Kapitel 20: Du, das Leben und die Karten
Mit einer seltsamen Mischung an Gefühlen betrat Nia das Klassenzimmer. Es schien ihr wie eine Ewigkeit vorzukommen, dass sie alleine durch eine Schultür getreten war.
Alleine hieß, ohne ihre beiden Schatten Cedric und Salvatore. Erstaunlich schnell hatten sich die drei zusammengerauft, falls man das so nennen konnte. Cedric war ein sozialer Eisblock wie immer, der nur ab und zu giftige Blicke in Salvatores Richtung warf. Der Zustand war eher mit einer Waffenruhe zu vergleichen als mit einem wirklichen Näherkommen aller beteiligten Parteien. Nia befand sich wahrlich zwischen zwei verhärteten Fronten, die nicht wirklich aufeinander zugehen wollten. Der eine zeigte ihr die kalte Schulter und der andere wollte scheinbar die Konflikte davonlächeln. Beides war keine optimale Lösung, aber immer noch besser, als wenn sie sich gegenseitig an die Gurgel sprangen.
Neben dem Kämpfen befanden sich allerlei andere Fächer auf dem Stundenplan. Man fühlte sich wie in der 1. Klasse, in der man noch nicht erahnen konnte, was einen noch alles erwarten würde. Alles war neu und aufregend. Von Kämpfen, täglichem Workout und Kriegsstrategien über Schönschrift, Schlüsselkunde und Busshitsu-Lehre war eine Hülle und Fülle seltsamer Fächer auf den Plan getreten, von denen sich Nia nicht mal im Traum hätte ausmalen können, dass es sie gäbe. Biologie entwickelte sich langsam aber stetig zu ihrem Lieblingsfach, bei dem sie dem Lehrer an den Lippen hing. Eine ungeahnte Faszination ging von der Verwandlung der Huans aus. In akribisch kleinen Aufzeichnungen wurde aufgewiesen, wie der menschliche Körper sich binnen Sekunden in den eines Tieres verwandeln konnte und welche Umbauten bei den Knochen vonstatten gingen. Bei Cedric als Eisbären und damit Säugetier ließ sich das alles noch sehr gut nachvollziehen, da sich einfach bestimmte Knochen verkürzen oder verlängern... Aber bei Salvatore, der ein Weißkopfseeadler war und damit der Tiergruppe der Vögel angehörte, war das ein ganz anderer Fall! Allein schon das komplett veränderte Brustbein wusste sie in den Bann zu ziehen. Und wer hätte gedacht, dass der Aufbau und die Funktionsweise einer Vogellunge so interessant sein kann? Niemals hätte sie gedacht, dass sie ganz anders funktionierte als die Lunge eines Menschen! Dass sich die Lunge eines Vogels beim Füllen mit Luft nicht hob und senkte wie beim Menschen war Nia nie aufgefallen. Wahnsinn, was da im Körper von Huans vonstatten gehen musste, um die Verwandlung durchzuführen. Es erstaunte sie immer mehr, je länger sie darüber nachdachte.
Als sie aus dem Fenster schaute, fiel ihr eine einzelne Sonnenblume auf, die alle anderen Blumen um sich herum überragte. Ihr Herz zog sich zusammen.
Trotz all der Faszination und den neuen Eindrücken, die sie hier täglich hatte... Trotz alldem... vermisste sie Katja schrecklich. Katja war über Jahr und Tag der einzige Mensch gewesen, mit dem sie regelmäßigen, engen Kontakt hatte. Nicht einmal ihren Vater hatte sie während ihrer gesamten Realschullaufbahn auch nur einmal zu Gesicht bekommen. Katja war Freundin und Familie zugleich. So Jemanden konnte man nicht von heute auf morgen "vergessen" oder gar "ersetzen". Salvatore war ihr Schwarm, das stimmte. Aber es war nicht dasselbe, wie jemanden zu haben, dem man sein Herz ausschütten konnte. Der einen selbst so gut kannte, dass ein einzelner Blick genügte um zu wissen, was der andere gerade dachte.
Und genau so jemand war Katja für Nia. Umgekehrt galt dasselbe. Sie waren wie zwei Seiten einer Medaille. Etwas Unzertrennliches, was nun gewaltsam entzwei gerissen worden war.
Das Mädchen umklammerte fest die Bücher für die kommenden Stunden. Sie wollte zurück... Oder um es präziser zu sagen: Sie wollte Katja zurück. Katja war der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens gewesen, ihre beste Freundin und ihre einzige Familie, die sie über die langen Jahre gehabt hatte. Ohne sie hätte sie bestimmt nicht die Realschule geschafft... Ja, ohne Katja wäre Nia niemals das, was sie heute war. Schüchtern, aber auch durch Mobbing nicht klein zu kriegen! Und genau aus diesem Grund... Wollte sie hier weg. Bloß wie?
Ihr Blick fiel auf Tonia und Anita. Ihre Peiniger entpuppten sich immer mehr als normale menschliche Wesen in Nias Alter. Beide hatten eine große Veränderung durchgemacht, seitdem sie auf der Erselik-Schule gelandet waren. Zwar war Tonia ungemindert aggressiv und in Kombination mit Akuma hatte man zu jeder Zeit das Gefühl, dass gleich eine Bombe detonieren konnte... Aber... Tonia behandelte alles und jeden so, als wäre es nicht ihre Angelegenheit. Als wäre sie schlicht und ergreifend im falschen Film gelandet und würde nur darauf warten, bis sich der Kinosaal wieder erhellen und sie dieser skurillen Szenerie entfliehen könnte. Sie partizipierte wenig bis gar nicht am Unterrichtsgeschehen und man wurde das Gefühl nicht los, als würde sie alles nur als einen albernen Traum abtun. Nur Akuma und Nia konnten sie binnen Sekunden auf die Palme bringen.
