...?“ Eine verdatterte Nia stand nun der deutlich kleineren Lais gegenüber.
„Glaubst du wirklich, dass Huans für eine 'bessere Zukunft' erschaffen worden sind? Oder meinst du, dass deine Vision einer 'besseren Zukunft' dieselben sind wie der der Forscher? Ich denke nicht.“ Fahles Licht fiel durch die Fenster herein und beleuchteten eine Gesichtshälfte des pinkhaarigen Mädchens. Nia erschauderte.
„Es ist naiv zu denken, dass Huans als 'beschleunigte Evolution' gelten oder für eine 'bessere Zukunft' geschaffen worden sind. Es ist geradezu lächerlich. Was soll man damit anfangen? Warum sollte man dann kämpfen, wenn sie bereits eine bessere Zukunft sind?“
Nias Gedanken überschlugen sich. Wenn Huans weder das Ergebnis einer beschleunigten Evolution waren oder gar einer besseren Zukunft galten... Was...
„Was sind Huans dann?“, wollte sie wissen.
„Huans...“, erklärte Lais. „Sind nichts anderes als Werkzeuge. Werkzeuge, die durch unsere Hilfe ausgebildet und perfektioniert werden. Huans sind nichts anderes als hochmoderne, kostspielige, organische Waffen. Sie sind zukünftige Waffen des Militärs.
Anders ausgedrückt: Huans sind eine neue Gattung der Biologischen Waffen. Unter Fachleuten sind sie bekannt als NBW – Neo Biological Warfare.“
Schüchternes Mädchen... Allmählich beschlich Salvatore das Gefühl, dass Nia sich weiterentwickelte. Sie veränderte sich und er konnte nicht genau sagen, warum. Natürlich waren sie in einer neuen Umgebung und in der 'Welt' der Huans, aber er hatte sie nicht so eingeschätzt, dass sie mutiger werden würde. Ganz und gar nicht.
Innerlich hoffte er, dass dies nicht noch zu einem großen Problem heranwachsen würde.
Oder eventuell doch.
Zwar saß Nia mit zusammengeballten Fäusten auf dem Schoß Salvatore im gemeinsamen Wohnzimmer gegenüber, doch ihr Blick war entschlossen. Zumindest für jemanden wie Nia. "Wir hatten ausgemacht, dass ihr beide mir mehr über Huans erzählt, wenn wir diesen Kampf gewinnen.", presste sie hervor.
Fast hätte der Frauenschwarm geantwortet, dass er aber nicht eingewilligt hatte, aber er besann sich eines Besseren. Lässig schlug er die Beine übereinander und faltete galant die Hände zusammen. Ein leicht spitzbübisches Grinsen zierte seine makellosen Gesichtszüge.
"Mein Name ist Salvatore Zefalus und ich bin der König der Huans.", erklärte er geschäftsmäßig.
Wie so oft wurden Nias Augen tellergroß. Es machte tatsächlich Spaß, sie auf den Arm zu nehmen.
"Kleiner Scherz.", lachte er schelmisch, doch dann wurde sein Gesicht ernst. "Wir Huans sind genetische Experimente aus dem Labor, die für eine... 'bessere Zukunft' erschaffen worden sind." Salvatore überlegte kurz und bestätigte sich selbst. "Doch... so kann man es wahrscheinlich sagen. Cedric und ich sind zwei der ersten 'natürlichen' Huans gewesen. Wir beide haben ein sehr spezielles..." Seine Finger verkrampften sich ein wenig und seine Mundwinkel zuckten zynisch. Er blickte kurz zu Boden und atmete tief ein. "Wir beide haben ein sehr spezielles... „Training“ genossen. Dieses Training hat uns zu den bisher stärksten Huans gemacht. Jeder andere Huan hat davon gehört, deshalb sagen alle, dass Cedric Urs und ich die Mächtigsten sind."
