Kapitel 10: Sometimes 'Courage' is the little Voice that says...
Sie saß in einer dunklen, stillen Ecke und umklammerte ihre angewinkelten Beine. Sie wollte nichts und niemanden sehen. Niemanden hören. Sie wollte nur mit ihrem Schmerz alleine sein. Trotzdem hatte sie keine Träne vergossen. Der Schock saß einfach zu tief.
Wo waren sie hier gelandet? Was war das für ein perfides Spiel, das mit ihnen gespielt wurde?
Als sich ihr Schritte näherten, schaute sie nicht auf. Die Kraft und der Wille fehlte ihr dafür einfach.
„Tonia...“, flüsterte die helle Stimme, die sich wie ein Vogelgesang anhörte. Ohne weitere Worte setzte sich die weißhaarige Anita neben ihre beste Freundin und umarmte sie. „Ich bin da.“
Dieser Satz war besser als alle tröstenden Worte dieser Welt. Beide wussten, was die jeweils andere spürte. Es bedurfte keiner Worte.
Anita war ebenso traurig wie auch wütend. Auch sie hatte von ganzem Herzen gehofft, dass sie Salvatore ihren Huan nennen durfte. Die Enttäuschung war mehr als herb, als ausgerechnet die Heulsuse Nia Toshiki ihn erweckt hatte. Allein bei dem Gedanken daran stieg dem Albino-Mädchen die Galle hoch. Sie wusste im Grunde ihres Herzens, dass Nia persönlich nichts dafür konnte, dass Salvatore ihr Huan geworden war... Und dennoch konnte Anita nicht anders, als Nia dafür zu hassen. Es war pure Eifersucht und das wusste sie mehr als genau. Und dennoch...
Nia würde es zurückbekommen.
Aug um Aug, Zahn um Zahn.
~*~
Als Nia erwachte, befand sie sich in einem völlig fremden Raum.
Erschrocken fuhr sie hoch. Panisch schaute sie sich um. Wo war sie? Wie spät war es? Stimmen drangen von der anderen Seite der Tür an ihr Ohr. Wer war da? Was machte sie hier?
Die gelben Tapeten leuchteten regelrecht und das weiße Himmelbett wirkte wie im Märchen. Ein niedriger, reich verzierter Tisch stand auf einem orangeroten runden Teppich. An der Wand hing eine Uhr mit Teddybärohren. Es wirkte alles ganz wie ein Jugendzimmer. Aber wie war sie hierher gekommen?
Noch bevor sich Nia aus dem Bett bewegen konnte, ging die Tür auf. Im Rahmen stand Frau Wood mit einem sehr ernsten, aber ruhigen Blick.
"Du bist nach dem Wakevorgang von Salvatore ohnmächtig geworden. Ich denke, dass die Last zu groß war. Du hast es gespürt, nicht wahr? Dieses erdrückende, brennende Gefühl, wenn du deinen Huan erweckt hast? Nachdem er seine Macht mit dir teilt?"
Nia nickte stumm. Es war ihr zumute, als würde sie ertrinken. Jegliche Luft war aus ihren Lungen gewichen und auch jetzt spürte sie ein beklemmendes Gefühl in ihrer Brust.
Die Lehrerin schloss die Tür hinter sich und setzte sich ans Bettende. "Das hier ist übrigens dein neues Heim." Nias Augen weiteten sich. Ihr neues Heim? Aber---
"Du wirst nicht mehr ins alte Wohnheim zurückkehren. Dein neues Heim ist jetzt hier. Diese Schule ist von allen anderen abgeschottet." Der Herzschlag der schwarzhaarigen Schülerin setzte aus. Was war mit Katja? "Ich habe meiner besten Freundin Katja nicht Bescheid gegeben, dass ich weg bin! Wann kann ich hier raus?", fragte Nia ganz panisch. Das hörte sich ja an, als wären sie eingesperrt!
"So sind die Regeln.", schloss die Pädagogin erbarmungslos und ohne weitere Diskussion. "Ich werde dir jetzt erzählen, was ich den anderen vorhin schon gesagt habe. Das sind die Grundregeln der 'Huans'."
"Mit deinen beiden Huans wirst du Kämpfe bestreiten." Nia traute ihren Ohren kaum. Sie würden kämpfen? Irgendwo im Hinterkopf hatte sie sich bereits gedacht, dass sie nicht nur einfach so Huans 'bekommen' würde, aber... Kämpfe klangen doch brutal und... tödlich?
"Jeder Ruler hat einen defensiven und einen offensiven Huan. Das ist der Schlüsselpunkt bei den Kämpfen, denn es gibt verschiedene Möglichkeiten, ein Team zu besiegen: Entweder geht der Ruler in die Knie oder beide Huans werden besiegt. Selbstverständlich ist der defensive Huan dafür zuständig, den Ruler vor möglichem Schaden zu beschützen. Einleuchtend, oder?"
Nias vorherige Sorgen und beklemmende Gefühle waren damit nur milde gelindert. Es war zwar beruhigend zu wissen, dass sie nicht alleine oder schutzlos Angriffen ausgeliefert war, aber... Allein der Gedanke, mit und gegen Huans zu kämpfen, die doch eigentlich ihre Klassenkameraden waren... Das hatte doch einen sehr eigenen, fahlen Beigeschmack. Dennoch hing Nia Frau Wood an den Lippen. Obwohl das schwarzhaarige Mädchen Gewalt verabscheute, übte dieses System eine gewisse Faszination auf sie aus.
Nun seufzte die Lehrerin und nestelte an ihrer Manschette herum als wollte sie von etwas ablenken. Schließlich schob sie die Brille die Nase hoch.
"Ausnahmen bestätigen die Regel, nicht wahr?", fragte Frau Wood bohrend und betrachtete Nia dabei mit ihrem Röntgenblick.
Nia schluckte. Hatte sie unwissentlich etwas falsch gemacht? Nicht, dass sie wüsste, oder?
"Du hast zwei offensive Huans, Nia Toshiki. Cedric als Eisbär sowie Salvatore als Weißkopfseeadler..." Diese Worte kamen wie aus der Pistole geschossen. Das Mädchen war wie vom Donner gerührt. War das auch der Grund dafür gewesen, dass...? Frau Wood nickte, als hätte sie die Frage tatsächlich gehört.
"Deswegen bist du höchstwahrscheinlich auch ohnmächtig geworden. Die Last war einfach zu groß."
Es dauerte einige Sekunden, bis diese Botschaft die Schülerin tatsächlich erreichte.
"Aber-", begehrte Nia auf. Auch wenn sie sich unglaublich freute, dass Salvatore ihr Huan war – konnte man nichts gegen diese Ausnahmeregelung machen? Konnte man Huans nicht einfach tauschen?
"Kann man Huans nicht einfach austauschen?", fragte das schüchterne Mädchen, während es den Blick auf die Bettdecke gerichtet hatte und sich in dieser festkrallte. Sie wollte Cedric nicht als ihren Huan akzeptieren! Alles in ihrem Körper sträubte sich dagegen. Es war, als wäre sie mit einer natürlichen Abneigung ihm gegenüber geboren... Nia konnte nicht einmal erklären, woher dieses Gefühl überhaupt herrührte.
"Das ist unmöglich. Kein anderer Ruler kann einen Huan erwecken, der nicht sein eigener ist. Huans sind keine 'Dinge', die man einfach umtauschen kann!", erklärte die Lehrerin in einem scharfen und unmissverständlichen Ton. Sie seufzte, putzte ihre Brille an ihrer Bluse und setzte sie entnervt aber elegant wieder auf.
"Du kannst nichts daran ändern, darum mach einfach das Beste daraus. Letztlich kannst du zwischen zwei Strategien wählen: Entweder sind deine Huans so angriffsstark, dass sie die Gegner besiegen bevor dir etwas zustößt oder sie sind beide so schnell, dass sie sofort zur Stelle sind, wenn es bei dir brenzlig wird.
Du hast zwar deutlich schlechtere Karten als die anderen, aber du kannst zu einer echt harten Nuss im Kampf werden, wenn du viel trainierst und strategisch gut agierst. Wichtig ist dabei natürlich, dass deine beiden Huans dabei perfekt harmonieren. Falls einer der beiden überhaupt weiß, wie man das Wort buchstabiert..."
