Kapitel 9: Bittersweet Destiny
Unaufhaltsam
peitschte der Regen gegen das geschlossene Fenster. Der Wind rüttelte
an den Fenstern und entfernt vernahm man immer noch das rauschen der
Bäume, die sich in dem Sturm wiegten.
Vollkommen entnervt trommelte der rothaarige Junge mit dem schwarzen Pony auf dem Tisch herum. "Was dauert das alles so lange?", zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und fuhr sich dabei durch den schwarzen Pony. Sein Haarmuster mit psychadelischen Schnörkeln zog einen dabei direkt in den Bann. "Hat eigentlich einer von denen den anderen Bescheid gegeben?", fragte er ins Leere, während er mit dem Finger in seinem linken Ohr fummelte.
Sein Sitznachbar mit seidig glänzenden, hellbraunen Haaren und den markanten Wangenknochen hob seinen Kopf von seinem Buch. "Falls du mit 'denen den anderen' die Ruler und ihre zurückgebliebenen Freunde meinst... Nein. Wie hätten sie das auch können? Sie wurden ja förmlich hierher entführt. Niemand denkt an die 'Hinterbliebenen'..."
Die Blicke der Anwesenden verdunkelten sich sichtbar.
Von nun an gab es kein Zurück mehr. Weder für die Ruler... noch für sie selbst.
~*~
Es hatte eine Augenblicke gedauert, bis alle Anwesenden begriffen hatten, dass gerade ein Huan erweckt worden war. Sie wussten alle nicht, wie sie reagieren sollten. Fröhlich, weil Nia ihren Huan gefunden hatte? Oder traurig, weil Cedric Nia als Waker erwischt hatte? Letztlich entschieden sie sich für Beifall und Pfiffe, denn nun konnte niemand mehr Cedric als Huan abbekommen - worüber alle mehr als glücklich waren! Nias Wangen nahmen eine leichte rosa Farbe an. Sie war es überhaupt nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen oder gar Beifall zu ernten!
Seitdem sie Cedric erweckt hatte, fühlte sie sich, als wäre ihr Herz schwerer geworden. Aber es lag nicht an der Tatsache, dass sie ausgerechnet den Unsympath als Huan hatte... Nein, es war wie eine Last, wie eine unbekannte Kraft, die auf sie wirkte und mit der sie noch nicht umzugehen wusste. Außerdem beschlich sie seltsamerweise das Gefühl, als würde sie Cedric mehr... "wahrnehmen". Es war ganz so, als wüsste sie jederzeit, wo er sich befand. Gedankenverloren berührte sie die Stelle an ihrer Brust, die ihr so schwer erschien. Cedric schaute sie von der Seite an. "Geht's?", vernahm Nia die kaum hörbare Frage des blonden Hünen neben sich. Ohne aufzusehen nickte sie. Es musste gehen – eine andere Wahl hatte sie scheinbar auch gar nicht.
Mit einer Handbewegung bedeutete Frau Wood den beiden, sich wieder hinzusetzen. Diesem Wunsch kam vor allem Nia liebend gerne nach. Die viele Aufmerksamkeit hatte sie fast schwindelig gemacht. Der Beifall verebbte sofort, als die Pädagogin hinter das Pult trat.
"In der Welt der Huans gibt es viele strikte Regeln. Die meisten werdet ihr erst im Laufe der Zeit kennenlernen. Versucht erst gar nicht, diese Regeln zu brechen – ihr werdet euch im wahrsten Sinne des Wortes nur selbst schaden.
Eine Tatsache ist, dass ein weiblicher Ruler oder Waker nur männliche Huans haben kann und umgekehrt: Männliche Ruler haben nur weibliche Huans."
Bei diesen Worten wurden die Augen der Schüler tellergroß und Mädchen sowie Jungs brachen in Jubel aus. Die männlichen Schüler träumten von gertenschlanken, wunderschönen und großbusigen Models während die Mädchen auf ihren persönlichen Ritter auf einem weißen Pferd hofften. Nias Herz schlug schneller. Was sie wohl für einen weiteren Huan bekommen würde? War er nett und sympathisch? Sie konnte ja schlecht so viel schlechtes Karma haben, dass sie noch so jemanden wie Cedric abbekommen würde – asozial und unterkühlt. Für eine Sekunde schoss ihr das Bild von Salvatore durch den Kopf und sie lief hochrot an. Allein der Gedanke war absolut absurd!
Und dennoch... Trotz der ganzen Euphorie konnte sich Nia nicht mit alldem anfreunden. Es war alles einfach zu bizarr. Tiermenschen? Trotz der Tatsache, dass Frau Wood ihren Kopf um mehr als 180° gedreht hatte, konnte sie das noch nicht so recht glauben... Und warum so eine seltsame Regel, dass ein weiblicher Ruler nur männliche Huans haben darf und umgekehrt? Das ergab doch keinen Sinn... oder?
Bevor sich Nia weiter mit dieser Frage beschäftigen konnte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. "Im Raum nebenan erwarten euch eure potentiellen Huans-Partner. Wir werden jetzt rübergehen und werden einen Huan nach dem anderen erwecken, so wie wir es eben bei Nia und Cedric gesehen haben."
Ein weiterer Huan! Wer sie wohl erwarten würde? Nias Herz schlug mit einem Mal schneller und ihre Handflächen wurden nass. Ihre Finger kribbelten. Wer würde sie wohl erwarten? Es war so vollkommen neu, so anders für sie – nein. Es war aufregend für alle Anwesenden. In jedem Gesicht war eine angespannte Vorfreude zu erkennen. Es war eine Mischung aus purer Angst vor der bevorstehenden neuen, ungewohnten Situation und Freude auf die noch unbekannten Huans und ihre völlig neue Welt. Cedric schnaubte wütend, als er Nias verklärten Blick sah. Bei diesem Anblick musste Miguel leise in sich hineinlachen. Sie waren so einfach zu durchschauen!
~*~
"Sie kommen.", hallte eine Stimme aus dem hinteren Eck. Die Gruppe der Huans starrte gebannt auf die große, eicherne Türe. Nun würde sich entscheiden, wer ihre Herrscher waren... ihre Ruler, denen sie zu dienen hatten bis in den Tod. Sie wurden zu ihren Werkzeugen und in wenigen Augenblicken würde sich alles entscheiden. Selbst der Rotschopf war die Aufregung deutlich anzusehen. Sein Kiefer war angespannt und er hatte einen Stift so verkrampft in der Hand, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Es war, als wären alle Geräusche auf der Welt verschluckt worden. Nicht einmal den eigenen Atem nahm man war.
Und dann öffnete sich die Tür.