Nia lauschte gebannt. Noch nie zuvor hatte sie Salvatore so angespannt gesehen. Zwar versuchte er, es möglichst gut zu überspielen, aber es war nicht von der Hand zu weisen. Er wollte nicht darüber reden, was bei diesem 'speziellen Training' vorgefallen war. Wie würde wohl der Speckkopf reagieren, wenn sie ihn darauf ansprach?
"Du möchtest nicht darüber reden, nicht wahr?", fragte Nia geradeheraus. Nun war es an dem Frauenschwarm, große Augen zu machen. Er lachte etwas gequält. "Wie kommst du denn auf die..." "Ist schon okay.", unterbrach Nia ihn. "Es gibt immer Dinge im Leben, über die man ungerne spricht. Jeder hat eine dunkle Seite, die er Niemandem zeigt..." Ein langes, gedehntes Schweigen hüllte die beiden wie ein Mantel ein. Unsicher kratzte sich Salvatore an der Nase. Das kam etwas unerwartet. Hatte sein Ruler schon immer so scharfe Augen gehabt? Bislang war sie nur ein stotterndes Etwas ohne jegliches Selbstbewusstsein gewesen! Hatte der Sieg gegen Anita ihr etwa Auftrieb gegeben? Denkbar war es, auch wenn das Salvatore ganz und gar nicht gefiel.
"Die Armbänder...", brach Nia schließlich das unangenehme Schweigen und deutete auf ihr Handgelenk. Salvatore schaute an sein eigenes, an dem das Armband mit den 100 Perlen hing. Hauptsächlich waren sie schwarz, sodass sie bei der schwaren Uniform fast gar nicht auffielen. "Verändert sich die Prozentzahl ständig? Was hat das für Auswirkungen auf die Huans und auf mich?", löcherte sie ihren Schwarm mit ihrer hohen, nervösen Stimme. Doch sie wollte es wissen. Schließlich hatte sie den Kampf gewonnen und eine Vereinbarung getroffen. Nia wollte mehr über die Welt der Huans erfahren, in der sie nun eine Geisel war und nicht mehr entrinnen konnte.
Doch bevor Salvatore zur Antwort ansetzen konnte, ging die Tür zu Cedrics Zimmer auf. Noch blasser als üblich stand er im Türrahmen und betrachtete die beiden eingehend, aber sichtlich benebelt. Scheinbar ging es ihm immer noch nicht sonderlicht gut, obwohl Salvatore ihn ins Bett getragen hatte.
Nia hatte nur einen kurzen Blick in den Raum geworfen und war überrascht, wie ordentlich und spärlich er eingerichtet war. Ein schlichtes Holzbett mit weißer Bettwäsche stand in der hintersten Ecke, während daneben ein hoher, weiß lackierter Schrank thronte. Direkt rechts neben der Tür stand an der Wand ein großer Tisch, auf dem sich etliche Bücher und ein kleiner Bilderrahmen befanden. Darüber war eine Holzstange montiert, an der etliche Haargummis baumelten. Eine große Anzahl an Münzstapelboxen befanden sich direkt neben dem Bürotisch. Ansonsten war der Raum kahl und ohne Dekor. Es wirkte eher wie eine Arztpraxis als das Jugendzimmer eines Heranwachsenden. Kein Vergleich zu Nias Zimmer, auch wenn sie sich mehr Kleinkram wünschte. Ein Mobile mit Püppchen aus Kimonostoff wären zum Beispiel großartig! Aber dafür hatte sie einfach nicht das nötige Geld übrig.