Anita dagegen war wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Obwohl sie sonst so auf ihr äußeres Erscheinungsbild achtete, wirkte sie schlampig und... zerstört.
Nicht nur ihre hängenden Schultern und ihr leerer Blick zeugten von Trauer, sondern auch ihre verquollenen Augen mit tiefen, dunklen Furchen. Sie wirkte eher wie in Trance und als hätte sie ein traumatisches Erlebnis hinter sich, welches sie erst einmal aufarbeiten musste. Auch ihre beiden Huans Hans und Franz, die ihr huanmöglichstes taten, um sie aus der "Emo-Ecke" herauszuholen, scheiterten kläglich. Einzig und allein Nia konnte mit ihrer bloßen Anwesenheit die alte Anita zum Vorschein bringen. Eine Anita, die furios, spitzzüngig und gnadenlos war.
Dennoch hatten die beiden Mädchen den Schrecken der Vergangenheit verloren. Die Abgeschiedenheit der Erselik-Schule zeigte immer deutlicher, dass sie nichts weiter waren als junge Mädchen mit ihren eigenen Problemen und ihrem Kummer. Jeder reagierte anders darauf. Bei den Rulern war die Veränderung deutlich zu merken... Bei allen außer bei Lais. Sie wirkte wie ein Fels in der Brandung, dem auch der schlimmste, heftigste und grausamste Sturm nichts anhaben konnte. Nia fragte sich, ob sie emotional abgestumpft war oder die Situation einfach als unausweichlich akzeptiert hatte. Widerstand gegen etwas, was man nicht ändern konnte, war. Vergeudete Kraft und Liebesmüh.
Nia hörte ihrer Lehrerin für Kriegskunst nur mit halbem Ohr zu. Die Sonnenblume wollte und wollte nicht aus ihren Gedanken weichen. Immer wieder wanderte unbewusst ihr Blick aus dem Fenster und blieb an der leuchtenden Blume hängen. Stark. Unabhängig. Strahlend. Alle anderen überflügelnd. Es war wenig verwunderlich, dass Nia bei der Sonnenblume an Katja denken musste. Cedric folge ihrem Blick und schürzte die Lippen. Dennoch brachte er keinen Ton heraus. Einzig Salvatore bemerkte das Zögern seines Mitstreiters.
Frau Samarium war eine quirlige, verplante Lehrerin mit viel Einsatz. Was ihr an Körpergröße fehlte, machte sie mit doppeltem Elan wieder wett. Einzelne Schüler schlossen bereits Wetten über die genaue Körpergröße ab, doch die Pädagogin wollte es einfach nicht preisgeben. Geschätzt wurde sie auf ungefähr 1,46 Meter und war damit noch kleiner als Lais oder Anita. Dafür hatte Frau Samarium lange, lockige Haare, die beinahe bis zum Boden reichten und bernsteinfarbene Augen. Eigentlich war sie ständig am Lächeln und wenn man an sie dachte, hatte man auch sofort das Geräusch des Schemels im Ohr, den sie immer mit sich herumtrug oder genauer: Über den Boden schleifte. Es war ganz erstaunlich, dass eine so kleine, zierliche Lehrerin ausgerechnet Kriegskunst gab - Etwas, das man erfahrungsgemäß eher mit gestandenen, starken, muskelbepackten Männern in Verbindung brachte!
"Sunzi's Buch 'Die Kunst des Krieges' ist eine absolute Pflichtlektüre für euch! Niemand wird meinen Unterricht verlassen, ohne dieses Buch gelesen zu haben und mindestens 25% dessen auswendig rezitieren zu können!" Bei diesen Worten zerrte sie den Schemel in Richtung Fenster und kletterte auf ihn hinauf. "Dieses Werk gilt auch heute noch als eines der bedeutensten Bücher über die Kriegskunst. Nein, es ist sogar noch viel mehr als das - Jeder große Manager, der etwas auf sich hält, hat dieses Buch gelesen und hält sich an seine Regeln!"
Sie räusperte sich und überhörte die unterdrückten Lacher einiger Schüler. "Wenn du einen Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.", las Frau Samarium laut und enthusiastisch vor. Miguel musste die Stelle wiederholen und tat dies fehlerfrei und ohne zu zögern. Während die Lehrerin ihren Schemel zur Tafel trug, fiel es Nia wie Schuppen von den Augen.
Der Kampf gegen Lais!
Dieses Zitat... Das, was Sunzi da geschrieben hatte... passte wie Faust aufs Auge auf diese Situation! Zwar war es kein "großer Krieg" gewesen, aber dennoch ein Kampf. Lais schien Salvatore und Cedric gut zu kennen... Selbst Nia, mit der sie zuvor noch nie ein Wort gewechselt hatte, schien für Lais wie ein offenes Buch gewesen zu sein! Außerdem war sich Lais ihrer Fähigkeiten absolut sicher und kannte sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen. Dem schwarzhaarigen Mädchen lief jetzt noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte, wie gnadenlos sie geschlagen worden waren. Binnen Sekunden war der Kampf vorüber gewesen... Und das, obwohl es
drei gegen eine war!
"Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen...", murmelte Nia gedankenverloren vor sich hin. Nein, sie kannte weder sich selbst noch irgendeinen ihrer Gegner.
Doch das sollte nicht so bleiben.