Der letzte Satz triefte so vor Sarkasmus, dass Nia ihn fast greifen konnte. In dem jungen Mädchen stieg Verzweiflung auf. Wie um alles in der Welt sollte sie das schaffen? Die beiden würden sich wohl eher Gliedmaßen abschneiden als sich gegenseitig auch nur beim Vornamen zu nennen! Allein die kurze Begegnung der beiden bei Salvatores Wakevorgang hatte Bände gesprochen. Die zwei waren sich alles andere als grün. Ganz zu schweigen von der Begegnung, als Cedric Nia gegen ihren Willen geküsst hatte...
Angestrengt kaute Nia auf ihrer Unterlippe herum. Wie konnte sie es schaffen, dass Salvatore und der Speckkopf an einem Strang zogen?
Für einige Augenblicke beobachtete Frau Wood Nias in Falten gelegte Stirn. Schließlich erhob sie sich. "Ich gehe.", waren ihre Abschiedsworte, als sie den Raum verließ. Doch das schwarzhaarige Mädchen war vollkommen in Gedanken versunken. Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung war auf ihrem Gesicht zu sehen. Mit Salvatore konnte man reden, aber ob Nia das schaffen würde? Es fiel ihr unglaublich schwer überhaupt einen Ton vor ihrem Schwarm herauszubringen. Zumal auch der gutaussehende Schüler bei der letzten Begegnung mit der Stichelei angefangen hatte und das wollte etwas heißen! Der Speckkopf war ein ungehobelter Klotz ohne soziale Kompetenzen. Außerdem brachte er Nia schon fast ohne Grund auf die Palme. Dass er auf einen ihrer Vorschläge hören würde stand nahezu vollkommen außer frage.
Nia seufzte und schwang die Beine über den Bettrand. Es brachte nichts, sich jetzt schon den Kopf darüber zu zerbrechen. Vielleicht würde auch alles weniger schlimm werden als befürchtet. Am besten konzentrierte sie sich jetzt erst einmal auf die Dinge, die direkt vor ihr lagen – wo war sie hier eigentlich genau? Was war mit ihren Habseligkeiten geschehen? Und wie konnte sie Katja kontaktieren? Sie musste schon krank vor Sorge sein, schließlich war Nia vollkommen ohne Nachricht vom Boden verschwunden!
Als sie sich den Raum erneut genauer ansah, erkannte sie einen Bilderrahmen, der auch in ihrem Zimmer stand. Eingerahmt war ein altes, verwackeltes Bild von Katja und Nia, das einige Knicke hatte. Nia fand es so hässlich, dass sie es wegwerfen wollte, aber ihre beste Freundin hatte es aus dem Müll gerettet und eingerahmt. "Im Leben ist nicht alles perfekt – genauso wie dieses Foto. Und egal ob das Bild verwackelt ist oder nicht: Wir beide sind megascharf!" Bei dem Satz mussten sie beide über den schlechten Wortwitz lachen.
Irritiert stand Nia auf und begab sich zum deckenhohen, weißen Schrank mit gelben Knäufen. Mit einem Ruck öffnete sie die Türen.
Fein säuberlich gestapelt lagen ihre wenigen Kleidungsstücke in den Regalen. Wie um alles in der Welt...? Hektisch riss sie die Schubladen der Kommode am Bettende auf. Auch hier befanden sich ihre paar Habseligkeiten. Alles war da. Jemand hatte ihren vollständigen Besitz in dieses Zimmer verfrachtet, während sie ohnmächtig gewesen war. Was war mit Katja? Hatte man ihr Bescheid gesagt? Nicht auszudenken, wie sie sich fühlen musste, nachdem Nia sang- und klanglos verschwunden war! Hoffentlich hatte ihr jemand eine Nachricht hinterlassen...! Das schwarzhaarige Mädchen fühlte sich furchtbar, ihre beste Freundin nicht verabschiedet zu haben. Aber wer hätte auch damit gerechnet, dass sie vorerst nicht mehr zurückzukommen schien? Angst kroch förmlich in ihr hoch. Sie war ganz allein. Katja war weg, aber nicht das Gerüchteküche-Trio. Zumindest Tonia und Anita waren immer noch da und würden sie bestimmt nicht in Ruhe lassen. Ihre Kehle war staubtrocken und sie fühlte sich nackt und schutzlos.
Aber sie hatte ihre Huans, oder? Die beiden würden sie doch nicht im Stich lassen, nicht wahr?
Mit diesen Gedanken öffente sie die Zimmertür und erschrak zutiefst: Cedric stand nur mit Handtuch bekleidet im Raum. Unweit davon saß Salvatore in Boxershorts auf einem Stuhl. Beide schienen eine hitzige Diskussion zu führen. "Zieh dir gefälligst was an! Was wird Nia dazu sagen, wenn sie dich so sieht?", wies Salvatore den blonden Hünen zurecht.
"Sehe ich so aus, als würde mich das interessieren? Ich wohne zufällig auch hier!", konterte Cedric grimmig und fuhr sich durch die nassen Haare. "Und du rennst auch nur in Boxershorts rum. Nicht sehr üppig bekleidet, wenn man das so sagen darf!"
"Das ist ein ganz anderer Fall.", murmelte Salvatore und schmierte seine Haut mit Creme ein. Scheinbar war sie sehr empfindlich.
"Nur weil sie in dich verschossen ist, meinst du? Mach dich nicht lächerlich!", knurrte Cedric. "Und komm mir ja nicht mit 'Woher willst du das wissen?'" Promt schloss der Frauenschwarm den geöffneten Mund. Diese Frage wollte er tatsächlich gerade stellen. Nia traute ihren Ohren kaum! Hatte der Speckkopf gerade wirklich gesagt, dass sie in Salvatore verliebt war? Er lag zwar goldrichtig damit, aber es war ihr mehr als unangenehm, wenn man sie so durchschaute.
"Allein wie sie dich ansieht... So verträumt, so schwärmerisch. Man kann schon fast 'hörig' dazu sagen! Absolut zum Kotzen!", Cedric ballte die Faust und schleuderte seinen Haargummi in eine Ecke.
Erschrocken zog Nia die Türe zu. Sie wollte das nicht weiter anhören! Das war so peinlich, etwas derartiges zu hören. Leider schloss die Tür einen Ticken zu laut, sodass die Jungs überrascht herumwirbelten.
Beschämt trat Nia aus dem Zimmer heraus und starrte auf ihre Fußspitzen, während sie mit einer Haarsträhne spielte.
"Erm... hallo. Ich bin auch da.", wisperte sie, während Cedric ein weiteres Handtuch an sich riss. "D-du bist wach!", stotterte er. Seine Ohren glühten.
"'Sehe ich aus, als würde mich das interessieren?'", flüsterte Salvatore belustigt und fixierte dabei Cedrics Ohren.
"Halt's Maul!", fauchte Cedric an den Frauenschwarm gerichtet und Nia zuckte zusammen. "Geh zurück in dein Zimmer, Mensch!"
Nia tat wie ihr geheißen und als sie drei Minuten später wieder rauslugte, standen zwei komplett bekleidete Huans gegenüber. "Ich will gar nicht wissen, ab wann du das Gespräch belauscht hast!", knurrte der Blonde. Als hätte sie ihm das gesagt! Galle stieg dem Mädchen hoch. Wie sehr sie diesen unsensiblen Kotzbrocken hasste!
"Wir werden von nun an zusammen wohnen.", schritt Salvatore galant dazwischen. "Du, ich und das wilde, ungezähmte Tier."
Nias unterdrücktes Lachen blieb ihr im Halse stecken, als sie die Blicke beobachtete, die beide Huans austauschten. Gäbe es eine Temperatur unter dem absoluten Nullpunkt, so hätte man sie soeben erreicht. "Pass auf was du sagst, du gerupftes Huhn...", drohte Cedric ohne Umschweife. Beide Jungs standen sich gegenüber und sahen aus, als würden sie sich gleich anfallen. Die Luft konnte man direkt schneiden. Nia schluckte und sammelte all ihren Mut.
"Au-auseinander!", fiepste sie und biss sich promt auf die Zunge. Beschämt schlug sie die Hände vors Gesicht, als sie die Aufmerksamkeit der beiden Jungs auf sich gezogen hatte.