„Das nächste Mal...“, lallte Cedric halb, weil er noch ganz schlaftrunken war, „legst du mich gefälligst ins Bett und nicht nur daneben!“
„Oh, vergib mir.“, antworte Salvatore promt und sehr höflich, aber der zynische Unterton war nicht zu überhören, „aber Ihre Durchlaucht gleicht eher einem schweren Felsbrocken denn einem Menschen, den man in ein Bett hieven könnte. Hätte ich etwa Nia bitten sollen, mit anzufassen?“
Beim letzten Wort zuckte er leicht zusammen, sagte aber nichts. Stattdessen ging er langsam an Nia vorbei und setzte sich auf das freie Sofa. „Ich wollte euch nicht unterbrechen.“, gestand er und fügte hinzu: „Wahrscheinlich hat Nia gerade ihr Versprechen eingelöst und etwas mehr über Huans erfahren?“ Salvatore und das Mädchen nickten stumm. „Wir waren gerade bei den Armbändern angekommen.“, ergänzte sie und deutete erneut auf ihr Handgelenk. „Ich würde gerne wissen, wie es funktioniert.“
Cedric runzelte die Stirn. „Also den physikalisch-chemischen-sonstwas Hintergrund kann ich dir nicht erklären, aber ich denke mal, dass du darauf auch nicht hinaus willst...“ Ein heftiges Kopfschütteln mit fliegenden, abwehrenden Händen bestätigten diese vage Vermutung. „Es zeigt die Sympathie des Rulers zu seinen Huans an. Je mehr schwarze Kugeln, desto mehr wird er gemocht. Insgesamt gibt es 100 schwarze und 100 weiße Perlen. Die schwarzen Perlen geben an, wie sehr ein Huan respektiert und wie hoch im Ansehen seines Rulers steht. Hat ein Huan beispielsweise 60 schwarze Perlen, so hat der Andere 40. Sie addieren sich gegenseitig auf 100. Zeitgleich genießt dieser Huan auch mehr Privilegien. Er hat deutlich mehr Kraft im Kampf und wird dementsprechend auch häufiger eingesetzt. Diese Armbänder sind wirklich praktisch, allerdings sind sie auch gefährlich.“ Cedric hielt inne und betrachtete eindringlich Nias Gesicht. Auf ihren Lippen brannte die Frage nach dem 'Warum'. „Sie funktionieren in Echtzeit. Hat der Ruler einen Streit oder Uneinigkeit mit einem seiner Huans, so verliert dieser schwarze Kugeln. Das klingt alles nicht sonderlich dramatisch, aber wenn ein gewisser Wert unterschritten wird...“
Cedric holte tief Luft. „Dann nennt man dies 'anreißen'. Für den Huan ist dies mit großen Schmerzen verbunden. Wird diese 5% Hürde allerdings dauerhaft unterschritten, so stirbt der Huan.“
„Ja, aber warum?“, wollte Nia wissen. Die anderen Informationen stellten nichts Neues für sie dar. Es war immer noch schockierend, dass ein Huan aufgrund dessen sterben konnte, aber es war einfach nicht nachvollziehbar, warum man solch einen Mechanismus überhaupt entwickelt hatte! „Warum erfindet man so etwas unglaublich Gefährliches und Bedrohliches? Das ergibt doch keinen Sinn!“
„Wirklich nicht?“, bohrte der blonde Hüne nach. „Vielleicht ist es auch eine Maßnahme, um Huans zu bestrafen, die ihren Rulern nicht hörig sind. Die Huans, die sich gegen ihren Ruler stellen und seinen Hass auf sich ziehen. Eine Strafe, die ganz ohne Schlüssel und damit ohne zusätzlichen Aufwand für den Ruler ist.“
Nia öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Kein Ton entwich ihrer Kehle. War das wirklich eine Art Kontrollmechanismus? Etwas, das die Huans an die Ruler band? Betroffen schaute sie auf Cedrics Handgelenk. Sein Ärmel verdeckte einen Großteil, aber sie zählte gerade Mal fünf oder sechs schwarze Perlen. Mit Glück waren es sieben.
Plötzlich ging ihr ein Licht auf. „Könnte es sein, dass du ohnmächtig geworden bist, weil du die 5% Hürde unterschritten hast?“, wollte sie wissen. Dieser Gedanke war wie ein Schlag in die Magengrube für sie. Was brachte es ihr, stärker zu werden, wenn einer ihrer wichtigen Teammitglieder litt? Sie krallte sich in ihren Rock, als sie sich ihrer Schuld bewusst wurde.