Nia wollte Katja wiedersehen. Und zwar um jeden Preis. Sollte kommen was da mag, aber sie wollte hier heraus und sei es nur, um ihrer besten Freundin zu sagen, dass sie am Leben war und es ihr gut ging! Doch das konnte sie niemals allein erreichen. Sie brauchte mehr Mitstreiter, die dasselbe Ziel vor Augen hatten! Starke, unabhängige Mitstreiter, die sie auf ihre Seite bringen musste.
Mit zitternden Knien und schweißnassen Händen stand sie vor der verschlossenen Tür eines Apartments. Es war das Apartment von Tonia, Akuma und Isaac.
Tonia...
Die Anführerin der Gerüchteküche, diejenige, die in der Schule alle Fäden in der Hand hatte. Tonia, die Nia seit Jahren gedemütigt und gemobbt hatte. Üble Verleumdungen, Lügen und Gerüchte waren über Nia in die Welt gesetzt worden, die sie auch jetzt noch zu tiefst erschütterten. Diese Ausgrenzung... Das kalte Lachen ihrer Mitschüler, bar jeglichen Mitgefühls... Die Schläge auf der Toilette... Wie ihr an den Haaren gerissen worden war...
Tränen sammelten sich in Nias Augen. Sie wurde binnen Sekunden leichenblass.
Tonia... Die Person, die ihr Schulleben zur Hölle hatte werden lassen. Ohne Katja hätte Nia das niemals durchgestanden. Ohne Katja und Cedric, der rechtzeitig zur Hilfe geeilt war. Nia schüttelte den Kopf und vertrieb den letzten Gedanken. Nur weil Cedric einmal in seinem Leben zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war...! Dennoch hatte sie sich immer noch nicht gebührend bei ihm bedankt, oder...? Nias Atem ging flach und stoßweise. Konnte man überhaupt mit jemandem wie Tonia reden, die Nia eher als Spielzeug ihrer Macht angesehen hatte?
Aber bevor sie über die Antwort nachdenken konnte, öffnete sich die Tür.
"Nanu, wen haben wir denn da? Ist das etwa unser Halbling?", fragte Tonias Huan neugierig, während er sich seinen fluffigen Pony aus dem Gesicht strich.
~*~
Nia hatte noch nie zuvor ein Wort mit Isaac Campbell gewechselt. Bisher war er ihr maximal durch seinen Pony aufgefallen, der länger war als sein eigentliches Kopfhaar. Ständig zupfte er daran, wischte ihn aus seinem Gesicht oder drehte darin seine Finger ein. Außerdem wusste sie, dass er Tonias Huan war. Was für ein Tier er eigentlich war, war ihr schleierhaft.
"Was hast du denn da mit angeschleppt?!", fauchte eine Stimme, als Nia zaghaft das Zimmer betrat.
"Das heißt 'Wen hast du da mitgebracht?'.", korrigierte Isaac prompt und mit sanftem Lächeln. "Immerhin ist Nia ein Ruler und kein Tier wie du!"
"Du bist ein scheiß Grammatik-Nazi, der mir tierisch auf die Eier geht.", konterte Akuma, der mit offenem Hosenstall und falsch geknöpftem Hemd auf der Couch lag und beim Lesen einer Computerzeitschrift ununterbrochen Chips in sich hineinstopfte. "Tonia wird vollkommen austicken, wenn sie die da hier drin sieht!"
"Ich kann mir kaum vorstellen, dass Nia Toshiki sie mehr auf die Palme bringen könnte als du es ohnehin schon tust.", antwortete Isaac und fügte hinzu: "Benutz den Namen unseres Gastes. Du bist schließlich auch ein halber Mensch und kein wildes Tier, das keine Manieren kennt, nicht wahr?"
"Ja, ja, Mama. Was auch immer du sagst.", flötete Akuma mit triefendem Sarkasmus und böse funkelnden Augen. "Was willst du hier?" Bei der kalten, barschen Frage zuckte Nia zusammen. Akuma seufzte gedehnt, als er den mahnenden Blick von Isaac sah. "Was willst du hier, Nia Toshiki?", wiederholte er gedehnt die Frage und setzte sich auf. "Ich glaube nämlich, du hast dich in der Tür geirrt. Dein Apartment ist irgendwo..." Dabei machte er wilde Handbewegungen in irgendeine Himmelsrichtung, "dort ganz, ganz weit weg."
"Um genau zu sein ist es drei Apartments den Gang herunter.", hakte Isaac ein, während er Tee aufgoss. "Nia kann sich also schlecht im Zimmer geirrt haben." Hinter seinem Rücken äffte Akuma Isaac nach. Klugscheißer!
Stocksteif saß Nia in dem Sessel und wusste nicht, wo sie richtig anfangen sollte. Vor der Tür war die Situation schon auswegslos und nicht lösbar erschienen... Aber jetzt direkt in der Höhle des Löwen zu sein war beängstigend und aufregend zugleich. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz gleich aus dem Brustkorb sprang, so stark klopfte es.
"Ich möchte hier raus.", setzte Nia an und stockte.
"Da hat der Maurer das Loch gelassen.", meinte Akuma zynisch. Isaac schnalzte missbilligend mit der Zunge. Der Rebell zuckte nur mit den Schultern. "Sorry, was soll ich denn auf so einen blöden Satz anderes antworten?"
Der Schönling drehte seinen Finger in seinem mächtigen Haar ein. "Wo möchtest du raus? Du wirst wohl kaum in unser Reich gekommen sein, nur um gleich wieder aufzubrechen?"
Nia schüttelte den Kopf. "Entschuldige, ich hätte den Satz anders formulieren sollen..."