"D-du hast gesagt, dass wir hier zusammen leben!", versuchte sie erneut das vorherige Gespräch in Gang zu kriegen. Und just in dem Moment sickerte die Bedeutung dieser Worte bei ihr durch. Ihre Gesichtsfarbe schlug innerhalb von weniger Sekunden von normal auf tomatenrot um.
Cedric schnaubte und winkte ab.
"Ja, wir wohnen zusammen. Jeder hat ein eigenes kleines Zimmer und bla. Wir teilen uns ein Bad und ein Wohnzimmer. Noch Fragen?", ratterte der blonde Hüne herunter und fügte hinzu: "Außerdem sollten wir schon längst auf dem Trainingsplatz stehen und ein wenig üben. Ich bin mir sicher, dass die anderen schon ihre ersten Kämpfe hinter sich haben, während Dornröschen noch geschlafen hat."
Bei diesen Worten plusterte sich Nia auf und blähte die Backen. Dornröschen?! Das war ja wohl in Gottes Namen nicht ihre Schuld, wenn sie zwei offensive Huans hatte und die Last so groß war, dass sie ohnmächtig geworden war!
"Du kannst dankbar sein, dass wenigstens ich mein Temperament unter Kontrolle habe, Meister Petz. Aber im Kampf werden wir ja sehen, wer von uns der Stärkere ist...", meinte Salvatore mit freundlicher Stimme aber schneidendem Unterton.
Nia sah schwarz für sich als Ruler.
Tiefschwarz.
~*~
Wortlos führten die beiden Jungs sie durch das Gebäude hinaus ins Freie. "Es ist unabdingbar, dass du möglichst schnell Kampferfahrung sammelst. Man darf dich nicht einfach so abhängen... Vor allem nicht mit dem Handicap, das wir beide letzten Endes darstellen!", hatte Salvatore zu ihr gesagt und sie hatte heftig genickt. Zwar stimmte sie dem zu, aber so ganz wohl war ihr auch nicht. Wie sollte das bitte aussehen? Stand man sich echt gegenüber und hetzte seine Huans auf den anderen? Allein bei dem Gedanken wurde ihr ganz schlecht. Sie hasste Kämpfe und Gewalt. Nia wollte niemandem Leid zufügen – nicht einmal dem Gerüchteküchetrio, welches sie so gemobbt hatte. Letztlich wollte sie einfach in Ruhe gelassen werden.
Und das alles war das komplette Gegenteil von dem, was sie sich eigentlich erhoffte. Aber... Spätestens jetzt würde sich herausstellen, ob es sich alles um eine große, fette Lüge handelte oder nicht. So ganz glauben konnte sie es einfach nicht, dass Salvatore ein Weißkopfseeadler war und Cedric ein Eisbär. Das war doch vollkommen absurd! Entschlossen schüttelte sie den Kopf und ballte die Fäuste. So leicht würde sie sich nicht hinters Licht führen lassen! Jetzt war die Stunde der Wahrheit gekommen.
Entschlossen trat sie auf den Sportplatz. Noch bevor sie sich umsehen konnte, wich sämtliches Blut aus ihrem Körper. Keine drei Meter von ihr entfernt stand der Albino und das Gerüchteküchemitglied Anita! Sie wurde von zwei Jungs flankiert, die sie beim Wakevorgang irgendwo schon einmal vage wahrgenommen hatte. Das mussten ihre Huans sein!
Nias winziger Kampfesgeist war sofort wie weggeblasen. Vorsichtig ging sie einen Schritt zurück.
Unsanft packte Cedric sie am Arm. "Hier wird nicht weggelaufen!"
"Wähle einen von uns und rufe 'Connect', damit wir den Kampf beginnen können.", ermunterte sie Salvatore und fixierte den Blonden dabei mit einem kleinen Lächeln. "W-was soll ich machen?", stammelte das Mädchen verständnislos und mit angstgeweiteten Augen. Was tat sie hier? War sie eigentlich irre geworden?
Doch sie hatte anscheinend keine Wahl, da Anita schief lächelte.
"Hans, Franz – Connect.", sagte sie ruhig und mit fester Stimme. Die Gelegenheit, es Nia Toshiki heimzuzahlen war wirklich um einiges schneller gekommen als gedacht. Es war wirklich grausam, wie naiv dieses Mädchen war und wie sehr sie sich von anderen schützen ließ. Und sie war so sehr auf Salvatore fixiert, dass sie nichts anderes um sich herum wahrnahm. Und wenn das ein Gerüchteküchemitglied behauptete, musste das etwas heißen!
Nia stieß einen spitzen Schrei aus, als sich vor ihren Augen die beiden Jungs in einen Elefanten und einen Tiger verwandelten.
Sie hatten sich verwandelt.
Menschen hatten sich in Tiere verwandelt. Es war wahr. Es gab Huans. Sie hatte es soeben mit eigenen Augen gesehen! Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sollte sie ernsthaft gegen einen Elefanten und einen Tiger antreten? Das war doch Wahnsinn! Die Verwandlung war so schnell geschehen, dass sie es kaum glauben konnte. Und doch stand sie einem Elefangen und einem Tiger gegenüber. Hilflos ausgeliefert.
"Worauf wartest du, Nia?", bohrte Salvatore nach und sah ihr tief in die Augen.
Nia schluckte schwer. Wenn sie nichts tat, würde sie schneller verlieren als ihr lieb war!
"S-Salvatore, connect!", fiepste sie und schloss vor Angst die Augen. Am liebsten wäre sie jetzt noch ein Kind, das daran glaubte, dass etwas nicht da war, wenn man es nicht sah. Doch als sie den Schrei eines Adlers dicht über sich hörte, blinzelte sie. Zudem blieb ihr schlagartig die Luft weg und alles schien sich zu drehen. Als sie nach hinten kippte, fing Cedric sie mit ausdruckslosem Gesicht auf. Hatte er so etwas erwartet? Salvatore war verschwunden. Stattdessen war nun ein Weißkopfseeadler an ihrer Seite. "Das was du spürst ist die 'Last', die mit einer Connection einhergeht. In deinen Körper wird so viel Kraft gepumpt, bis du fähig bist, deinen Huan zu bändigen. Salvatore ist sehr stark, deswegen..."
Für weitere Erläuterungen war keine Zeit.
Ohne zu zögern raste der Greifvogel auf Anita zu. Es ging um Schnelligkeit. Cedric war nicht verwandelt und Nia vor Schreck paralysiert. Der Blick des Blonden Hünen war hart und starr.
"Wir haben keine Zeit zu verlieren.", murmelte er und drückte ihr etwas in die Hand. "Benutz das!" Und mit diesen Worten raste er auf den Tiger zu.
Waren die beiden von Sinnen? Sie konnten doch nicht gegen einen Elefanten und einen Tiger gewinnen!
Der Weißkopfseeadler hatte die Füße so angewinkelt, als würde er im nächsten Augenblick seine Beute ergreifen wollen. Anita rührte sich nicht von der Stelle. Wie ein Schutzschild hielt der Elefant seinen Rüssel vor das Mädchen. Salvatore packte zu. Seine scharfen und spitzen Krallen verhakten sich in der ledernen Haut des Dickhäuters.
"Was kannst du eigentlich, du Lackaffe?!", schrie Cedric wütend. Doch er durfte nichts sagen, denn just in dem Moment hatte der Tiger den Blonden unter sich begraben. Scharfe Klauen und riesige Tatzen befanden sich auf Cedrics Hals und schnürten ihm die Luft ab. "Verfluchte Scheiße!", keuchte er.
Nun raste Anita zu der schockgefrorenen Nia und verpasste ihr eine Kopfnuss.
Das schwarzhaarige Mädchen schrie auf. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Kopf platzen.
"Ich hasse Mädchen wie dich!", spie Anita aus und wischte sich das Blut von der Stirn. Nia wimmerte.
Salvatore stieß einen spitzen Schrei aus, doch der Elefant hatte ihn inzwischen fest umklammert. "Nia!", rief Cedric mit erstickter Stimme, doch das Mädchen nahm alles nur verschwommen wahr. Alles schmerzte... Wo war sie hier gelandet?
Sie drehte sich weg. Sie wollte weglaufen.