~*~
Die zukünftigen Ruler strömten in den Raum, der wie ein typisches Klassenzimmer aufgebaut war: Einzelne Bänke mit Stühlen. Nur der Stuck an der Decke und die reichen Verzierungen an der Wand erinnerten daran, dass es hier keine gewöhnliche Schule war.
Tonia, die Chefin der Gerüchteküche war kreidebleich. Und sie musste dringend auf die Toilette – typisch Frau. Sie wollte das alles nicht, sie wollte zurück – zurück zu Tanja, die aus unerfindlichen Gründen nicht da war. Anita, der Albino des Gerüchteküchetrios tätschelte vorsichtig ihre Hand. Sie waren nicht allein. Und wie es aussah, waren die Huans mindestens genauso angespannt wie sie selber. Am liebsten hätte sich Anita übergeben, so nervös war sie, aber das hätte wohl niemandem geholfen. Sie atmete scharf ein, als sie die Huans ansah.
Es waren alles Mitschüler von ihnen aus verschiedenen Parallelklassen. Keinem einzigen von ihnen sah man ihre "Besonderheit" an... Ihr Mischwesen!
Als sich einer der Huans erhob, zuckten alle Mädchen zusammen, als wären sie vom Blitz getroffen worden.
"Willkommen in der Welt der Huans. Wir sind halb Tier und halb Mensch und würden gerne jetzt den Wake-Vorgang mit euch durchführen.", ertönte die samtige Stimme des großgewachsenen Huan. Feine braune Locken wippten, als er auf sie zukam. Normalerweise zierte ein sanftes Lächeln seine hübschen Gesichtszüge, aber es war nun ein sehr angespanntes und... berechnendes Lächeln.
Salvatore Zefalus.
Tonias Denken setzte aus. Hieß das etwa, dass Salvatore auch ein Huan war? Wieso hatte sie das nie bemerkt? Was würde sie machen, wenn sie nicht sein Ruler war? Weinen? Toben? Ihn gewaltsam dazu zwingen, ihr Huan zu sein? Sie wusste es nicht, aber sie hatte das Gefühl, etwas würde in ihr zerbrechen, wenn sie nicht die "Auserwählte" war.
Es herrschte eine angespannte Stille. Huans und zukünftige Ruler musterten sich skeptisch und aufgeregt. Jeder sah seine Mitschüler jetzt im neuen Licht. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sich keiner auch nur einen Millimeter bewegt hatte, trat Frau Wood in ihre Mitte.
"So, inzwischen sind alle da.", hallte ihre Stimme durch den Raum. "Alle Huans stellen sich iin einer Reihe auf, Jungs und Mädchen getrennt. Nur Salvatore kommt zu mir."
Die Herzen aller Mädchen sanken. Bitteres, Enttäuschtes und wütendes Gemurmel brandete auf. Salvatore durfte nicht der einzige Ruler in der Klasse sein! Das war einfach unmöglich, oder? Herbe Enttäuschung stieg in Tonia auf. Was machte sie sich vor? Salvatore war unantastbar, warum hatte sie sich auch nur für eine Sekunde eingebildet, er wäre ihr Huan? Oder generell, dass er überhaupt ein Huan wäre? Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Schulschwarm ein Mischwesen sein könnte...
"Meine Klasse stellt sich den Huans gegenüber. Nia, Cedric, ihr beide kommt hierher.", ordnete die Pädagogin im strengen Tonfall an und ging in Richtung Pult. Die empörten Kommentare der Schülerinnen perlten von Frau Wood ab wie Wasser von einer Lotusblüte. Wo käme sie auch hin, wenn sie sich von solch einer Kleinigkeit aus der Bahn werfen lassen würde? Dennoch waren ihre Fingerspitzen eiskalt, als sie neben ihrem Schwarm Salvatore stand. Cedric hatte sie inzwischen komplett ausgeblendet. Mit unterdrückter Wut funkelte der blonde Hüne seinen begehrten Mitschüler an. Als dieser seine Blicke bemerkte, schenkte er ihm ein kleines, förmlich provozierendes und leicht überhebliches Lächeln. Es war anders als sein sonst so strahlendes Lächeln – oder kam das nur Nia so vor?
"Wie vermutet ist Cedric Nias Huan", raunte Frau Wood Salvatore zu, Inzwischen waren die anderen Schüler sich selbst überlassen und begannen allmählich und sehr verhalten mit dem Wake-Vorgang.
Innerlich wie äußerlich bebte Tonia. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Alles fühlte sich so unglaublich surreal an und ihr war einfach nur schlecht. Beflissen setzte sie sich mit Stift und Papier an den nächstbesten Tisch und faltete die Hände zusammen. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren... Alle anderen waren mindestens genauso angespannt wie sie. Am liebsten hätte sie vor Wut und Frustration geschrien. Was ging hier vor? War das alles eingefädelt und wollten sie sie aufs Glatteis führen? Niemand hatte gesehen, wie sich einer dieser angeblichen "Huans" in ein richtiges Tier verwandelt. Das war alles mehr als lächerlich! Allein die Idee war schon abstrus und pervers. Tiermenschen? Das klang nach Jurassic Park 4! Galle stieg ihr hoch und sie umklammerte den Stift fest. So einfach würde sie nicht hinters Licht geführt werden. Diese ganze Maskarade würde aufgedeckt werden und in der Gerüchteküche veröffentlicht werden! Und an niemanden würde sie ein gutes Haar lassen – vor allem nicht an Frau Wood und Nia. Diese Schauspieler, die alles perfekt inszeniert hatten! Auch Cedric stand ganz oben auf ihrer Liste.
Ihr aufkochendes Blut wurde durch die Anwesenheit einer ihrer Mitschüler jäh abgekühlt. Es hatte sich ein schmächtiger Junge Tonia gegenüber hingesetzt. Obwohl er in ihrem Alter sein musste, hatte er bereits graue Haare. Seine tiefbraunen Augen wirkten durch die heruntergezogenen Schlupflider traurig und verletzt.
"M-mein Name ist H-Hans!", stotterte er. Tonia verdrehte die Augen. Stotternde Tiermenschen? Hoffentlich war das die Nervosität und kein Sprachfehler. Sie seufzte und starrte ihn an. Falls er nicht ihr Huan war, war jede Vorstellung reine Zeitverschwendung. Gewissenhaft musterte die Gerüchteküchechefin ihn von oben bis unten. Er hatte kein besonderes Aussehen – durchschnittlich war ein Kompliment. Eher ein Allerweltsgesicht, dass man so schnell wieder vergisst wie man es gesehen hat. Seine mondrunden Gesichtszüge passten so gar nicht zu seinem sonst zierlichen Körperbau. Tonia verengte die Augen. Tiermerkmale musste sie also erkennen, ja? Ihre Stirn durchzogen tiefe Falten. In seinem Gesicht war nichts zu sehen... keine tierischen Haare, Augen oder Haut... Auch die Ohren sahen vollkommen normal aus. Tonia wurde immer irritierter. Wie sollte das ganze überhaupt aussehen mit den tierischen Merkmalen? Gerade als sie den Mund öffnen und wüst fluchen wollte, kam jemand in ihr Blickfeld und stützte sich provokativ auf ihrem Tisch auf.