Das war Cedrics Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf das Armband zu lenken und weg vom Einsatz des Schlüssels. Natürlich war es kein feiner Schachzug, Nia den wahren Grund seiner Ohnmacht zu verheimlichen, aber... Was brachte es ihm, wenn er einen Schlüssel beim Freisetzen des Herschlüssels einsetzte um seine Gefühle zu verbergen nur um danach ihr selbst davon zu erzählen? Da hätte er sich die ganze Aktion gleich sparen können.
Aus diesem Grund gab es nur ein grimmiges Nicken, das man deuten konnte wie man wollte. Nia wurde schlecht, als sie das sah. Sie atmete tief ein, um ihr pochendes Herz wieder unter Kontrolle zu bekommen.
„Es... Es tut mir leid, dass du wegen mir so leidest.“, presste sie hervor und meinte jedes Wort genau so, wie sie es sagte. Allein konnte sie nicht stärker werden. Allein war sie schwach und hilflos. Nur gemeinsam konnten sie etwas erreichen, das war auch Nia klar. Genau deswegen wollte sie etwas an dieser verflixten Situation ändern. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund konnte sie Cedric auf den Tod nicht ausstehen und gelegentlich überrollten sie Wellen des Hasses. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie nicht etwas dagegen unternehmen und an sich arbeiten konnte!
„Ich werde versuchen, dich nicht mehr so auszugrenzen und...“, sie schluckte beim letzten Satzteil, weil sie befürchtete, dass man es falsch verstehen könnte, „versuchen, dich mehr zu mögen.“ Zum Glück war Nia ganz auf ihre Fußspitzen fixiert, sodass sie nicht sehen konnte, wie sich die Schamesröte auf Cedrics Gesicht stahl. Sogar seine Nase wurde rot. „Das... erm...“, stammelte der junge Mann und wusste nicht genau, wie er den Satz vollenden sollte.
Salvatore konnte diesem Trauerspiel nicht länger zusehen. Stattdessen klinkte er sich wieder galant aber bestimmt in das Gespräch ein. „Hast du sonst noch irgendwelche Fragen, Nia?“
Dies holte das Mädchen wieder auf den Boden der Tatsachen. „Ich habe unendlich viele Fragen, aber einige werdet ihr mir nicht beantworten können. Zum Beispiel bin ich total neugierig, wer die Huans von Lais und Miguel sind!“, sprudelte es aus ihr hervor und ein kindliches Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. „Aber vorrangig hab ich eine Bitte.“ Damit wurde ihr Blick ernst. Die beiden Jungs horchten auf. Eine direkte Aufforderung kannte man so gar nicht von Nia. Was hatte sich bloß in ihrem Inneren verändert seit dem letzten Kampf? Hat der erste Sieg sie wirklich so beflügelt oder war diese zarte Knospe an Selbstbewusstsein schon immer in ihr gewesen und allmählich begann sie, sich zu entfalten?
„Es war ausgemacht, dass ich bei dem Kampf gegen Anita mit euch kämpfe. Stattdessen habt ihr aber nichts anderes getan als euch eigenmächtig in den Kampf zu stürzen und zu tun, worauf ihr gerade Lust hattet.“, konstatierte Nia. Sie seufzte. „Ich denke nicht, dass das Sinn der Sache ist. Schließlich bin ich euer Ruler... Und wenn nicht ich euch lenke und leite, wer dann? Wir haben diesen Kampf zwar gewonnen, aber ihr habt mir nicht das Gefühl gegeben, dass es Teamwork war. Jeder hat seinen persönlichen Kampf gewonnen und wir haben den Sieg davongetragen...“ Sie schwieg kurz und bedachte ihre nächsten Worte, die sie sehr langsam aussprach. „Ich weiß, dass ich noch schwach und unerfahren bin. Man muss mich noch an die Hand nehmen und führen. Aber wie soll man gegenseitiges Vertrauen aufbauen, wenn ihr mir nicht zutraut, dass ich euch führen kann? Denn nichts anderes war es, was ihr mir mit eurem Alleingang gezeigt habt!“ Den letzten Satz hatte sie fast geschrien, weil sie so frustriert war.