Anita packte sie am Kragen. "Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede!", keifte sie und boxte Nia in die Magengrube. Der Schwarzhaarigen blieb die Luft weg und sie hielt sich keuchend den Bauch. Ein Spuckefaden triefte aus ihrem offenen Mund.
"Immer verlässt du dich auf andere! Nie kannst du etwas allein! Willst du überhaupt erwachsen werden, du verwöhntes Gör?", fluchte das Albinomädchen und versetzte ihrer Mitschülerin einen Tritt in die Kniekehle. Nia fiel hin und krümmte sich vor Schmerz. Tränen rannen über ihre Wangen.
"Alles fällt dir in den Schoß, obwohl du nichts dafür tust! Weißt du eigentlich, wie sehr ich Leute wie dich verabscheue?!"
Inzwischen rannen auch Tränen über Anitas Wangen. Die anderen und sie hatten sich immer so gewünscht, Aufmerksamkeit von Salvatore zu bekommen. Stattdessen hatte er sie im Laufe der Zeit fürchten gelernt. Das war nicht ihre Absicht gewesen. Nia fiel alles direkt zu. Aufmerksamkeit, Schönheit, Zuneigung... All das, wofür Anita so hart gekämpft hatte. Und nun war auch noch Salvatore ihr Huan.
Spätestens das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Tonias schmerzverzerrtes Gesicht. Salvatores Wakevorgang. Salvatore, wie er Nia anlächelte und den Arm um ihre Hüfte legte. Nia war stets passiv gewesen. Versteinert. Undankbar. Naiv.
Anita spuckte auf Nia und holte zum Tritt aus. Ihr war egal, ob sie bereits am Boden lag oder nicht.
"Aufhören.", durchschnitt eine tiefe Stimme das Chaos wie eine Peitsche. Ruckartig bewegten alle ihre Köpfe zu der kleinen, schmalen Gestalt und hielten inne. Unweit von ihnen stand ein Mädchen in ihrem Alter mit pink gefärbten Haaren. Scheinbar war ihre Haarpracht sehr lang, denn sie hatte sie geflochten und an den Seiten des Kopfes zu Kreisen aufgewickelt. Ihr stechender Blick ließ einem das Blut in den Adern gefrieren.
"Der Kampf ist vorbei, Anita Grätz. Der gegnerische Ruler liegt am Boden und ist kampfunfähig. Warum willst du fortfahren? Nur um deinen kindischen Rachegelüsten freien Lauf zu lassen?", bombardierte das Mädchen Anita mit Fragen und kam dabei immer näher. Anita wurde hochrot. "Wer bist du überhaupt?! Warum mischt du dich in diesen Kampf ein?" Die Unbekannte war kaum größer als sie selbst. Und der Albino war relativ klein. Dennoch wirkte die pinkhaarige so mächtig und gelassen.
"Lais Sincer. Es ist gegen die Regeln, einen Kampf fortzuführen, der bereits beendet ist. Zumal... Du würdest doch niemals jemanden verletzen, der bereits am Boden liegt... oder?", die letzten Worte trieften vor Sarkasmus, als sie beide die immer noch nach Luft japsende Nia betrachteten.
"Du hast gewonnen. Reicht dir das nicht aus? Du hast sie wirklich gedemütigt.", fügte Lais hinzu und starrte Anita tief in die Augen. Die Angesprochene schnalzte mit der Zunge. "Hans, Franz – disconnect!"
Wütend drehte sich das weißhaarige Mädchen um und warf Nia einen vernichtenden Blick zu, ehe sie mit ihren Huans davonging. Lais kniete sich neben Nia. "Es ist alles gut. Ich bin Sanitäter, ich helfe dir gleich."
Cedric kam angelaufen. Auch der Weißkopfseeadler landete binnen weniger Sekunden neben ihnen.
"Sag: 'Salvatore – disconnect', damit sich dein Huan zurückverwandeln kann.", beschwichtigte das Mädchen Nia und richtete Nia dabei vorsichtig auf. Mit geübten Handgriffen untersuchte sie den Kopf des schwarzhaarigen Mädchens.
Nia war vor Schmerz nach wie vor vollkommen betäubt, aber gehorsam presste sie hervor. "Salvatore – disconnect!" Binnen einer Sekunde kniete ihr Schwarm neben ihr statt eines Weißkopfseeadlers.
"Du", wandte sich Lais an Salvatore, "kümmerst dich um die Armbänder. Du bist der Begünstigte von euch beiden. Aber warum um alles in der Welt seid ihr gleich in den Kampf gezogen? Sie war ohnehin geschwächt durch den Wakevorgang!" Schalt sie die beiden Huans. Beide schauten betreten zu Boden. Letzten Endes wollten sie einfach nur kämpfen und ihre Kräfte ausprobieren. Und sie wollten sehen, wer von beiden Nia nützlicher war. Dass ihr Ruler nicht fit war hatten sie dabei vollkommen außer Acht gelassen. Salvatore seufzte. Das Mädchen hatte leider Recht. Der Frauenschwarm wollte nur möglichst schnell einen Kampf bestreiten um zu sehen, wie viel Macht Nia ihm verleihen würde. Das Ergebnis war überwältigender als gedacht, aber letzten Endes hatte es nichts gebracht. Mit einem knappen Nicken entfernte er sich Richtung Schulgebäude.
"Du wirst sie heilen. Ich muss dir ja nicht erklären, wie das geht, oder?", befahl sie Cedric, der beflissen nickte. Ihretwegen war Nia so verletzt und hatte den ersten Kampf verloren. Dabei sollte das Ganze auch als Motivationsschub dienen und Nia zeigen, dass sie Macht hatte. Schließlich waren Cedric und Salvatore auch nicht irgendwelche Huans...!
"Ihr seid beide Vollidioten.", murmelte Lais und erhob sich. "Von dir hatte ich nichts anderes erwartet, aber dass sich selbst Salvatore von einem Hitzkopf wie dir hat anstecken lassen... Unfassbar. Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden."
Cedric knirschte mit den Zähnen. Mit einem Ruck hatte er Nia hochgehoben und ging. Wortlos brachte er das blutende und mit blauen Flecken übersäte Mädchen in ihre gemeinsame Wohnung und legte sie vorsichtig in ihr Bett. Er war so wütend auf sich! Warum hatte er Salvatore so provoziert, dass er ihm sofort im Kampf zeigen musste, wer von beiden der Stärkere war? Warum hatten sie sich so hetzten lassen, dass Nia schnell Kampferfahrung sammeln musste? Ein oder zwei Kämpfe Vorsprung der anderen würden nicht viel ausmachen! Zumal Nia viel vorsichtiger an die ganze Sache hätte herangeführt werden sollen. Stattdessen hatten sie beide ihren Ruler förmlich ins kalte Wasser geworfen. Und ehe sie sich versah war sie zusammengeschlagen worden ohne wirklich zu wissen, wie ihr geschah.
Mit finsterem Ausdruck strich er dem Mädchen eine Strähne aus dem Gesicht.
Behutsam beugte er sich über sie und küsste unvermittelt ihre Stirn.
Obwohl Nia alles schmerzte und sie kaum klar denken konnte, gefror ihr förmlich das Blut in den Adern, als sie Cedrics Lippen auf ihrer blutigen Stirn spürte. Nein! Sie wollte das nicht! Reflexartig riss sie ihm am Zopf und schlug ihm ins Gesicht.
"Aua!", rief der blonde Hüne.
"W-Was tust du da, Speckkopf?!", stieß sie keuchend aus. Sofort sammelten sich Tränen in ihren Augen. Salvatore war nicht da. Sie war mit Cedric allein. Würde er sie wieder gegen ihren Willen küssen? Diesmal würde niemand kommen, um ihr zu helfen! Panik schnürte ihre Kehle zu.
"Ganz ruhig, ich tu dir nichts. So heilen Huans die Wunden ihrer Ruler.", knurrte er. Wie zur Bestätigung durchflutete Nia eine wohlige Wärme an der Stelle. Kaum war dieses Gefühl abgeklungen, tastete sie mit einer Hand ihre Stirn ab. Die Blutkruste und die aufgeplatzte Haut waren wieder wie unversehrt! Als hätte sie niemals eine Platzwunde gehabt!