"Lass mich mal ran, Hanswurst.", kicherte der Junge mit schwarzem Pony und rot gefärbten Haaren. Das Wellenmuster in seinem Haar und das freche Grinsen vervollständigte das Gesamtbild eines aufdringlichen Rowdys. Seine roten Augen funkelten regelrecht, als er Tonia von oben bis unten anzüglich musterte. "Gar nicht übel, Kleine!", pfiff er durch die Zähne und blieb mit dem Blick an ihrem Oberkörper hängen. Mit einem Ruck war die Angesprochene aufgestanden. Sie betrachtete ihren Mitschüler als wäre er nicht mehr Wert als ein Insekt. Vollkommen ruhig und mit sicherer Hand fasste sie ihm in den Schritt.
"Ziemlich übel, Kleiner.", kicherte Tonia und grinste anzüglich. Er sprang zurück. Die Stühle versperrten ihm den Weg. Ein lautes Krachen ertönte und er verlor das Gleichgewicht. Mit schmerzenden Gliedern fand er sich zwischen Stuhlbeinen wieder. Sein Gesicht war wutverzerrt und rot zugleich. Tonia baute sich mit verschränkten Armen vor ihm auf. Ihr Blick ließ einen das Blut in den Adern gefrieren.
"Du---!", setzte er an und es klang, als würde er Gift spritzen. Er knrischte mit den Zähnen und ballte die Fäuste. Gleich würde er dieser eingebildeten Tussi eine einschenken, dass sie nicht mehr wusste, wo oben und unten war!
"Sei still du falsche-", polterte die Chefin der Gerüchteküche und weitete plötzlich die Augen. Waren das... Scheren an seinen Händen? Schwarze, krabbenähnliche Scheren?
Sie sog Luft zwischen den Zähnen ein und blinzelte mehrmals.
Das konnte nicht sein!
Auch ihr Gegenüber erstarrte. War dieses schreckliche Weib etwa...? Eigentlich war er nur zufällig zu ihr gegangen, um sie zu foppen! Hatte er etwa mitten ins Schwarze getroffen? Er wusste ebensowenig wie die angehenden Ruler, zu wem sie eigentlich gehörten! Er knirschte erneut mit den Zähnen. Galle stieg ihm hoch.
Nun bückte sich Tonia und starrte ihm direkt ins Gesicht. Langsam, Zentimeter für Zentimeter wanderte ihr Blick seinen Körper hinunter. War das ein schwarzer Panzer, den sie da sah? Es war wie eine Illusion, nicht mehr als die Farbintensität eines Regenbogens... Aber sie konnte es nicht von der Hand weisen.
Da war etwas.
Sie konnte etwas... sehen.
Auf dem Boden schlängelte sich etwas gepanzertes, langes, schwarzes mit einer schwarzroten Spitze. Tonia schlug die Hand vorm Mund.
Wie von einer unsichtbaren Hand geführt griff sie zu Stift und Papier unweit von sich. Es war nicht möglich, oder doch? Ihre Hände zitterten. Dennoch setzte sie den Stift sicher auf und zeichnete ohne zu zögern.
Der Schüler mit dem Haarmuster war wie vom Donner gerührt und lag nach wie vor zwischen den Stuhlbeinen. Er wagte es nicht zu atmen. Allgemein hatten die beiden stolzen Streithähne schon geraume Zeit die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Jeder im Raum wartete gebannt, ob die beiden tatsächlich Waker und Huan waren.
Der Junge fühlte nichts. Es war so unrealistisch. Alles war taub. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, als die arrogante Kuh auf ihn zukam und ihm den Zettel vorhielt.
Ihre Hand zitterte.
Auch ohne auf das Blatt zu sehen wusste er, dass sie sein Ruler war. Dennoch betrachtete er voller Abscheu die Zeichnung.
Ein schwarzer Skorpion.
Wie in Trance kniete er sich vor ihr.
"Mein Name ist Akuma. Ich bin ein Skorpion-Huan und werde dir stets zu Diensten sein – bis der Tod uns scheidet." Die Worte kamen ohne Emotionen. Ein auswendig gelernter Spruch, der aber allen Anwesenden etwas vor Augen führte.
Das war nicht mehr die "Welt", die sie kannten.
Und es war ganz gewiss kein Spiel.
"Mein Name ist Tonia Dierl und ich bin dein Ruler.", antwortete die Anführerin der Gerüchteküche mit harter Stimme, während sie ihre zitternde Hand hinter ihrem Rücken versteckte.
Sie wollte das nicht. Sie wollte das alles nicht. Sie wollte weg. Oder aufwachen aus diesem grausamen Traum. Sie schaute zu Salvatore und wurde bis zu den Haarspitzen rot, als sich ihre Blicke trafen. Nia stand ganz verdattert daneben. Diese kleine, schwache Heulsuse! Tonia stieg die Galle hoch. Salvatore schien nicht ihr eigener Huan zu sein... Stattdessen hatte sie einen kleinen Gangster-Skorpion an ihrer Seite.
Frau Wood klatschte in die Hände. "Wenn wir alle atemlos jeden einzelnen Wakevorgang verfolgen, werden wir die nächsten drei Tage hier Schimmel ansetzen." Etwas murrig setzten sich die Schüler wieder in Bewegung.
Erneut wandte sich die Lehrerin an Salvatore. "Wie gesagt, Cedric ist Nias Huan. Du weißt, was das bedeutet, falls..." Der unvollendete Satz wirkte wie eine unheilvolle Drohung.
"Dessen bin ich mir durchaus bewusst", wandte Salvatore ruhig ein und fixierte Nia dabei. Binnen Sekunden hatte ihre Gesichtsfarbe einen roten Ton. Cedric schnaubte.
Hieß das etwa...? Dass Salvatore ihr...? Nia konnte diese Gedanken gar nicht zuende denken. Tausend Schmetterlinge flogen in ihrem Bauch förmlich Amok. Am liebsten wollte sie sich kneifen, damit sich das Ganze nicht schlussendlich als Traum herausstellte.
Salvatore drehte sich mit einem Lächeln um. "Nia, zeichne mich bitte."