Ja, sie war schwach. Aber sahen ihre beiden Huans nicht auch, dass sie sich nach Kräften mühte, sich zu ändern? Es war nicht einfach, aus seiner Haut zu kommen und über seinen eigenen Schatten zu springen! Trotzdem hatte sie in den wenigen Tagen, die sie an dieser neuen Schule verbracht hatte das Gefühl, dass sich etwas in ihr verändert hatte. Allmählich akzeptierte sie, dass sie sich nicht mehr auf ihre beste Freundin Katja verlassen konnte und selber die Dinge in die Hand nehmen musste. Nia war alles andere als klug. Ihre Zeugnisnoten spiegelten dies sehr gut wieder. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie nicht lernfähig war!
Die beiden Huans wussten nicht, was sie darauf antworten sollten. Tatsächlich hatte Nia Recht – sie hatten vor dem Kampf nicht das Gefühl gehabt, dass sie wusste, was sie tat... Und anstatt ihr zu zeigen, wie es funktionierte und sie mit Leibeskräften zu unterstützen, hatten sie sich nur auf sich selbst verlassen.
Erneut schwieg sich das Trio an. Dieses Mal war es ein unangenehmes, ratloses Schweigen, auf das keiner wusste, was man erwidern sollte.
„Denkt darüber nach.“, bat Nia und stand auf. Vorsichtig glättete sie ihren Rock und richtete die stechend gelbe Schleife ihrer Uniform. Dann ging sie zur Tür.
„Wo willst du hin?“, fragte Salvatore interessiert. Es war ja nicht so, als hätte seine Rulerin irgendwelche Freunde gewonnen oder sonstige Zufluchtsorte als die eigenen vier Wände...
„Ich gehe zu Lais und erzähle ihr vom Sieg. Schließich hat die Niederlage gegen sie mich dazu animiert, an mir zu arbeiten.“, meinte Nia knapp und ging hinaus.
Irgendwie fühlte sie sich anders. Normalerweise stammelte und stockte sie, wenn sie mit Salvatore sprach, aber seit dem Kampf war dem nicht mehr so. Vielmehr war sie erleichtert und glücklich, dass sie gewonnen hatten. Auch wenn es einen fahlen Beigeschmack hatte, dass ihre Huans ihr nicht vertrauten. Andererseits... Woher sollte das Vertrauen auch kommen? Bisher war sie so schwächlich und zittrig gewesen und hatte sich nur auf andere verlassen! Sie musste ihnen beweisen, dass sie sich veränderte.
Langsam.
Aber stetig.
Es dauerte mal wieder seine Zeit, bis Nia Lais erspäht hatte. Dieses Mal hatte sie sich im Töpferraum versteckt. Zum Glück hatte ihr eine Mitschülerin den entscheidenden Hinweis gegeben, sonst wäre die Suche wahrscheinlich vergeblich gewesen.
Konzentriert, vornübergebeugt und mit schmutzigen Händen und Gesicht saß das pinkhaarige Mädchen auf ihrem Schemel über der Drehscheibe. Wie von Zauberhand formte sie mit ihren kleinen Fingern eine Schüssel. Nia schaute begeistert zu. Lais bemerkte sie erst, als sie näher zu ihr herantrat.
„Was willst du?“, lautete die schroffe Begrüßung ohne aufzusehen.