"Was um alles in der Welt...?", entfuhr es Nia, die sich den immer noch schmerzenden Bauch hielt.
"Darf ich?", fragte Cedric mit flammend roten Ohren und deutete auf ihre Magengegend. Noch bevor er eine Hand an ihre Uniform legen konnte, schrie sie laut auf. "Lass mich in Frieden, du perverses Schwein!"
"Ich will doch nur helfen!", konterte ihr Huan und riss beide Arme nach oben, als wolle er sich ergeben.
"Ich will aber nicht!"
"Keine Sorge, ich bin nicht scharf darauf, deine Wampe zu knutschen!"
Nia zog die Luft scharf ein.
"W-Wampe?! Ich bin 1,69 m groß und wiege gerade mal 50 kg! Wenn ich nicht gertenschlank bin, dann weiß ich auch nicht! Wegen Aussagen wie dieser haben manch andere schon Magersucht bekommen!"
Cedrics schluckte nervös und kratzte sich kleinlaut am Hinterkopf.
"Ist OK, ich entschuldige mich! War nur so dahingesagt, damit du dich abreagierst!"
"Wie du siehst bewirkt es aber exakt das Gegenteil, du Speckkopf!"
"Und ich bin auch nicht dick, also lass diese dämliche Beleidigung gefälligst!"
"Tu ich nicht und jetzt lass mich endlich in Frieden!"
Mit diesen Worten schauten sie sich beide grimmig und keuchend an. Tonlos erhob sich Cedric und ging in sein Zimmer. Er schlug die Tür hinter sich zu und fasste sich an die Stirn. Warum endete eigentlich alles in Streit, wenn es um Nia ging...?
Nia saß auf dem Bett und hielt sich den Bauch. Stumme Tränen kullerten über ihre kalten Wangen. Es war nicht das erste Mal, dass sie gemobbt worden war. Aber heute.... Der Kampf gegen Anita hatte dem schüchternen Mädchen sehr deutlich vor Augen geführt, wie sehr sie verabscheut wurde. Warum hatte das Trio so einen Hass auf sie? Selbst nachdem sie die Gründe gehört hatte, konnte Nia es nicht nachvollziehen. Sie schluckte schwer. Ihr Atem ging stoßweise und ein leiser Schluchzer entrann ihrer Kehle.
Katja war nicht mehr da.
Sie war allein.
Allein gegen das Gerüchtekücheduo, das sie bereits am ersten Tag angegriffen hatte. Und das würde ganz gewiss nicht das letzte Mal gewesen sein.
Nias Bauch schmerzte immer noch. Frustriert ballte sie ihre Fäuste, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. Die drei kleinen Gegenstände, die Cedric ihr zuvor gegeben hatte, bohrten sich in ihre geschmeidige Haut. Doch das spürte sie gar nicht. Neben der Trauer und dem Gefühl der Einsamkeit keimte etwas anderes in Nia auf. Etwas vollkommen Neues, was sie bis dato nicht von sich kannte. Es wurde aus einer neuen Quelle gespeist.
Es war ungerecht.
Es war so ungerecht, dass sie gemobbt wurde. Nia hatte nichts getan!
Langsam kroch ein bitteres Gefühl in ihr hoch.
Erneut schmerzte ihre Magengegend. Mit einem Kuss von Cedric wäre es wieder in Ordnung...
Entschlossen und mit tränenüberströmten Gesicht schüttelte sie den Kopf.
Nein, sie musste selber mit diesen Schmerzen fertig werden. Es sollte als Erinnerung daran dienen, das sie gegen Anita verloren hatte. Einer ihrer Häscher, die sie gnadenlos gemobbt und gedemütigt hatte. Denn allmählich begriff Nia die Möglichkeiten, die ihr die Welt der Huans zu bieten hatte.
Sie hatte Macht. Viel Macht.
Salvatore war ein mächtiger und offensiver Huan. Wenn man den Gerüchten glauben schenken konnte, so war Cedrics Kraft auch nicht zu verachten. Wenn sie lernte, die beiden richtig einzusetzen, könnte sie sich endlich wehren.
Und es ihren Häschern ein für alle mal heimzahlen. Nias Blick wurde hart und undurchdringlich. In ihr loderte das erste Mal echter Kampfeswille.
Das nächste Mal würde sie nicht verlieren.
Aug um Aug, Zahn um Zahn.
Wo waren sie hier gelandet? Was war das für ein perfides Spiel, das mit ihnen gespielt wurde?
Als sich ihr Schritte näherten, schaute sie nicht auf. Die Kraft und der Wille fehlte ihr dafür einfach.
„Tonia...“, flüsterte die helle Stimme, die sich wie ein Vogelgesang anhörte. Ohne weitere Worte setzte sich die weißhaarige Anita neben ihre beste Freundin und umarmte sie. „Ich bin da.“
Dieser Satz war besser als alle tröstenden Worte dieser Welt. Beide wussten, was die jeweils andere spürte. Es bedurfte keiner Worte.
Anita war ebenso traurig wie auch wütend. Auch sie hatte von ganzem Herzen gehofft, dass sie Salvatore ihren Huan nennen durfte. Die Enttäuschung war mehr als herb, als ausgerechnet die Heulsuse Nia Toshiki ihn erweckt hatte. Allein bei dem Gedanken daran stieg dem Albino-Mädchen die Galle hoch. Sie wusste im Grunde ihres Herzens, dass Nia persönlich nichts dafür konnte, dass Salvatore ihr Huan geworden war... Und dennoch konnte Anita nicht anders, als Nia dafür zu hassen. Es war pure Eifersucht und das wusste sie mehr als genau. Und dennoch...
Nia würde es zurückbekommen.
Aug um Aug, Zahn um Zahn.
~*~
Als Nia erwachte, befand sie sich in einem völlig fremden Raum.
Erschrocken fuhr sie hoch. Panisch schaute sie sich um. Wo war sie? Wie spät war es? Stimmen drangen von der anderen Seite der Tür an ihr Ohr. Wer war da? Was machte sie hier?
Die gelben Tapeten leuchteten regelrecht und das weiße Himmelbett wirkte wie im Märchen. Ein niedriger, reich verzierter Tisch stand auf einem orangeroten runden Teppich. An der Wand hing eine Uhr mit Teddybärohren. Es wirkte alles ganz wie ein Jugendzimmer. Aber wie war sie hierher gekommen?
Noch bevor sich Nia aus dem Bett bewegen konnte, ging die Tür auf. Im Rahmen stand Frau Wood mit einem sehr ernsten, aber ruhigen Blick.
"Du bist nach dem Wakevorgang von Salvatore ohnmächtig geworden. Ich denke, dass die Last zu groß war. Du hast es gespürt, nicht wahr? Dieses erdrückende, brennende Gefühl, wenn du deinen Huan erweckt hast? Nachdem er seine Macht mit dir teilt?"
Nia nickte stumm. Es war ihr zumute, als würde sie ertrinken. Jegliche Luft war aus ihren Lungen gewichen und auch jetzt spürte sie ein beklemmendes Gefühl in ihrer Brust.
Die Lehrerin schloss die Tür hinter sich und setzte sich ans Bettende. "Das hier ist übrigens dein neues Heim." Nias Augen weiteten sich. Ihr neues Heim? Aber---
"Du wirst nicht mehr ins alte Wohnheim zurückkehren. Dein neues Heim ist jetzt hier. Diese Schule ist von allen anderen abgeschottet." Der Herzschlag der schwarzhaarigen Schülerin setzte aus. Was war mit Katja? "Ich habe meiner besten Freundin Katja nicht Bescheid gegeben, dass ich weg bin! Wann kann ich hier raus?", fragte Nia ganz panisch. Das hörte sich ja an, als wären sie eingesperrt!
"So sind die Regeln.", schloss die Pädagogin erbarmungslos und ohne weitere Diskussion. "Ich werde dir jetzt erzählen, was ich den anderen vorhin schon gesagt habe. Das sind die Grundregeln der 'Huans'."
"Mit deinen beiden Huans wirst du Kämpfe bestreiten." Nia traute ihren Ohren kaum. Sie würden kämpfen? Irgendwo im Hinterkopf hatte sie sich bereits gedacht, dass sie nicht nur einfach so Huans 'bekommen' würde, aber... Kämpfe klangen doch brutal und... tödlich?