Erneut schnaubte Cedric. Als der Frauenschwarm den blonden Hünen einen Blick zuwarf, wurde sein Lächeln noch breiter. "Hast du Schnupfen, Meister Petz?" Das böse Funkeln von Cedric sprach Bände, was er von Salvatore hielt. Er ging an eine nahegelegene Wand und lehnte sich dagegen, um das Spektakel aus sicherer Entfernung mit anzusehen. Abermals wandte sich der Dunkelhäutige zur tomatenrot angelaufenen Nia. "Draw me like one of your french girls.", flüsterte er und lachte leise. Galant führte er sie zu einem Stuhl und setzte sich selber lässig auf den Tisch. Geduldig ließ er sich von Nia röntgen. Man konnte nicht sicher sein, was ihn mehr belustigte: Nias schüchterne, aber forschende Blicke oder Cedrics hasserfüllter Blick?
Nias Wangen glühten, als sie das Gesicht des Frauenschwarms hingebungsvoll studierte. Er hatte so feine Gesichtszüge und seidige Haare... Seine Augen waren so moosgrün und stechend, dass sie direkt auf den Grund ihrer Seele schauen konnten. Die markanten, wohlgeformten Wangenknochen verliehen ihm etwas Erhabenes, Edles. Seine dunklere Haut verlieh ihm etwas Aufregendes.
Ihr Blick wanderte weiter nach unten. Keine Sekunde ließ er sie aus den Augen und verfolgte genau, wie sie ihn ansah. Die Schmetterlinge in Nias Bauch machten Purzelbäume. Dennoch wurde sie immer unruhiger, je mehr sie ihren Schwarm betrachtete. Sie konnte nicht ein einziges tierisches Merkmal bei ihm erkennen wie bei Cedric! Warum um alles in der Welt warern sie sich überhaupt so sicher, dass Salvatore ihr Huan war? Nia konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, auch mit Salvatore in den Kndergarten gegangen zu sein!
Inzwischen rasten ihre Blicke Salvatores Körper hoch und runter.
Nichts.
Rein gar nichts!
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Es war nicht so, als hätte sie damit gerechnet, dass sie ihren Schwarm als Huan bekommen würde, aber... warum machte man ihr erst solche Hoffnungen, um sie letzten Endes so zu zerstören? Auch Cedrics abweisendes Verhalten wirkte ganz so, als wäre er sich der Sache eigentlich ganz sicher.
Panisch drehte sich Nia zum blonden Hünen, der wider erwarten einen schmerzverzerrten Gesichtsausdruck hatte. Als er Nias erstaunten Ausdruck sah, wurde er wieder zur steinernen, eiskalten Maske wie sie es kannte. Was ging hier vor sich?
"Setz dich nicht so unter Druck.", echote Salvatore sanft und sah dabei Cedric belustigt an. Er war wirklich so einfach zu lesen wie ein offenes Buch. Sanft nahm Salvatore Nia bei der Hand. Erschrocken weiteten sich sowohl ihre als auch die Augen des blonden Hünen an der Wand. Vorsichtig zog der Frauenschwarm das Mädchen zu sich heran und legte seinen anderen Arm um ihre Hüfte.
"Schau mir tief in die Augen. Die Augen sind das Fenster zur Seele.", murmelte er. "Was siehst du?"
Nia hatte das Gefühl, ihr Herz würde gleich zerbersten. Sie lag förmlich in den Armen ihres Schwarms und das auch noch vor allen anderen! Es war ihr nicht einmal möglich zu sagen, ob die abgestrahlte Hitze von ihrem roten Kopf, Salvatores Körper oder der Wut der Gerüchtekücheleuten ausging. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus allen drei Faktoren.
Die Zunge des schwarzhaarigen Mädchens klebte an ihrem Gaumen. Jedes Wort war ihr entfallen. Ihr war schwindlig vor Glück. Mutig hob sie den Kopf und schaute ihm in die Augen. Kleine Lachfalten hatten sich um sie gebildet. Lange, pechschwarze Wimpern umrahmten das Ganze. Die von dunkler Haut und pechschwarzen Haaren umrahmten, grüngelben Augen leuchteten förmlich.
Nia keuchte.
Grüngelbe Augen?
Sie rieb sich mit der freien Hand die Augen. Salvatores Augen waren moosgrün und nicht gelblich! Und... Pupillen wie ein Raubtier? Was um alles in der Welt...?
Ihr Herzschlag setzte aus, als eine Art Luftbild hinter seinem Rücken zu erkennen war. Es war etwas braunes – ganz ähnlich seiner Hautfarbe.
Es waren Federn! Salvatore Zefalus hatte Flügel!
Entgeistert starrte sie erst mehrere Sekunden auf das Flügelpaar und dann wieder Salvatore ins Gesicht. Schweiß rann ihr die Stirn hinunter. Salvatore grinste schelmisch, als er sie musterte. Sie hatte es fast. Sein Plan würde aufgehen.
Je länger Nia ihren Klassenkameraden musterte, desto mehr fiel ihr seine majestätische, stolze Figur auf. Er war erhaben. Er hatte etwas Königliches an sich. Er war nicht irgendein Vogel, er war das Machtsymbol unter all den Vögeln.
Langsam kam es ihr. Mit sanfter Gewalt und wie im Trance griff sie zum Stift. Vorsichtig setzte sie den Bleistift auf das Blatt und begann zu zeichnen. Cedric hatte die Arme verschränkt und krallte sich regelrecht in sein eigenes Fleisch. Er wollte das nicht. Er wollte das alles nicht. Aber es gab kein zurück. Das gab es schon lange nicht mehr. Und was würde sich ändern, wenn er jetzt dazwischen ging? Der Stein war ins Rollen gebracht worden und würde sich nicht stoppen lassen, bis er den Fuß des Berges erreicht hatte. Er wusste das.
Und doch...
Ihr Mund war staubtrocken und sie hatte das Gefühl, als hätte sie die Kontrolle über ihre Hand verloren. Mit der Zunge befeuchtete Nia ihre spröden Lippen.
Flügel, Schnabel, Augen... Gefiederfarbe.
Nia war klitschnass geschwitzt.
Nichts auf der Welt wünschte sich das Mädchen sehnlicher, als dass Salvatore ihr Huan war. Egal was für Probleme auf sie zukommen würden. Mit unsicherer, zittriger Hand hielt sie ihr vollendetes Kunstwerk und zeigte es ihrem Klassenkameraden. Nia traute sich nicht einmal, ihn anzusehen.
In diesem Moment hielten wieder alle Schüler – egal ob Huan oder Waker inne.
Vorsichtig öffnete Nia die Augen und linste in Richtung Salvatore. Er lächelte breit.
Langsam legte er seine Hand auf seine Brust.
"Mein Name ist Salvatore Zefalus. Ich bin ein Weißkopfseeadler-Huan und werde dir stets zu Diensten sein – bis der Tod uns scheidet."
Nia spürte eine seltame Kraft in sich aufsteigen. Eine allesverschlingende, mächtige Energie. Sie keuchte. Ein brennender Schmerz in der Brust schien sie zu verbrennen. Sie klammerte sich an den Tisch.