„Ich habe gegen Anita gewonnen.“, platzte Nia glücklich heraus. Bei diesen enthusiastischen und überraschenden Worten hob Lais eine Augenbraue. „Aha.“
Keine weitere Reaktion. Als sich Nia nicht vom Fleck rührte, fragte Lais brüsk: „Willst du etwa, dass ich dich lobe? Für einen Sieg, der mit solch starken Huans wie den deinen längst überfällig war? Dann bist du hier eindeutig an der falschen Adresse.“
Nia spielte mit ihrer Schleife. Nein, das hatte sie nicht erwartet. Ehrlich gesagt wusste sie nicht, was sie sich überhaupt erhofft hatte, wenn sie Lais davon berichten würde. „Und um eins nochmals klarzustellen: Ich bin nicht dein Katja-Ersatz, kapiert?“, dunkle, stechende Augen bohrten sich in Nias Blick.
„Das weiß ich besser als irgendjemand anderes.“, meinte die Angesprochene beschwichtigend und ging in die Hocke, um auf Augenhöhe zu sein. „Ich wollte dir nur stolz davon erzählen, dass ich einen kleinen Schritt in die richtige Richtung gemacht habe. Und ich wollte dir meinen Herzschlüssel präsentieren! Immerhin warst du die erste, die mir ihren gezeigt hat!“ Ein liebliches Lächeln trat auf Nias Gesicht und ihre Wangen waren leicht gerötet vor Aufregung und Vorfreude.
Lais Blick dagegen war ein klarer Fall von tu-was-du-nicht-lassen-kannst.
Unbeholfen kramte Nia den besagten Schlüssel aus ihrer Rocktasche und hielt ihn stolz vor die Nase ihrer Mitschülerin. Diese zeigte keine sichtbare Emotion außer großes Desinteresse. Tollpatschig wie Nia war ließ sie ihn fallen, als er sich plötzlich in den Degen verwandelte.
Die Klinge schoss quer durch Lais' getöpferte Schüssel hindurch. Ton spritzte den beiden Mädchen ins Gesicht. Die Spitze des Degens bohrte sich in Nias linke Hand.
Tonlose Schreie und großer Schmerz standen dem Mädchen ins Gesicht geschrieben. Mit einem Ruck zog sie den Degen aus ihrer Hand. „Sag mal...“, setzte Lais an, die als erste wieder ihre Worte gefunden hatte, „Bist du so doof oder tust du nur so?“ Damit stand sie auf und ging zu ihrer Sanitöter-Tasche. Unter einem Tränenschleier erkannte Nia, wie ihre Schultern bebten. Was hatte Lais?
Lachte sie etwa?
Tatsächlich entwich der Mitschülerin ein belustigtes und gleichzeitig missbilligendes Schnauben, als sie zu Nia zurückkehrte. Sie hatte Alkohol, eine Pinzette, einen Tupfer und ein Pflaster in den Händen. „Alter... wenn man nicht auf dich aufpasst richtest du dich noch selber zugrunde!“
„Das... war keine Absicht.“, presste Nia unter Schmerzen hervor. Am liebsten hätte sie laut aufgejault, als der Alkohol die offene Wunde berührte. Die Hölle auf Erden konnte nicht schlimmer schmerzen!
Lais seufzte. „Hübscher Degen. Aber in deinen Händen noch nichts weiter als Spielzeug. Feuer, Schere, Degen, Licht gibt man kleinen Nias nicht.“
„Sagte die kleine Lais...“, flüsterte Nia und zog eine Schnute. Zu ihrem Glück hatte das ihre Mitschülerin nicht gehört! Ansonsten wäre Nia wahrscheinlich in Alkohol ertränkt worden. Oder so ähnlich. Sie hatte sich so darauf gerfreut, den Degen zu präsentieren und dann so eine Flaute! Aber immerhin missachtete Lais sie nun nicht mehr. Andererseits könnten böse Zungen behaupten, dass sie nur ihren Pflichten als Sanitäterin nachkam... Aber das war Nia auch recht.