"Jeder Ruler hat einen defensiven und einen offensiven Huan. Das ist der Schlüsselpunkt bei den Kämpfen, denn es gibt verschiedene Möglichkeiten, ein Team zu besiegen: Entweder geht der Ruler in die Knie oder beide Huans werden besiegt. Selbstverständlich ist der defensive Huan dafür zuständig, den Ruler vor möglichem Schaden zu beschützen. Einleuchtend, oder?"
Nias vorherige Sorgen und beklemmende Gefühle waren damit nur milde gelindert. Es war zwar beruhigend zu wissen, dass sie nicht alleine oder schutzlos Angriffen ausgeliefert war, aber... Allein der Gedanke, mit und gegen Huans zu kämpfen, die doch eigentlich ihre Klassenkameraden waren... Das hatte doch einen sehr eigenen, fahlen Beigeschmack. Dennoch hing Nia Frau Wood an den Lippen. Obwohl das schwarzhaarige Mädchen Gewalt verabscheute, übte dieses System eine gewisse Faszination auf sie aus.
Nun seufzte die Lehrerin und nestelte an ihrer Manschette herum als wollte sie von etwas ablenken. Schließlich schob sie die Brille die Nase hoch.
"Ausnahmen bestätigen die Regel, nicht wahr?", fragte Frau Wood bohrend und betrachtete Nia dabei mit ihrem Röntgenblick.
Nia schluckte. Hatte sie unwissentlich etwas falsch gemacht? Nicht, dass sie wüsste, oder?
"Du hast zwei offensive Huans, Nia Toshiki. Cedric als Eisbär sowie Salvatore als Weißkopfseeadler..." Diese Worte kamen wie aus der Pistole geschossen. Das Mädchen war wie vom Donner gerührt. War das auch der Grund dafür gewesen, dass...? Frau Wood nickte, als hätte sie die Frage tatsächlich gehört.
"Deswegen bist du höchstwahrscheinlich auch ohnmächtig geworden. Die Last war einfach zu groß."
Es dauerte einige Sekunden, bis diese Botschaft die Schülerin tatsächlich erreichte.
"Aber-", begehrte Nia auf. Auch wenn sie sich unglaublich freute, dass Salvatore ihr Huan war – konnte man nichts gegen diese Ausnahmeregelung machen? Konnte man Huans nicht einfach tauschen?
"Kann man Huans nicht einfach austauschen?", fragte das schüchterne Mädchen, während es den Blick auf die Bettdecke gerichtet hatte und sich in dieser festkrallte. Sie wollte Cedric nicht als ihren Huan akzeptieren! Alles in ihrem Körper sträubte sich dagegen. Es war, als wäre sie mit einer natürlichen Abneigung ihm gegenüber geboren... Nia konnte nicht einmal erklären, woher dieses Gefühl überhaupt herrührte.
"Das ist unmöglich. Kein anderer Ruler kann einen Huan erwecken, der nicht sein eigener ist. Huans sind keine 'Dinge', die man einfach umtauschen kann!", erklärte die Lehrerin in einem scharfen und unmissverständlichen Ton. Sie seufzte, putzte ihre Brille an ihrer Bluse und setzte sie entnervt aber elegant wieder auf.
"Du kannst nichts daran ändern, darum mach einfach das Beste daraus. Letztlich kannst du zwischen zwei Strategien wählen: Entweder sind deine Huans so angriffsstark, dass sie die Gegner besiegen bevor dir etwas zustößt oder sie sind beide so schnell, dass sie sofort zur Stelle sind, wenn es bei dir brenzlig wird.
Du hast zwar deutlich schlechtere Karten als die anderen, aber du kannst zu einer echt harten Nuss im Kampf werden, wenn du viel trainierst und strategisch gut agierst. Wichtig ist dabei natürlich, dass deine beiden Huans dabei perfekt harmonieren. Falls einer der beiden überhaupt weiß, wie man das Wort buchstabiert..."
Der letzte Satz triefte so vor Sarkasmus, dass Nia ihn fast greifen konnte. In dem jungen Mädchen stieg Verzweiflung auf. Wie um alles in der Welt sollte sie das schaffen? Die beiden würden sich wohl eher Gliedmaßen abschneiden als sich gegenseitig auch nur beim Vornamen zu nennen! Allein die kurze Begegnung der beiden bei Salvatores Wakevorgang hatte Bände gesprochen. Die zwei waren sich alles andere als grün. Ganz zu schweigen von der Begegnung, als Cedric Nia gegen ihren Willen geküsst hatte...
Angestrengt kaute Nia auf ihrer Unterlippe herum. Wie konnte sie es schaffen, dass Salvatore und der Speckkopf an einem Strang zogen?
Für einige Augenblicke beobachtete Frau Wood Nias in Falten gelegte Stirn. Schließlich erhob sie sich. "Ich gehe.", waren ihre Abschiedsworte, als sie den Raum verließ. Doch das schwarzhaarige Mädchen war vollkommen in Gedanken versunken. Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung war auf ihrem Gesicht zu sehen. Mit Salvatore konnte man reden, aber ob Nia das schaffen würde? Es fiel ihr unglaublich schwer überhaupt einen Ton vor ihrem Schwarm herauszubringen. Zumal auch der gutaussehende Schüler bei der letzten Begegnung mit der Stichelei angefangen hatte und das wollte etwas heißen! Der Speckkopf war ein ungehobelter Klotz ohne soziale Kompetenzen. Außerdem brachte er Nia schon fast ohne Grund auf die Palme. Dass er auf einen ihrer Vorschläge hören würde stand nahezu vollkommen außer frage.
Nia seufzte und schwang die Beine über den Bettrand. Es brachte nichts, sich jetzt schon den Kopf darüber zu zerbrechen. Vielleicht würde auch alles weniger schlimm werden als befürchtet. Am besten konzentrierte sie sich jetzt erst einmal auf die Dinge, die direkt vor ihr lagen – wo war sie hier eigentlich genau? Was war mit ihren Habseligkeiten geschehen? Und wie konnte sie Katja kontaktieren? Sie musste schon krank vor Sorge sein, schließlich war Nia vollkommen ohne Nachricht vom Boden verschwunden!
Als sie sich den Raum erneut genauer ansah, erkannte sie einen Bilderrahmen, der auch in ihrem Zimmer stand. Eingerahmt war ein altes, verwackeltes Bild von Katja und Nia, das einige Knicke hatte. Nia fand es so hässlich, dass sie es wegwerfen wollte, aber ihre beste Freundin hatte es aus dem Müll gerettet und eingerahmt. "Im Leben ist nicht alles perfekt – genauso wie dieses Foto. Und egal ob das Bild verwackelt ist oder nicht: Wir beide sind megascharf!" Bei dem Satz mussten sie beide über den schlechten Wortwitz lachen.
Irritiert stand Nia auf und begab sich zum deckenhohen, weißen Schrank mit gelben Knäufen. Mit einem Ruck öffnete sie die Türen.
Fein säuberlich gestapelt lagen ihre wenigen Kleidungsstücke in den Regalen. Wie um alles in der Welt...? Hektisch riss sie die Schubladen der Kommode am Bettende auf. Auch hier befanden sich ihre paar Habseligkeiten. Alles war da. Jemand hatte ihren vollständigen Besitz in dieses Zimmer verfrachtet, während sie ohnmächtig gewesen war. Was war mit Katja? Hatte man ihr Bescheid gesagt? Nicht auszudenken, wie sie sich fühlen musste, nachdem Nia sang- und klanglos verschwunden war! Hoffentlich hatte ihr jemand eine Nachricht hinterlassen...! Das schwarzhaarige Mädchen fühlte sich furchtbar, ihre beste Freundin nicht verabschiedet zu haben. Aber wer hätte auch damit gerechnet, dass sie vorerst nicht mehr zurückzukommen schien? Angst kroch förmlich in ihr hoch. Sie war ganz allein. Katja war weg, aber nicht das Gerüchteküche-Trio. Zumindest Tonia und Anita waren immer noch da und würden sie bestimmt nicht in Ruhe lassen. Ihre Kehle war staubtrocken und sie fühlte sich nackt und schutzlos.
Aber sie hatte ihre Huans, oder? Die beiden würden sie doch nicht im Stich lassen, nicht wahr?