Und dann wurde alles schwarz.
Vollkommen entnervt trommelte der rothaarige Junge mit dem schwarzen Pony auf dem Tisch herum. "Was dauert das alles so lange?", zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und fuhr sich dabei durch den schwarzen Pony. Sein Haarmuster mit psychadelischen Schnörkeln zog einen dabei direkt in den Bann. "Hat eigentlich einer von denen den anderen Bescheid gegeben?", fragte er ins Leere, während er mit dem Finger in seinem linken Ohr fummelte.
Sein Sitznachbar mit seidig glänzenden, hellbraunen Haaren und den markanten Wangenknochen hob seinen Kopf von seinem Buch. "Falls du mit 'denen den anderen' die Ruler und ihre zurückgebliebenen Freunde meinst... Nein. Wie hätten sie das auch können? Sie wurden ja förmlich hierher entführt. Niemand denkt an die 'Hinterbliebenen'..."
Die Blicke der Anwesenden verdunkelten sich sichtbar.
Von nun an gab es kein Zurück mehr. Weder für die Ruler... noch für sie selbst.
~*~
Es hatte eine Augenblicke gedauert, bis alle Anwesenden begriffen hatten, dass gerade ein Huan erweckt worden war. Sie wussten alle nicht, wie sie reagieren sollten. Fröhlich, weil Nia ihren Huan gefunden hatte? Oder traurig, weil Cedric Nia als Waker erwischt hatte? Letztlich entschieden sie sich für Beifall und Pfiffe, denn nun konnte niemand mehr Cedric als Huan abbekommen - worüber alle mehr als glücklich waren! Nias Wangen nahmen eine leichte rosa Farbe an. Sie war es überhaupt nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen oder gar Beifall zu ernten!
Seitdem sie Cedric erweckt hatte, fühlte sie sich, als wäre ihr Herz schwerer geworden. Aber es lag nicht an der Tatsache, dass sie ausgerechnet den Unsympath als Huan hatte... Nein, es war wie eine Last, wie eine unbekannte Kraft, die auf sie wirkte und mit der sie noch nicht umzugehen wusste. Außerdem beschlich sie seltsamerweise das Gefühl, als würde sie Cedric mehr... "wahrnehmen". Es war ganz so, als wüsste sie jederzeit, wo er sich befand. Gedankenverloren berührte sie die Stelle an ihrer Brust, die ihr so schwer erschien. Cedric schaute sie von der Seite an. "Geht's?", vernahm Nia die kaum hörbare Frage des blonden Hünen neben sich. Ohne aufzusehen nickte sie. Es musste gehen – eine andere Wahl hatte sie scheinbar auch gar nicht.
Mit einer Handbewegung bedeutete Frau Wood den beiden, sich wieder hinzusetzen. Diesem Wunsch kam vor allem Nia liebend gerne nach. Die viele Aufmerksamkeit hatte sie fast schwindelig gemacht. Der Beifall verebbte sofort, als die Pädagogin hinter das Pult trat.
"In der Welt der Huans gibt es viele strikte Regeln. Die meisten werdet ihr erst im Laufe der Zeit kennenlernen. Versucht erst gar nicht, diese Regeln zu brechen – ihr werdet euch im wahrsten Sinne des Wortes nur selbst schaden.
Eine Tatsache ist, dass ein weiblicher Ruler oder Waker nur männliche Huans haben kann und umgekehrt: Männliche Ruler haben nur weibliche Huans."
Bei diesen Worten wurden die Augen der Schüler tellergroß und Mädchen sowie Jungs brachen in Jubel aus. Die männlichen Schüler träumten von gertenschlanken, wunderschönen und großbusigen Models während die Mädchen auf ihren persönlichen Ritter auf einem weißen Pferd hofften. Nias Herz schlug schneller. Was sie wohl für einen weiteren Huan bekommen würde? War er nett und sympathisch? Sie konnte ja schlecht so viel schlechtes Karma haben, dass sie noch so jemanden wie Cedric abbekommen würde – asozial und unterkühlt. Für eine Sekunde schoss ihr das Bild von Salvatore durch den Kopf und sie lief hochrot an. Allein der Gedanke war absolut absurd!
Und dennoch... Trotz der ganzen Euphorie konnte sich Nia nicht mit alldem anfreunden. Es war alles einfach zu bizarr. Tiermenschen? Trotz der Tatsache, dass Frau Wood ihren Kopf um mehr als 180° gedreht hatte, konnte sie das noch nicht so recht glauben... Und warum so eine seltsame Regel, dass ein weiblicher Ruler nur männliche Huans haben darf und umgekehrt? Das ergab doch keinen Sinn... oder?
Bevor sich Nia weiter mit dieser Frage beschäftigen konnte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. "Im Raum nebenan erwarten euch eure potentiellen Huans-Partner. Wir werden jetzt rübergehen und werden einen Huan nach dem anderen erwecken, so wie wir es eben bei Nia und Cedric gesehen haben."
Ein weiterer Huan! Wer sie wohl erwarten würde? Nias Herz schlug mit einem Mal schneller und ihre Handflächen wurden nass. Ihre Finger kribbelten. Wer würde sie wohl erwarten? Es war so vollkommen neu, so anders für sie – nein. Es war aufregend für alle Anwesenden. In jedem Gesicht war eine angespannte Vorfreude zu erkennen. Es war eine Mischung aus purer Angst vor der bevorstehenden neuen, ungewohnten Situation und Freude auf die noch unbekannten Huans und ihre völlig neue Welt. Cedric schnaubte wütend, als er Nias verklärten Blick sah. Bei diesem Anblick musste Miguel leise in sich hineinlachen. Sie waren so einfach zu durchschauen!
~*~
"Sie kommen.", hallte eine Stimme aus dem hinteren Eck. Die Gruppe der Huans starrte gebannt auf die große, eicherne Türe. Nun würde sich entscheiden, wer ihre Herrscher waren... ihre Ruler, denen sie zu dienen hatten bis in den Tod. Sie wurden zu ihren Werkzeugen und in wenigen Augenblicken würde sich alles entscheiden. Selbst der Rotschopf war die Aufregung deutlich anzusehen. Sein Kiefer war angespannt und er hatte einen Stift so verkrampft in der Hand, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Es war, als wären alle Geräusche auf der Welt verschluckt worden. Nicht einmal den eigenen Atem nahm man war.
Und dann öffnete sich die Tür.
~*~
Die zukünftigen Ruler strömten in den Raum, der wie ein typisches Klassenzimmer aufgebaut war: Einzelne Bänke mit Stühlen. Nur der Stuck an der Decke und die reichen Verzierungen an der Wand erinnerten daran, dass es hier keine gewöhnliche Schule war.