„Hast du dir wenigstens deinen Stempel geben lassen?“, fragte Lais ganz nebensächlich. Die Angesprochene runzelte die Stirn. „Stempel?“, echote sie.
Lais Seufzer war lang und gedehnt. „Wenn du wüsstest, was für Kopfschmerzen du anderen bereitest, würdest du nie ohne Aspirin außer Haus gehen... Ich meine den Stempel nach einem Sieg. Beim Kampf gegen dich hab ich mir keinen geben lassen, weil... Es für mich traurig gewesen wäre.“
„Halt, halt, halt!“, schritt Nia dazwischen. „Willst du damit sagen, dass man nach jedem siegreichen Kampf einen Stempel bekommt? Und dass du uns als zu schwach empfandest, um dir einen Stempel geben zu lassen?“
„Genau das meine ich. Hörst du nicht zu? Oder hast du keine Ahnung von nichts?“, fragte Lais nebensächlich. „Erm... Ich glaube es ist eine Mischung aus Beidem...“, gestand sich Nia ein. „Ich habe noch nichts von einem Stempel gehört...“
„Dein begünstigter Huan muss sowohl das Stempelbuch als auch den Stempel haben. Je mehr Siege darin verzeichnet sind, desto bessere, seltenere Schlüssel kannst du dir aussuchen. Es sind quasi Boni, mit denen du stärker werden kannst und dich animieren, immer weiter zu kämpfen.“, erklärte Lais knapp. Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: „Wenn ich für jede Erklärung bezahlt werden würde, hätte ich mir an dir bereits eine goldene Nase verdient.“
„S... Sorry!“, quetschte Nia hervor, der gerade das Pflaster auf die Wunde geklebt wurde. Lais stand auf, um ihre Gerätschaften wieder in der Tasche zu verstauen. „Aber ich habe schon einiges mehr in Erfahrung gebracht. Abgesehen vom Stempelbuch natürlich. Zum Beispiel weiß ich nun, dass Huans in Laboren erschaffen worden sind und für eine bessere Zukunft bestimmt sind. Frau Wood hat das ganz am Anfang ja erklärt.“
Lais hielt in ihren Bewegungen inne.
„Eine 'bessere Zukunft'“?, wiederholte sie emotionslos.
„Ja genau!“, ereiferte sich Nia. Sie mochte den Gedanken, dass sie etwas dazu beitragen konnte.
„Und du glaubst das wirklich?“ Diese Frage kam wie ein Peitschenschlag.
„Wie meinen...?“ Eine verdatterte Nia stand nun der deutlich kleineren Lais gegenüber.
„Glaubst du wirklich, dass Huans für eine 'bessere Zukunft' erschaffen worden sind? Oder meinst du, dass deine Vision einer 'besseren Zukunft' dieselben sind wie der der Forscher? Ich denke nicht.“ Fahles Licht fiel durch die Fenster herein und beleuchteten eine Gesichtshälfte des pinkhaarigen Mädchens. Nia erschauderte.
„Es ist naiv zu denken, dass Huans als 'beschleunigte Evolution' gelten oder für eine 'bessere Zukunft' geschaffen worden sind. Es ist geradezu lächerlich. Was soll man damit anfangen? Warum sollte man dann kämpfen, wenn sie bereits eine bessere Zukunft sind?“
Nias Gedanken überschlugen sich. Wenn Huans weder das Ergebnis einer beschleunigten Evolution waren oder gar einer besseren Zukunft galten... Was...
„Was sind Huans dann?“, wollte sie wissen.
„Huans...“, erklärte Lais. „Sind nichts anderes als Werkzeuge. Werkzeuge, die durch unsere Hilfe ausgebildet und perfektioniert werden. Huans sind nichts anderes als hochmoderne, kostspielige, organische Waffen. Sie sind zukünftige Waffen des Militärs.
Anders ausgedrückt: Huans sind eine neue Gattung der Biologischen Waffen. Unter Fachleuten sind sie bekannt als NBW – Neo Biological Warfare.“