Mit diesen Gedanken öffente sie die Zimmertür und erschrak zutiefst: Cedric stand nur mit Handtuch bekleidet im Raum. Unweit davon saß Salvatore in Boxershorts auf einem Stuhl. Beide schienen eine hitzige Diskussion zu führen. "Zieh dir gefälligst was an! Was wird Nia dazu sagen, wenn sie dich so sieht?", wies Salvatore den blonden Hünen zurecht.
"Sehe ich so aus, als würde mich das interessieren? Ich wohne zufällig auch hier!", konterte Cedric grimmig und fuhr sich durch die nassen Haare. "Und du rennst auch nur in Boxershorts rum. Nicht sehr üppig bekleidet, wenn man das so sagen darf!"
"Das ist ein ganz anderer Fall.", murmelte Salvatore und schmierte seine Haut mit Creme ein. Scheinbar war sie sehr empfindlich.
"Nur weil sie in dich verschossen ist, meinst du? Mach dich nicht lächerlich!", knurrte Cedric. "Und komm mir ja nicht mit 'Woher willst du das wissen?'" Promt schloss der Frauenschwarm den geöffneten Mund. Diese Frage wollte er tatsächlich gerade stellen. Nia traute ihren Ohren kaum! Hatte der Speckkopf gerade wirklich gesagt, dass sie in Salvatore verliebt war? Er lag zwar goldrichtig damit, aber es war ihr mehr als unangenehm, wenn man sie so durchschaute.
"Allein wie sie dich ansieht... So verträumt, so schwärmerisch. Man kann schon fast 'hörig' dazu sagen! Absolut zum Kotzen!", Cedric ballte die Faust und schleuderte seinen Haargummi in eine Ecke.
Erschrocken zog Nia die Türe zu. Sie wollte das nicht weiter anhören! Das war so peinlich, etwas derartiges zu hören. Leider schloss die Tür einen Ticken zu laut, sodass die Jungs überrascht herumwirbelten.
Beschämt trat Nia aus dem Zimmer heraus und starrte auf ihre Fußspitzen, während sie mit einer Haarsträhne spielte.
"Erm... hallo. Ich bin auch da.", wisperte sie, während Cedric ein weiteres Handtuch an sich riss. "D-du bist wach!", stotterte er. Seine Ohren glühten.
"'Sehe ich aus, als würde mich das interessieren?'", flüsterte Salvatore belustigt und fixierte dabei Cedrics Ohren.
"Halt's Maul!", fauchte Cedric an den Frauenschwarm gerichtet und Nia zuckte zusammen. "Geh zurück in dein Zimmer, Mensch!"
Nia tat wie ihr geheißen und als sie drei Minuten später wieder rauslugte, standen zwei komplett bekleidete Huans gegenüber. "Ich will gar nicht wissen, ab wann du das Gespräch belauscht hast!", knurrte der Blonde. Als hätte sie ihm das gesagt! Galle stieg dem Mädchen hoch. Wie sehr sie diesen unsensiblen Kotzbrocken hasste!
"Wir werden von nun an zusammen wohnen.", schritt Salvatore galant dazwischen. "Du, ich und das wilde, ungezähmte Tier."
Nias unterdrücktes Lachen blieb ihr im Halse stecken, als sie die Blicke beobachtete, die beide Huans austauschten. Gäbe es eine Temperatur unter dem absoluten Nullpunkt, so hätte man sie soeben erreicht. "Pass auf was du sagst, du gerupftes Huhn...", drohte Cedric ohne Umschweife. Beide Jungs standen sich gegenüber und sahen aus, als würden sie sich gleich anfallen. Die Luft konnte man direkt schneiden. Nia schluckte und sammelte all ihren Mut.
"Au-auseinander!", fiepste sie und biss sich promt auf die Zunge. Beschämt schlug sie die Hände vors Gesicht, als sie die Aufmerksamkeit der beiden Jungs auf sich gezogen hatte.
"D-du hast gesagt, dass wir hier zusammen leben!", versuchte sie erneut das vorherige Gespräch in Gang zu kriegen. Und just in dem Moment sickerte die Bedeutung dieser Worte bei ihr durch. Ihre Gesichtsfarbe schlug innerhalb von weniger Sekunden von normal auf tomatenrot um.
Cedric schnaubte und winkte ab.
"Ja, wir wohnen zusammen. Jeder hat ein eigenes kleines Zimmer und bla. Wir teilen uns ein Bad und ein Wohnzimmer. Noch Fragen?", ratterte der blonde Hüne herunter und fügte hinzu: "Außerdem sollten wir schon längst auf dem Trainingsplatz stehen und ein wenig üben. Ich bin mir sicher, dass die anderen schon ihre ersten Kämpfe hinter sich haben, während Dornröschen noch geschlafen hat."
Bei diesen Worten plusterte sich Nia auf und blähte die Backen. Dornröschen?! Das war ja wohl in Gottes Namen nicht ihre Schuld, wenn sie zwei offensive Huans hatte und die Last so groß war, dass sie ohnmächtig geworden war!
"Du kannst dankbar sein, dass wenigstens ich mein Temperament unter Kontrolle habe, Meister Petz. Aber im Kampf werden wir ja sehen, wer von uns der Stärkere ist...", meinte Salvatore mit freundlicher Stimme aber schneidendem Unterton.
Nia sah schwarz für sich als Ruler.
Tiefschwarz.
~*~
Wortlos führten die beiden Jungs sie durch das Gebäude hinaus ins Freie. "Es ist unabdingbar, dass du möglichst schnell Kampferfahrung sammelst. Man darf dich nicht einfach so abhängen... Vor allem nicht mit dem Handicap, das wir beide letzten Endes darstellen!", hatte Salvatore zu ihr gesagt und sie hatte heftig genickt. Zwar stimmte sie dem zu, aber so ganz wohl war ihr auch nicht. Wie sollte das bitte aussehen? Stand man sich echt gegenüber und hetzte seine Huans auf den anderen? Allein bei dem Gedanken wurde ihr ganz schlecht. Sie hasste Kämpfe und Gewalt. Nia wollte niemandem Leid zufügen – nicht einmal dem Gerüchteküchetrio, welches sie so gemobbt hatte. Letztlich wollte sie einfach in Ruhe gelassen werden.
Und das alles war das komplette Gegenteil von dem, was sie sich eigentlich erhoffte. Aber... Spätestens jetzt würde sich herausstellen, ob es sich alles um eine große, fette Lüge handelte oder nicht. So ganz glauben konnte sie es einfach nicht, dass Salvatore ein Weißkopfseeadler war und Cedric ein Eisbär. Das war doch vollkommen absurd! Entschlossen schüttelte sie den Kopf und ballte die Fäuste. So leicht würde sie sich nicht hinters Licht führen lassen! Jetzt war die Stunde der Wahrheit gekommen.
Entschlossen trat sie auf den Sportplatz. Noch bevor sie sich umsehen konnte, wich sämtliches Blut aus ihrem Körper. Keine drei Meter von ihr entfernt stand der Albino und das Gerüchteküchemitglied Anita! Sie wurde von zwei Jungs flankiert, die sie beim Wakevorgang irgendwo schon einmal vage wahrgenommen hatte. Das mussten ihre Huans sein!
Nias winziger Kampfesgeist war sofort wie weggeblasen. Vorsichtig ging sie einen Schritt zurück.
Unsanft packte Cedric sie am Arm. "Hier wird nicht weggelaufen!"
"Wähle einen von uns und rufe 'Connect', damit wir den Kampf beginnen können.", ermunterte sie Salvatore und fixierte den Blonden dabei mit einem kleinen Lächeln. "W-was soll ich machen?", stammelte das Mädchen verständnislos und mit angstgeweiteten Augen. Was tat sie hier? War sie eigentlich irre geworden?
Doch sie hatte anscheinend keine Wahl, da Anita schief lächelte.
"Hans, Franz – Connect.", sagte sie ruhig und mit fester Stimme. Die Gelegenheit, es Nia Toshiki heimzuzahlen war wirklich um einiges schneller gekommen als gedacht. Es war wirklich grausam, wie naiv dieses Mädchen war und wie sehr sie sich von anderen schützen ließ. Und sie war so sehr auf Salvatore fixiert, dass sie nichts anderes um sich herum wahrnahm. Und wenn das ein Gerüchteküchemitglied behauptete, musste das etwas heißen!