Tonia, die Chefin der Gerüchteküche war kreidebleich. Und sie musste dringend auf die Toilette – typisch Frau. Sie wollte das alles nicht, sie wollte zurück – zurück zu Tanja, die aus unerfindlichen Gründen nicht da war. Anita, der Albino des Gerüchteküchetrios tätschelte vorsichtig ihre Hand. Sie waren nicht allein. Und wie es aussah, waren die Huans mindestens genauso angespannt wie sie selber. Am liebsten hätte sich Anita übergeben, so nervös war sie, aber das hätte wohl niemandem geholfen. Sie atmete scharf ein, als sie die Huans ansah.
Es waren alles Mitschüler von ihnen aus verschiedenen Parallelklassen. Keinem einzigen von ihnen sah man ihre "Besonderheit" an... Ihr Mischwesen!
Als sich einer der Huans erhob, zuckten alle Mädchen zusammen, als wären sie vom Blitz getroffen worden.
"Willkommen in der Welt der Huans. Wir sind halb Tier und halb Mensch und würden gerne jetzt den Wake-Vorgang mit euch durchführen.", ertönte die samtige Stimme des großgewachsenen Huan. Feine braune Locken wippten, als er auf sie zukam. Normalerweise zierte ein sanftes Lächeln seine hübschen Gesichtszüge, aber es war nun ein sehr angespanntes und... berechnendes Lächeln.
Salvatore Zefalus.
Tonias Denken setzte aus. Hieß das etwa, dass Salvatore auch ein Huan war? Wieso hatte sie das nie bemerkt? Was würde sie machen, wenn sie nicht sein Ruler war? Weinen? Toben? Ihn gewaltsam dazu zwingen, ihr Huan zu sein? Sie wusste es nicht, aber sie hatte das Gefühl, etwas würde in ihr zerbrechen, wenn sie nicht die "Auserwählte" war.
Es herrschte eine angespannte Stille. Huans und zukünftige Ruler musterten sich skeptisch und aufgeregt. Jeder sah seine Mitschüler jetzt im neuen Licht. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sich keiner auch nur einen Millimeter bewegt hatte, trat Frau Wood in ihre Mitte.
"So, inzwischen sind alle da.", hallte ihre Stimme durch den Raum. "Alle Huans stellen sich iin einer Reihe auf, Jungs und Mädchen getrennt. Nur Salvatore kommt zu mir."
Die Herzen aller Mädchen sanken. Bitteres, Enttäuschtes und wütendes Gemurmel brandete auf. Salvatore durfte nicht der einzige Ruler in der Klasse sein! Das war einfach unmöglich, oder? Herbe Enttäuschung stieg in Tonia auf. Was machte sie sich vor? Salvatore war unantastbar, warum hatte sie sich auch nur für eine Sekunde eingebildet, er wäre ihr Huan? Oder generell, dass er überhaupt ein Huan wäre? Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Schulschwarm ein Mischwesen sein könnte...
"Meine Klasse stellt sich den Huans gegenüber. Nia, Cedric, ihr beide kommt hierher.", ordnete die Pädagogin im strengen Tonfall an und ging in Richtung Pult. Die empörten Kommentare der Schülerinnen perlten von Frau Wood ab wie Wasser von einer Lotusblüte. Wo käme sie auch hin, wenn sie sich von solch einer Kleinigkeit aus der Bahn werfen lassen würde? Dennoch waren ihre Fingerspitzen eiskalt, als sie neben ihrem Schwarm Salvatore stand. Cedric hatte sie inzwischen komplett ausgeblendet. Mit unterdrückter Wut funkelte der blonde Hüne seinen begehrten Mitschüler an. Als dieser seine Blicke bemerkte, schenkte er ihm ein kleines, förmlich provozierendes und leicht überhebliches Lächeln. Es war anders als sein sonst so strahlendes Lächeln – oder kam das nur Nia so vor?
"Wie vermutet ist Cedric Nias Huan", raunte Frau Wood Salvatore zu, Inzwischen waren die anderen Schüler sich selbst überlassen und begannen allmählich und sehr verhalten mit dem Wake-Vorgang.
Innerlich wie äußerlich bebte Tonia. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Alles fühlte sich so unglaublich surreal an und ihr war einfach nur schlecht. Beflissen setzte sie sich mit Stift und Papier an den nächstbesten Tisch und faltete die Hände zusammen. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren... Alle anderen waren mindestens genauso angespannt wie sie. Am liebsten hätte sie vor Wut und Frustration geschrien. Was ging hier vor? War das alles eingefädelt und wollten sie sie aufs Glatteis führen? Niemand hatte gesehen, wie sich einer dieser angeblichen "Huans" in ein richtiges Tier verwandelt. Das war alles mehr als lächerlich! Allein die Idee war schon abstrus und pervers. Tiermenschen? Das klang nach Jurassic Park 4! Galle stieg ihr hoch und sie umklammerte den Stift fest. So einfach würde sie nicht hinters Licht geführt werden. Diese ganze Maskarade würde aufgedeckt werden und in der Gerüchteküche veröffentlicht werden! Und an niemanden würde sie ein gutes Haar lassen – vor allem nicht an Frau Wood und Nia. Diese Schauspieler, die alles perfekt inszeniert hatten! Auch Cedric stand ganz oben auf ihrer Liste.
Ihr aufkochendes Blut wurde durch die Anwesenheit einer ihrer Mitschüler jäh abgekühlt. Es hatte sich ein schmächtiger Junge Tonia gegenüber hingesetzt. Obwohl er in ihrem Alter sein musste, hatte er bereits graue Haare. Seine tiefbraunen Augen wirkten durch die heruntergezogenen Schlupflider traurig und verletzt.
"M-mein Name ist H-Hans!", stotterte er. Tonia verdrehte die Augen. Stotternde Tiermenschen? Hoffentlich war das die Nervosität und kein Sprachfehler. Sie seufzte und starrte ihn an. Falls er nicht ihr Huan war, war jede Vorstellung reine Zeitverschwendung. Gewissenhaft musterte die Gerüchteküchechefin ihn von oben bis unten. Er hatte kein besonderes Aussehen – durchschnittlich war ein Kompliment. Eher ein Allerweltsgesicht, dass man so schnell wieder vergisst wie man es gesehen hat. Seine mondrunden Gesichtszüge passten so gar nicht zu seinem sonst zierlichen Körperbau. Tonia verengte die Augen. Tiermerkmale musste sie also erkennen, ja? Ihre Stirn durchzogen tiefe Falten. In seinem Gesicht war nichts zu sehen... keine tierischen Haare, Augen oder Haut... Auch die Ohren sahen vollkommen normal aus. Tonia wurde immer irritierter. Wie sollte das ganze überhaupt aussehen mit den tierischen Merkmalen? Gerade als sie den Mund öffnen und wüst fluchen wollte, kam jemand in ihr Blickfeld und stützte sich provokativ auf ihrem Tisch auf.