"Entschuldigung abgelehnt!", schnaubte Akuma. Isaac seufzte lang und gedehnt. "Sorry, wenn die nicht auf dem Punkt kommt, dann möchte ich für jede vergeudete Minute meines Lebens Geld. Zeit ist Geld. Ansonsten lernen es manche Leute nie!" Er wandte sich wieder Nia zu. "Wenn du den Mund schon aufmachst, dann sag wenigstens klar und deutlich, was du willst. Du hast 10 Sekunden und einen Satz um uns zu sagen, weswegen du hergekommen bist!" Bei diesen Worten griff er nach Isaacs' Arm und starrte auf seine Armbanduhr. Nia fing an zu schwitzen.
"9... 8... 7...", zählte Akuma herunter und sein Grinsen wurde immer breiter, als er sah, wie Nia ins Rudern geriet.
"Ich will raus aus dem Erselik-Campus und zu Katja! Dafür möchte ich eure Hilfe in Anspruch nehmen!", haspelte Nia kurz und entschlossen.
Sowohl Isaac als auch Akuma starrten erst Nia und dann sich gegenseitig ungläubig an.
"Das waren doch zwei Sätze, oder?"
~*~
Es hatte geschlagene fünf Minuten gedauert, bis Akumas dreckige Lache endlich verstummt war. Der kleine Kerl hatte sich halb auf dem Boden gekugelt und gekrümmt vor Lachen. Nun lag er atemlos auf dem Teppich, während endlich Isaac die Gunst der Stunde nutzte.
"Ich glaube, du weißt gar nicht, wo wir sind...", setzte er an und schaute mit gequältem Lächeln in Nias fragendes Gesicht. Sie war etwas verletzt, dass ihr Vorhaben so dermaßen ausgelacht worden war. Nur Isaacs Schulterzucken hatten sie wieder beruhigt. Akuma musste man nicht verstehen. Wahrscheinlich tat er selbst es nicht einmal. "Wir sind in der Erselik-Schule, die einem Hochsicherheitstrakt gleichkommt! Hier dringt kein Signal unkontrolliert nach innen oder nach außen. Sämtliche Handys und Smartphones wurden konfesziert und wer dennoch eines haben sollte..." Er schielte zu Akuma, "Der hat schnell festgestellt, dass er niemanden erreichen kann. Weder Freunde noch Familie. Sämtliche Leitungen und Signale sind tot."
"Nicht, dass ich überhaupt Freunde und Familie hätte, die ich anrufen könnte.", sagte Akuma mit einem stumpfen Blick. Er rappelte sich wieder auf. "Tonia hat es viele Male probiert, die andere Gerüchteküche-Tussi zu erreichen..."
"Tanja Suck ist ihr Name. Versuch wenigstens, dich an Namen zu erinnern!", warf Isaac ein, doch Akuma machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
"Wie auch immer sie heißt. Tanja Kotz, Tanja Würg oder Tanja Sucks... äh... Suck... Das ist mir Latte. Von mir aus könnte es auch der Papst von China sein!"
Der Schönling raufte sich den Pony. "In China gibt es keinen Papst!"
"Mit deinen vielen Nebenkommentaren und deiner bescheuerten Besserwisserei hälst du uns ganz schön auf. Niemand interessiert, was du zu sagen hast, Mr. Haarpracht!", giftete Akuma und pulte sich mit dem kleinen Finger im Ohr. An Nia gewandt sagte er: "Er hat allerdings Recht. Wir sind mehr in einem Gefängnis, als dass wir in einer Schule sind. Immerhin sind Huans und Ruler etwas, wovon die Öffentlichkeit niemals erfahren soll. Wir sind... Versuchskaninchen und Waffen zugleich. Moralisch verwerflich noch obendrein! Natürlich werden wir unter Verschluss gehalten wie Schwerverbrecher. Das sollte selbst einem Hohlapfel wie dir einleuchten, oder?"
"Hohlbirne...", flüsterte Isaac.
Nia schluckte. "Aber wenn wir reingekommen sind, müssen wir auch wieder rauskommen!", insestierte sie. "Es mag zwar sein, dass wir unter Verschluss gehalten werden, aber aus jedem Gefängnis kann man auch wieder ausbrechen! Und je mehr wir sind, desto höher stehen die Chancen, dass wir es tatsächlich schaffen!"
"Und was springt für uns dabei heraus?", fragte Akuma geradeheraus. "Ich hab echt null Bock mir den Arsch aufzureißen für etwas, was mir hinterher nur Ärger bringt."
"Das... kann ich euch nicht sagen.", gestand Nia betrübt. "Tonia und Anita wollen unbedingt Tanja wiedersehen und ich möchte wieder mit Katja zusammen sein, koste es, was es wolle!" Ihr Blick war klar und stark. "Nenn mir deinen Preis, für den du dir deinen 'Arsch aufreißen' würdest, Akuma!"
Akuma kicherte. "Na, na! So ein böses Wort aus der süßen, kleinen Nia! Ich bin ganz schockiert!"
"Ich auch...", bestätigte Isaac. Akuma verdrehte die Augen, weil niemand seinen Sarkasmus verstand. Umgeben von Idioten!
"So gefällst du mir schon viel viel besser. Machen wir einen Deal! Wenn Tonia mit dir zusammen arbeitet, dann werde ich meinen Arsch auch in Bewegung setzen. Aber ich denke, dass vorher die Hölle zufrieren wird...", kicherte Akuma.
"Wann wollen wir loslegen?", ertönte eine Stimme hinter den Drei. Im Türrahmen stand Tonia Dierl wie ein Gespenst, das aus dem Nichts aufgetaucht war. Ihre Augen blitzten voller Kampfeslust.
Im Leben ging es nicht nur darum, gute Karten zu haben, sondern auch darum, mit einem schlechten Blatt gut zu spielen.
Alleine hieß, ohne ihre beiden Schatten Cedric und Salvatore. Erstaunlich schnell hatten sich die drei zusammengerauft, falls man das so nennen konnte. Cedric war ein sozialer Eisblock wie immer, der nur ab und zu giftige Blicke in Salvatores Richtung warf. Der Zustand war eher mit einer Waffenruhe zu vergleichen als mit einem wirklichen Näherkommen aller beteiligten Parteien. Nia befand sich wahrlich zwischen zwei verhärteten Fronten, die nicht wirklich aufeinander zugehen wollten. Der eine zeigte ihr die kalte Schulter und der andere wollte scheinbar die Konflikte davonlächeln. Beides war keine optimale Lösung, aber immer noch besser, als wenn sie sich gegenseitig an die Gurgel sprangen.
Neben dem Kämpfen befanden sich allerlei andere Fächer auf dem Stundenplan. Man fühlte sich wie in der 1. Klasse, in der man noch nicht erahnen konnte, was einen noch alles erwarten würde. Alles war neu und aufregend. Von Kämpfen, täglichem Workout und Kriegsstrategien über Schönschrift, Schlüsselkunde und Busshitsu-Lehre war eine Hülle und Fülle seltsamer Fächer auf den Plan getreten, von denen sich Nia nicht mal im Traum hätte ausmalen können, dass es sie gäbe. Biologie entwickelte sich langsam aber stetig zu ihrem Lieblingsfach, bei dem sie dem Lehrer an den Lippen hing. Eine ungeahnte Faszination ging von der Verwandlung der Huans aus. In akribisch kleinen Aufzeichnungen wurde aufgewiesen, wie der menschliche Körper sich binnen Sekunden in den eines Tieres verwandeln konnte und welche Umbauten bei den Knochen vonstatten gingen. Bei Cedric als Eisbären und damit Säugetier ließ sich das alles noch sehr gut nachvollziehen, da sich einfach bestimmte Knochen verkürzen oder verlängern... Aber bei Salvatore, der ein Weißkopfseeadler war und damit der Tiergruppe der Vögel angehörte, war das ein ganz anderer Fall! Allein schon das komplett veränderte Brustbein wusste sie in den Bann zu ziehen. Und wer hätte gedacht, dass der Aufbau und die Funktionsweise einer Vogellunge so interessant sein kann? Niemals hätte sie gedacht, dass sie ganz anders funktionierte als die Lunge eines Menschen! Dass sich die Lunge eines Vogels beim Füllen mit Luft nicht hob und senkte wie beim Menschen war Nia nie aufgefallen. Wahnsinn, was da im Körper von Huans vonstatten gehen musste, um die Verwandlung durchzuführen. Es erstaunte sie immer mehr, je länger sie darüber nachdachte.
Als sie aus dem Fenster schaute, fiel ihr eine einzelne Sonnenblume auf, die alle anderen Blumen um sich herum überragte. Ihr Herz zog sich zusammen.
Trotz all der Faszination und den neuen Eindrücken, die sie hier täglich hatte... Trotz alldem... vermisste sie Katja schrecklich. Katja war über Jahr und Tag der einzige Mensch gewesen, mit dem sie regelmäßigen, engen Kontakt hatte. Nicht einmal ihren Vater hatte sie während ihrer gesamten Realschullaufbahn auch nur einmal zu Gesicht bekommen. Katja war Freundin und Familie zugleich. So Jemanden konnte man nicht von heute auf morgen "vergessen" oder gar "ersetzen". Salvatore war ihr Schwarm, das stimmte. Aber es war nicht dasselbe, wie jemanden zu haben, dem man sein Herz ausschütten konnte. Der einen selbst so gut kannte, dass ein einzelner Blick genügte um zu wissen, was der andere gerade dachte.
Und genau so jemand war Katja für Nia. Umgekehrt galt dasselbe. Sie waren wie zwei Seiten einer Medaille. Etwas Unzertrennliches, was nun gewaltsam entzwei gerissen worden war.
Das Mädchen umklammerte fest die Bücher für die kommenden Stunden. Sie wollte zurück... Oder um es präziser zu sagen: Sie wollte Katja zurück. Katja war der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens gewesen, ihre beste Freundin und ihre einzige Familie, die sie über die langen Jahre gehabt hatte. Ohne sie hätte sie bestimmt nicht die Realschule geschafft... Ja, ohne Katja wäre Nia niemals das, was sie heute war. Schüchtern, aber auch durch Mobbing nicht klein zu kriegen! Und genau aus diesem Grund... Wollte sie hier weg. Bloß wie?
Ihr Blick fiel auf Tonia und Anita. Ihre Peiniger entpuppten sich immer mehr als normale menschliche Wesen in Nias Alter. Beide hatten eine große Veränderung durchgemacht, seitdem sie auf der Erselik-Schule gelandet waren. Zwar war Tonia ungemindert aggressiv und in Kombination mit Akuma hatte man zu jeder Zeit das Gefühl, dass gleich eine Bombe detonieren konnte... Aber... Tonia behandelte alles und jeden so, als wäre es nicht ihre Angelegenheit. Als wäre sie schlicht und ergreifend im falschen Film gelandet und würde nur darauf warten, bis sich der Kinosaal wieder erhellen und sie dieser skurillen Szenerie entfliehen könnte. Sie partizipierte wenig bis gar nicht am Unterrichtsgeschehen und man wurde das Gefühl nicht los, als würde sie alles nur als einen albernen Traum abtun. Nur Akuma und Nia konnten sie binnen Sekunden auf die Palme bringen.