"Lass mich mal ran, Hanswurst.", kicherte der Junge mit schwarzem Pony und rot gefärbten Haaren. Das Wellenmuster in seinem Haar und das freche Grinsen vervollständigte das Gesamtbild eines aufdringlichen Rowdys. Seine roten Augen funkelten regelrecht, als er Tonia von oben bis unten anzüglich musterte. "Gar nicht übel, Kleine!", pfiff er durch die Zähne und blieb mit dem Blick an ihrem Oberkörper hängen. Mit einem Ruck war die Angesprochene aufgestanden. Sie betrachtete ihren Mitschüler als wäre er nicht mehr Wert als ein Insekt. Vollkommen ruhig und mit sicherer Hand fasste sie ihm in den Schritt.
"Ziemlich übel, Kleiner.", kicherte Tonia und grinste anzüglich. Er sprang zurück. Die Stühle versperrten ihm den Weg. Ein lautes Krachen ertönte und er verlor das Gleichgewicht. Mit schmerzenden Gliedern fand er sich zwischen Stuhlbeinen wieder. Sein Gesicht war wutverzerrt und rot zugleich. Tonia baute sich mit verschränkten Armen vor ihm auf. Ihr Blick ließ einen das Blut in den Adern gefrieren.
"Du---!", setzte er an und es klang, als würde er Gift spritzen. Er knrischte mit den Zähnen und ballte die Fäuste. Gleich würde er dieser eingebildeten Tussi eine einschenken, dass sie nicht mehr wusste, wo oben und unten war!
"Sei still du falsche-", polterte die Chefin der Gerüchteküche und weitete plötzlich die Augen. Waren das... Scheren an seinen Händen? Schwarze, krabbenähnliche Scheren?
Sie sog Luft zwischen den Zähnen ein und blinzelte mehrmals.
Das konnte nicht sein!
Auch ihr Gegenüber erstarrte. War dieses schreckliche Weib etwa...? Eigentlich war er nur zufällig zu ihr gegangen, um sie zu foppen! Hatte er etwa mitten ins Schwarze getroffen? Er wusste ebensowenig wie die angehenden Ruler, zu wem sie eigentlich gehörten! Er knirschte erneut mit den Zähnen. Galle stieg ihm hoch.
Nun bückte sich Tonia und starrte ihm direkt ins Gesicht. Langsam, Zentimeter für Zentimeter wanderte ihr Blick seinen Körper hinunter. War das ein schwarzer Panzer, den sie da sah? Es war wie eine Illusion, nicht mehr als die Farbintensität eines Regenbogens... Aber sie konnte es nicht von der Hand weisen.
Da war etwas.
Sie konnte etwas... sehen.
Auf dem Boden schlängelte sich etwas gepanzertes, langes, schwarzes mit einer schwarzroten Spitze. Tonia schlug die Hand vorm Mund.
Wie von einer unsichtbaren Hand geführt griff sie zu Stift und Papier unweit von sich. Es war nicht möglich, oder doch? Ihre Hände zitterten. Dennoch setzte sie den Stift sicher auf und zeichnete ohne zu zögern.
Der Schüler mit dem Haarmuster war wie vom Donner gerührt und lag nach wie vor zwischen den Stuhlbeinen. Er wagte es nicht zu atmen. Allgemein hatten die beiden stolzen Streithähne schon geraume Zeit die ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Jeder im Raum wartete gebannt, ob die beiden tatsächlich Waker und Huan waren.
Der Junge fühlte nichts. Es war so unrealistisch. Alles war taub. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, als die arrogante Kuh auf ihn zukam und ihm den Zettel vorhielt.
Ihre Hand zitterte.
Auch ohne auf das Blatt zu sehen wusste er, dass sie sein Ruler war. Dennoch betrachtete er voller Abscheu die Zeichnung.
Ein schwarzer Skorpion.
Wie in Trance kniete er sich vor ihr.
"Mein Name ist Akuma. Ich bin ein Skorpion-Huan und werde dir stets zu Diensten sein – bis der Tod uns scheidet." Die Worte kamen ohne Emotionen. Ein auswendig gelernter Spruch, der aber allen Anwesenden etwas vor Augen führte.
Das war nicht mehr die "Welt", die sie kannten.
Und es war ganz gewiss kein Spiel.
"Mein Name ist Tonia Dierl und ich bin dein Ruler.", antwortete die Anführerin der Gerüchteküche mit harter Stimme, während sie ihre zitternde Hand hinter ihrem Rücken versteckte.
Sie wollte das nicht. Sie wollte das alles nicht. Sie wollte weg. Oder aufwachen aus diesem grausamen Traum. Sie schaute zu Salvatore und wurde bis zu den Haarspitzen rot, als sich ihre Blicke trafen. Nia stand ganz verdattert daneben. Diese kleine, schwache Heulsuse! Tonia stieg die Galle hoch. Salvatore schien nicht ihr eigener Huan zu sein... Stattdessen hatte sie einen kleinen Gangster-Skorpion an ihrer Seite.
Frau Wood klatschte in die Hände. "Wenn wir alle atemlos jeden einzelnen Wakevorgang verfolgen, werden wir die nächsten drei Tage hier Schimmel ansetzen." Etwas murrig setzten sich die Schüler wieder in Bewegung.
Erneut wandte sich die Lehrerin an Salvatore. "Wie gesagt, Cedric ist Nias Huan. Du weißt, was das bedeutet, falls..." Der unvollendete Satz wirkte wie eine unheilvolle Drohung.
"Dessen bin ich mir durchaus bewusst", wandte Salvatore ruhig ein und fixierte Nia dabei. Binnen Sekunden hatte ihre Gesichtsfarbe einen roten Ton. Cedric schnaubte.
Hieß das etwa...? Dass Salvatore ihr...? Nia konnte diese Gedanken gar nicht zuende denken. Tausend Schmetterlinge flogen in ihrem Bauch förmlich Amok. Am liebsten wollte sie sich kneifen, damit sich das Ganze nicht schlussendlich als Traum herausstellte.
Salvatore drehte sich mit einem Lächeln um. "Nia, zeichne mich bitte."
Erneut schnaubte Cedric. Als der Frauenschwarm den blonden Hünen einen Blick zuwarf, wurde sein Lächeln noch breiter. "Hast du Schnupfen, Meister Petz?" Das böse Funkeln von Cedric sprach Bände, was er von Salvatore hielt. Er ging an eine nahegelegene Wand und lehnte sich dagegen, um das Spektakel aus sicherer Entfernung mit anzusehen. Abermals wandte sich der Dunkelhäutige zur tomatenrot angelaufenen Nia. "Draw me like one of your french girls.", flüsterte er und lachte leise. Galant führte er sie zu einem Stuhl und setzte sich selber lässig auf den Tisch. Geduldig ließ er sich von Nia röntgen. Man konnte nicht sicher sein, was ihn mehr belustigte: Nias schüchterne, aber forschende Blicke oder Cedrics hasserfüllter Blick?