Anita dagegen war wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Obwohl sie sonst so auf ihr äußeres Erscheinungsbild achtete, wirkte sie schlampig und... zerstört.
Nicht nur ihre hängenden Schultern und ihr leerer Blick zeugten von Trauer, sondern auch ihre verquollenen Augen mit tiefen, dunklen Furchen. Sie wirkte eher wie in Trance und als hätte sie ein traumatisches Erlebnis hinter sich, welches sie erst einmal aufarbeiten musste. Auch ihre beiden Huans Hans und Franz, die ihr huanmöglichstes taten, um sie aus der "Emo-Ecke" herauszuholen, scheiterten kläglich. Einzig und allein Nia konnte mit ihrer bloßen Anwesenheit die alte Anita zum Vorschein bringen. Eine Anita, die furios, spitzzüngig und gnadenlos war.
Dennoch hatten die beiden Mädchen den Schrecken der Vergangenheit verloren. Die Abgeschiedenheit der Erselik-Schule zeigte immer deutlicher, dass sie nichts weiter waren als junge Mädchen mit ihren eigenen Problemen und ihrem Kummer. Jeder reagierte anders darauf. Bei den Rulern war die Veränderung deutlich zu merken... Bei allen außer bei Lais. Sie wirkte wie ein Fels in der Brandung, dem auch der schlimmste, heftigste und grausamste Sturm nichts anhaben konnte. Nia fragte sich, ob sie emotional abgestumpft war oder die Situation einfach als unausweichlich akzeptiert hatte. Widerstand gegen etwas, was man nicht ändern konnte, war. Vergeudete Kraft und Liebesmüh.
Nia hörte ihrer Lehrerin für Kriegskunst nur mit halbem Ohr zu. Die Sonnenblume wollte und wollte nicht aus ihren Gedanken weichen. Immer wieder wanderte unbewusst ihr Blick aus dem Fenster und blieb an der leuchtenden Blume hängen. Stark. Unabhängig. Strahlend. Alle anderen überflügelnd. Es war wenig verwunderlich, dass Nia bei der Sonnenblume an Katja denken musste. Cedric folge ihrem Blick und schürzte die Lippen. Dennoch brachte er keinen Ton heraus. Einzig Salvatore bemerkte das Zögern seines Mitstreiters.
Frau Samarium war eine quirlige, verplante Lehrerin mit viel Einsatz. Was ihr an Körpergröße fehlte, machte sie mit doppeltem Elan wieder wett. Einzelne Schüler schlossen bereits Wetten über die genaue Körpergröße ab, doch die Pädagogin wollte es einfach nicht preisgeben. Geschätzt wurde sie auf ungefähr 1,46 Meter und war damit noch kleiner als Lais oder Anita. Dafür hatte Frau Samarium lange, lockige Haare, die beinahe bis zum Boden reichten und bernsteinfarbene Augen. Eigentlich war sie ständig am Lächeln und wenn man an sie dachte, hatte man auch sofort das Geräusch des Schemels im Ohr, den sie immer mit sich herumtrug oder genauer: Über den Boden schleifte. Es war ganz erstaunlich, dass eine so kleine, zierliche Lehrerin ausgerechnet Kriegskunst gab - Etwas, das man erfahrungsgemäß eher mit gestandenen, starken, muskelbepackten Männern in Verbindung brachte!
"Sunzi's Buch 'Die Kunst des Krieges' ist eine absolute Pflichtlektüre für euch! Niemand wird meinen Unterricht verlassen, ohne dieses Buch gelesen zu haben und mindestens 25% dessen auswendig rezitieren zu können!" Bei diesen Worten zerrte sie den Schemel in Richtung Fenster und kletterte auf ihn hinauf. "Dieses Werk gilt auch heute noch als eines der bedeutensten Bücher über die Kriegskunst. Nein, es ist sogar noch viel mehr als das - Jeder große Manager, der etwas auf sich hält, hat dieses Buch gelesen und hält sich an seine Regeln!"
Sie räusperte sich und überhörte die unterdrückten Lacher einiger Schüler. "Wenn du einen Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.", las Frau Samarium laut und enthusiastisch vor. Miguel musste die Stelle wiederholen und tat dies fehlerfrei und ohne zu zögern. Während die Lehrerin ihren Schemel zur Tafel trug, fiel es Nia wie Schuppen von den Augen.
Der Kampf gegen Lais!
Dieses Zitat... Das, was Sunzi da geschrieben hatte... passte wie Faust aufs Auge auf diese Situation! Zwar war es kein "großer Krieg" gewesen, aber dennoch ein Kampf. Lais schien Salvatore und Cedric gut zu kennen... Selbst Nia, mit der sie zuvor noch nie ein Wort gewechselt hatte, schien für Lais wie ein offenes Buch gewesen zu sein! Außerdem war sich Lais ihrer Fähigkeiten absolut sicher und kannte sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen. Dem schwarzhaarigen Mädchen lief jetzt noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie daran dachte, wie gnadenlos sie geschlagen worden waren. Binnen Sekunden war der Kampf vorüber gewesen... Und das, obwohl es
drei gegen eine war!
"Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen...", murmelte Nia gedankenverloren vor sich hin. Nein, sie kannte weder sich selbst noch irgendeinen ihrer Gegner.
Doch das sollte nicht so bleiben.
Nia wollte Katja wiedersehen. Und zwar um jeden Preis. Sollte kommen was da mag, aber sie wollte hier heraus und sei es nur, um ihrer besten Freundin zu sagen, dass sie am Leben war und es ihr gut ging! Doch das konnte sie niemals allein erreichen. Sie brauchte mehr Mitstreiter, die dasselbe Ziel vor Augen hatten! Starke, unabhängige Mitstreiter, die sie auf ihre Seite bringen musste.