Nias Wangen glühten, als sie das Gesicht des Frauenschwarms hingebungsvoll studierte. Er hatte so feine Gesichtszüge und seidige Haare... Seine Augen waren so moosgrün und stechend, dass sie direkt auf den Grund ihrer Seele schauen konnten. Die markanten, wohlgeformten Wangenknochen verliehen ihm etwas Erhabenes, Edles. Seine dunklere Haut verlieh ihm etwas Aufregendes.
Ihr Blick wanderte weiter nach unten. Keine Sekunde ließ er sie aus den Augen und verfolgte genau, wie sie ihn ansah. Die Schmetterlinge in Nias Bauch machten Purzelbäume. Dennoch wurde sie immer unruhiger, je mehr sie ihren Schwarm betrachtete. Sie konnte nicht ein einziges tierisches Merkmal bei ihm erkennen wie bei Cedric! Warum um alles in der Welt warern sie sich überhaupt so sicher, dass Salvatore ihr Huan war? Nia konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, auch mit Salvatore in den Kndergarten gegangen zu sein!
Inzwischen rasten ihre Blicke Salvatores Körper hoch und runter.
Nichts.
Rein gar nichts!
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Es war nicht so, als hätte sie damit gerechnet, dass sie ihren Schwarm als Huan bekommen würde, aber... warum machte man ihr erst solche Hoffnungen, um sie letzten Endes so zu zerstören? Auch Cedrics abweisendes Verhalten wirkte ganz so, als wäre er sich der Sache eigentlich ganz sicher.
Panisch drehte sich Nia zum blonden Hünen, der wider erwarten einen schmerzverzerrten Gesichtsausdruck hatte. Als er Nias erstaunten Ausdruck sah, wurde er wieder zur steinernen, eiskalten Maske wie sie es kannte. Was ging hier vor sich?
"Setz dich nicht so unter Druck.", echote Salvatore sanft und sah dabei Cedric belustigt an. Er war wirklich so einfach zu lesen wie ein offenes Buch. Sanft nahm Salvatore Nia bei der Hand. Erschrocken weiteten sich sowohl ihre als auch die Augen des blonden Hünen an der Wand. Vorsichtig zog der Frauenschwarm das Mädchen zu sich heran und legte seinen anderen Arm um ihre Hüfte.
"Schau mir tief in die Augen. Die Augen sind das Fenster zur Seele.", murmelte er. "Was siehst du?"
Nia hatte das Gefühl, ihr Herz würde gleich zerbersten. Sie lag förmlich in den Armen ihres Schwarms und das auch noch vor allen anderen! Es war ihr nicht einmal möglich zu sagen, ob die abgestrahlte Hitze von ihrem roten Kopf, Salvatores Körper oder der Wut der Gerüchtekücheleuten ausging. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus allen drei Faktoren.
Die Zunge des schwarzhaarigen Mädchens klebte an ihrem Gaumen. Jedes Wort war ihr entfallen. Ihr war schwindlig vor Glück. Mutig hob sie den Kopf und schaute ihm in die Augen. Kleine Lachfalten hatten sich um sie gebildet. Lange, pechschwarze Wimpern umrahmten das Ganze. Die von dunkler Haut und pechschwarzen Haaren umrahmten, grüngelben Augen leuchteten förmlich.
Nia keuchte.
Grüngelbe Augen?
Sie rieb sich mit der freien Hand die Augen. Salvatores Augen waren moosgrün und nicht gelblich! Und... Pupillen wie ein Raubtier? Was um alles in der Welt...?
Ihr Herzschlag setzte aus, als eine Art Luftbild hinter seinem Rücken zu erkennen war. Es war etwas braunes – ganz ähnlich seiner Hautfarbe.
Es waren Federn! Salvatore Zefalus hatte Flügel!
Entgeistert starrte sie erst mehrere Sekunden auf das Flügelpaar und dann wieder Salvatore ins Gesicht. Schweiß rann ihr die Stirn hinunter. Salvatore grinste schelmisch, als er sie musterte. Sie hatte es fast. Sein Plan würde aufgehen.
Je länger Nia ihren Klassenkameraden musterte, desto mehr fiel ihr seine majestätische, stolze Figur auf. Er war erhaben. Er hatte etwas Königliches an sich. Er war nicht irgendein Vogel, er war das Machtsymbol unter all den Vögeln.
Langsam kam es ihr. Mit sanfter Gewalt und wie im Trance griff sie zum Stift. Vorsichtig setzte sie den Bleistift auf das Blatt und begann zu zeichnen. Cedric hatte die Arme verschränkt und krallte sich regelrecht in sein eigenes Fleisch. Er wollte das nicht. Er wollte das alles nicht. Aber es gab kein zurück. Das gab es schon lange nicht mehr. Und was würde sich ändern, wenn er jetzt dazwischen ging? Der Stein war ins Rollen gebracht worden und würde sich nicht stoppen lassen, bis er den Fuß des Berges erreicht hatte. Er wusste das.
Und doch...
Ihr Mund war staubtrocken und sie hatte das Gefühl, als hätte sie die Kontrolle über ihre Hand verloren. Mit der Zunge befeuchtete Nia ihre spröden Lippen.
Flügel, Schnabel, Augen... Gefiederfarbe.
Nia war klitschnass geschwitzt.
Nichts auf der Welt wünschte sich das Mädchen sehnlicher, als dass Salvatore ihr Huan war. Egal was für Probleme auf sie zukommen würden. Mit unsicherer, zittriger Hand hielt sie ihr vollendetes Kunstwerk und zeigte es ihrem Klassenkameraden. Nia traute sich nicht einmal, ihn anzusehen.
In diesem Moment hielten wieder alle Schüler – egal ob Huan oder Waker inne.
Vorsichtig öffnete Nia die Augen und linste in Richtung Salvatore. Er lächelte breit.
Langsam legte er seine Hand auf seine Brust.
"Mein Name ist Salvatore Zefalus. Ich bin ein Weißkopfseeadler-Huan und werde dir stets zu Diensten sein – bis der Tod uns scheidet."
Nia spürte eine seltame Kraft in sich aufsteigen. Eine allesverschlingende, mächtige Energie. Sie keuchte. Ein brennender Schmerz in der Brust schien sie zu verbrennen. Sie klammerte sich an den Tisch.
Und dann wurde alles schwarz.