Mit zitternden Knien und schweißnassen Händen stand sie vor der verschlossenen Tür eines Apartments. Es war das Apartment von Tonia, Akuma und Isaac.
Tonia...
Die Anführerin der Gerüchteküche, diejenige, die in der Schule alle Fäden in der Hand hatte. Tonia, die Nia seit Jahren gedemütigt und gemobbt hatte. Üble Verleumdungen, Lügen und Gerüchte waren über Nia in die Welt gesetzt worden, die sie auch jetzt noch zu tiefst erschütterten. Diese Ausgrenzung... Das kalte Lachen ihrer Mitschüler, bar jeglichen Mitgefühls... Die Schläge auf der Toilette... Wie ihr an den Haaren gerissen worden war...
Tränen sammelten sich in Nias Augen. Sie wurde binnen Sekunden leichenblass.
Tonia... Die Person, die ihr Schulleben zur Hölle hatte werden lassen. Ohne Katja hätte Nia das niemals durchgestanden. Ohne Katja und Cedric, der rechtzeitig zur Hilfe geeilt war. Nia schüttelte den Kopf und vertrieb den letzten Gedanken. Nur weil Cedric einmal in seinem Leben zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war...! Dennoch hatte sie sich immer noch nicht gebührend bei ihm bedankt, oder...? Nias Atem ging flach und stoßweise. Konnte man überhaupt mit jemandem wie Tonia reden, die Nia eher als Spielzeug ihrer Macht angesehen hatte?
Aber bevor sie über die Antwort nachdenken konnte, öffnete sich die Tür.
"Nanu, wen haben wir denn da? Ist das etwa unser Halbling?", fragte Tonias Huan neugierig, während er sich seinen fluffigen Pony aus dem Gesicht strich.
~*~
Nia hatte noch nie zuvor ein Wort mit Isaac Campbell gewechselt. Bisher war er ihr maximal durch seinen Pony aufgefallen, der länger war als sein eigentliches Kopfhaar. Ständig zupfte er daran, wischte ihn aus seinem Gesicht oder drehte darin seine Finger ein. Außerdem wusste sie, dass er Tonias Huan war. Was für ein Tier er eigentlich war, war ihr schleierhaft.
"Was hast du denn da mit angeschleppt?!", fauchte eine Stimme, als Nia zaghaft das Zimmer betrat.
"Das heißt 'Wen hast du da mitgebracht?'.", korrigierte Isaac prompt und mit sanftem Lächeln. "Immerhin ist Nia ein Ruler und kein Tier wie du!"
"Du bist ein scheiß Grammatik-Nazi, der mir tierisch auf die Eier geht.", konterte Akuma, der mit offenem Hosenstall und falsch geknöpftem Hemd auf der Couch lag und beim Lesen einer Computerzeitschrift ununterbrochen Chips in sich hineinstopfte. "Tonia wird vollkommen austicken, wenn sie die da hier drin sieht!"
"Ich kann mir kaum vorstellen, dass Nia Toshiki sie mehr auf die Palme bringen könnte als du es ohnehin schon tust.", antwortete Isaac und fügte hinzu: "Benutz den Namen unseres Gastes. Du bist schließlich auch ein halber Mensch und kein wildes Tier, das keine Manieren kennt, nicht wahr?"
"Ja, ja, Mama. Was auch immer du sagst.", flötete Akuma mit triefendem Sarkasmus und böse funkelnden Augen. "Was willst du hier?" Bei der kalten, barschen Frage zuckte Nia zusammen. Akuma seufzte gedehnt, als er den mahnenden Blick von Isaac sah. "Was willst du hier, Nia Toshiki?", wiederholte er gedehnt die Frage und setzte sich auf. "Ich glaube nämlich, du hast dich in der Tür geirrt. Dein Apartment ist irgendwo..." Dabei machte er wilde Handbewegungen in irgendeine Himmelsrichtung, "dort ganz, ganz weit weg."
"Um genau zu sein ist es drei Apartments den Gang herunter.", hakte Isaac ein, während er Tee aufgoss. "Nia kann sich also schlecht im Zimmer geirrt haben." Hinter seinem Rücken äffte Akuma Isaac nach. Klugscheißer!
Stocksteif saß Nia in dem Sessel und wusste nicht, wo sie richtig anfangen sollte. Vor der Tür war die Situation schon auswegslos und nicht lösbar erschienen... Aber jetzt direkt in der Höhle des Löwen zu sein war beängstigend und aufregend zugleich. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz gleich aus dem Brustkorb sprang, so stark klopfte es.
"Ich möchte hier raus.", setzte Nia an und stockte.
"Da hat der Maurer das Loch gelassen.", meinte Akuma zynisch. Isaac schnalzte missbilligend mit der Zunge. Der Rebell zuckte nur mit den Schultern. "Sorry, was soll ich denn auf so einen blöden Satz anderes antworten?"
Der Schönling drehte seinen Finger in seinem mächtigen Haar ein. "Wo möchtest du raus? Du wirst wohl kaum in unser Reich gekommen sein, nur um gleich wieder aufzubrechen?"
Nia schüttelte den Kopf. "Entschuldige, ich hätte den Satz anders formulieren sollen..."
"Entschuldigung abgelehnt!", schnaubte Akuma. Isaac seufzte lang und gedehnt. "Sorry, wenn die nicht auf dem Punkt kommt, dann möchte ich für jede vergeudete Minute meines Lebens Geld. Zeit ist Geld. Ansonsten lernen es manche Leute nie!" Er wandte sich wieder Nia zu. "Wenn du den Mund schon aufmachst, dann sag wenigstens klar und deutlich, was du willst. Du hast 10 Sekunden und einen Satz um uns zu sagen, weswegen du hergekommen bist!" Bei diesen Worten griff er nach Isaacs' Arm und starrte auf seine Armbanduhr. Nia fing an zu schwitzen.
"9... 8... 7...", zählte Akuma herunter und sein Grinsen wurde immer breiter, als er sah, wie Nia ins Rudern geriet.
"Ich will raus aus dem Erselik-Campus und zu Katja! Dafür möchte ich eure Hilfe in Anspruch nehmen!", haspelte Nia kurz und entschlossen.
Sowohl Isaac als auch Akuma starrten erst Nia und dann sich gegenseitig ungläubig an.
"Das waren doch zwei Sätze, oder?"
~*~
Es hatte geschlagene fünf Minuten gedauert, bis Akumas dreckige Lache endlich verstummt war. Der kleine Kerl hatte sich halb auf dem Boden gekugelt und gekrümmt vor Lachen. Nun lag er atemlos auf dem Teppich, während endlich Isaac die Gunst der Stunde nutzte.
"Ich glaube, du weißt gar nicht, wo wir sind...", setzte er an und schaute mit gequältem Lächeln in Nias fragendes Gesicht. Sie war etwas verletzt, dass ihr Vorhaben so dermaßen ausgelacht worden war. Nur Isaacs Schulterzucken hatten sie wieder beruhigt. Akuma musste man nicht verstehen. Wahrscheinlich tat er selbst es nicht einmal. "Wir sind in der Erselik-Schule, die einem Hochsicherheitstrakt gleichkommt! Hier dringt kein Signal unkontrolliert nach innen oder nach außen. Sämtliche Handys und Smartphones wurden konfesziert und wer dennoch eines haben sollte..." Er schielte zu Akuma, "Der hat schnell festgestellt, dass er niemanden erreichen kann. Weder Freunde noch Familie. Sämtliche Leitungen und Signale sind tot."
"Nicht, dass ich überhaupt Freunde und Familie hätte, die ich anrufen könnte.", sagte Akuma mit einem stumpfen Blick. Er rappelte sich wieder auf. "Tonia hat es viele Male probiert, die andere Gerüchteküche-Tussi zu erreichen..."
"Tanja Suck ist ihr Name. Versuch wenigstens, dich an Namen zu erinnern!", warf Isaac ein, doch Akuma machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
"Wie auch immer sie heißt. Tanja Kotz, Tanja Würg oder Tanja Sucks... äh... Suck... Das ist mir Latte. Von mir aus könnte es auch der Papst von China sein!"
Der Schönling raufte sich den Pony. "In China gibt es keinen Papst!"
"Mit deinen vielen Nebenkommentaren und deiner bescheuerten Besserwisserei hälst du uns ganz schön auf. Niemand interessiert, was du zu sagen hast, Mr. Haarpracht!", giftete Akuma und pulte sich mit dem kleinen Finger im Ohr. An Nia gewandt sagte er: "Er hat allerdings Recht. Wir sind mehr in einem Gefängnis, als dass wir in einer Schule sind. Immerhin sind Huans und Ruler etwas, wovon die Öffentlichkeit niemals erfahren soll. Wir sind... Versuchskaninchen und Waffen zugleich. Moralisch verwerflich noch obendrein! Natürlich werden wir unter Verschluss gehalten wie Schwerverbrecher. Das sollte selbst einem Hohlapfel wie dir einleuchten, oder?"
"Hohlbirne...", flüsterte Isaac.
Nia schluckte. "Aber wenn wir reingekommen sind, müssen wir auch wieder rauskommen!", insestierte sie. "Es mag zwar sein, dass wir unter Verschluss gehalten werden, aber aus jedem Gefängnis kann man auch wieder ausbrechen! Und je mehr wir sind, desto höher stehen die Chancen, dass wir es tatsächlich schaffen!"
"Und was springt für uns dabei heraus?", fragte Akuma geradeheraus. "Ich hab echt null Bock mir den Arsch aufzureißen für etwas, was mir hinterher nur Ärger bringt."
"Das... kann ich euch nicht sagen.", gestand Nia betrübt. "Tonia und Anita wollen unbedingt Tanja wiedersehen und ich möchte wieder mit Katja zusammen sein, koste es, was es wolle!" Ihr Blick war klar und stark. "Nenn mir deinen Preis, für den du dir deinen 'Arsch aufreißen' würdest, Akuma!"
Akuma kicherte. "Na, na! So ein böses Wort aus der süßen, kleinen Nia! Ich bin ganz schockiert!"
"Ich auch...", bestätigte Isaac. Akuma verdrehte die Augen, weil niemand seinen Sarkasmus verstand. Umgeben von Idioten!
"So gefällst du mir schon viel viel besser. Machen wir einen Deal! Wenn Tonia mit dir zusammen arbeitet, dann werde ich meinen Arsch auch in Bewegung setzen. Aber ich denke, dass vorher die Hölle zufrieren wird...", kicherte Akuma.
"Wann wollen wir loslegen?", ertönte eine Stimme hinter den Drei. Im Türrahmen stand Tonia Dierl wie ein Gespenst, das aus dem Nichts aufgetaucht war. Ihre Augen blitzten voller Kampfeslust.
Im Leben ging es nicht nur darum, gute Karten zu haben, sondern auch darum, mit einem schlechten Blatt gut zu spielen.