Nia stieß einen spitzen Schrei aus, als sich vor ihren Augen die beiden Jungs in einen Elefanten und einen Tiger verwandelten.
Sie hatten sich verwandelt.
Menschen hatten sich in Tiere verwandelt. Es war wahr. Es gab Huans. Sie hatte es soeben mit eigenen Augen gesehen! Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sollte sie ernsthaft gegen einen Elefanten und einen Tiger antreten? Das war doch Wahnsinn! Die Verwandlung war so schnell geschehen, dass sie es kaum glauben konnte. Und doch stand sie einem Elefangen und einem Tiger gegenüber. Hilflos ausgeliefert.
"Worauf wartest du, Nia?", bohrte Salvatore nach und sah ihr tief in die Augen.
Nia schluckte schwer. Wenn sie nichts tat, würde sie schneller verlieren als ihr lieb war!
"S-Salvatore, connect!", fiepste sie und schloss vor Angst die Augen. Am liebsten wäre sie jetzt noch ein Kind, das daran glaubte, dass etwas nicht da war, wenn man es nicht sah. Doch als sie den Schrei eines Adlers dicht über sich hörte, blinzelte sie. Zudem blieb ihr schlagartig die Luft weg und alles schien sich zu drehen. Als sie nach hinten kippte, fing Cedric sie mit ausdruckslosem Gesicht auf. Hatte er so etwas erwartet? Salvatore war verschwunden. Stattdessen war nun ein Weißkopfseeadler an ihrer Seite. "Das was du spürst ist die 'Last', die mit einer Connection einhergeht. In deinen Körper wird so viel Kraft gepumpt, bis du fähig bist, deinen Huan zu bändigen. Salvatore ist sehr stark, deswegen..."
Für weitere Erläuterungen war keine Zeit.
Ohne zu zögern raste der Greifvogel auf Anita zu. Es ging um Schnelligkeit. Cedric war nicht verwandelt und Nia vor Schreck paralysiert. Der Blick des Blonden Hünen war hart und starr.
"Wir haben keine Zeit zu verlieren.", murmelte er und drückte ihr etwas in die Hand. "Benutz das!" Und mit diesen Worten raste er auf den Tiger zu.
Waren die beiden von Sinnen? Sie konnten doch nicht gegen einen Elefanten und einen Tiger gewinnen!
Der Weißkopfseeadler hatte die Füße so angewinkelt, als würde er im nächsten Augenblick seine Beute ergreifen wollen. Anita rührte sich nicht von der Stelle. Wie ein Schutzschild hielt der Elefant seinen Rüssel vor das Mädchen. Salvatore packte zu. Seine scharfen und spitzen Krallen verhakten sich in der ledernen Haut des Dickhäuters.
"Was kannst du eigentlich, du Lackaffe?!", schrie Cedric wütend. Doch er durfte nichts sagen, denn just in dem Moment hatte der Tiger den Blonden unter sich begraben. Scharfe Klauen und riesige Tatzen befanden sich auf Cedrics Hals und schnürten ihm die Luft ab. "Verfluchte Scheiße!", keuchte er.
Nun raste Anita zu der schockgefrorenen Nia und verpasste ihr eine Kopfnuss.
Das schwarzhaarige Mädchen schrie auf. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Kopf platzen.
"Ich hasse Mädchen wie dich!", spie Anita aus und wischte sich das Blut von der Stirn. Nia wimmerte.
Salvatore stieß einen spitzen Schrei aus, doch der Elefant hatte ihn inzwischen fest umklammert. "Nia!", rief Cedric mit erstickter Stimme, doch das Mädchen nahm alles nur verschwommen wahr. Alles schmerzte... Wo war sie hier gelandet?
Sie drehte sich weg. Sie wollte weglaufen.
Anita packte sie am Kragen. "Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede!", keifte sie und boxte Nia in die Magengrube. Der Schwarzhaarigen blieb die Luft weg und sie hielt sich keuchend den Bauch. Ein Spuckefaden triefte aus ihrem offenen Mund.
"Immer verlässt du dich auf andere! Nie kannst du etwas allein! Willst du überhaupt erwachsen werden, du verwöhntes Gör?", fluchte das Albinomädchen und versetzte ihrer Mitschülerin einen Tritt in die Kniekehle. Nia fiel hin und krümmte sich vor Schmerz. Tränen rannen über ihre Wangen.
"Alles fällt dir in den Schoß, obwohl du nichts dafür tust! Weißt du eigentlich, wie sehr ich Leute wie dich verabscheue?!"
Inzwischen rannen auch Tränen über Anitas Wangen. Die anderen und sie hatten sich immer so gewünscht, Aufmerksamkeit von Salvatore zu bekommen. Stattdessen hatte er sie im Laufe der Zeit fürchten gelernt. Das war nicht ihre Absicht gewesen. Nia fiel alles direkt zu. Aufmerksamkeit, Schönheit, Zuneigung... All das, wofür Anita so hart gekämpft hatte. Und nun war auch noch Salvatore ihr Huan.
Spätestens das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Tonias schmerzverzerrtes Gesicht. Salvatores Wakevorgang. Salvatore, wie er Nia anlächelte und den Arm um ihre Hüfte legte. Nia war stets passiv gewesen. Versteinert. Undankbar. Naiv.
Anita spuckte auf Nia und holte zum Tritt aus. Ihr war egal, ob sie bereits am Boden lag oder nicht.
"Aufhören.", durchschnitt eine tiefe Stimme das Chaos wie eine Peitsche. Ruckartig bewegten alle ihre Köpfe zu der kleinen, schmalen Gestalt und hielten inne. Unweit von ihnen stand ein Mädchen in ihrem Alter mit pink gefärbten Haaren. Scheinbar war ihre Haarpracht sehr lang, denn sie hatte sie geflochten und an den Seiten des Kopfes zu Kreisen aufgewickelt. Ihr stechender Blick ließ einem das Blut in den Adern gefrieren.
"Der Kampf ist vorbei, Anita Grätz. Der gegnerische Ruler liegt am Boden und ist kampfunfähig. Warum willst du fortfahren? Nur um deinen kindischen Rachegelüsten freien Lauf zu lassen?", bombardierte das Mädchen Anita mit Fragen und kam dabei immer näher. Anita wurde hochrot. "Wer bist du überhaupt?! Warum mischt du dich in diesen Kampf ein?" Die Unbekannte war kaum größer als sie selbst. Und der Albino war relativ klein. Dennoch wirkte die pinkhaarige so mächtig und gelassen.
"Lais Sincer. Es ist gegen die Regeln, einen Kampf fortzuführen, der bereits beendet ist. Zumal... Du würdest doch niemals jemanden verletzen, der bereits am Boden liegt... oder?", die letzten Worte trieften vor Sarkasmus, als sie beide die immer noch nach Luft japsende Nia betrachteten.
"Du hast gewonnen. Reicht dir das nicht aus? Du hast sie wirklich gedemütigt.", fügte Lais hinzu und starrte Anita tief in die Augen. Die Angesprochene schnalzte mit der Zunge. "Hans, Franz – disconnect!"
Wütend drehte sich das weißhaarige Mädchen um und warf Nia einen vernichtenden Blick zu, ehe sie mit ihren Huans davonging. Lais kniete sich neben Nia. "Es ist alles gut. Ich bin Sanitäter, ich helfe dir gleich."
Cedric kam angelaufen. Auch der Weißkopfseeadler landete binnen weniger Sekunden neben ihnen.
"Sag: 'Salvatore – disconnect', damit sich dein Huan zurückverwandeln kann.", beschwichtigte das Mädchen Nia und richtete Nia dabei vorsichtig auf. Mit geübten Handgriffen untersuchte sie den Kopf des schwarzhaarigen Mädchens.
Nia war vor Schmerz nach wie vor vollkommen betäubt, aber gehorsam presste sie hervor. "Salvatore – disconnect!" Binnen einer Sekunde kniete ihr Schwarm neben ihr statt eines Weißkopfseeadlers.
"Du", wandte sich Lais an Salvatore, "kümmerst dich um die Armbänder. Du bist der Begünstigte von euch beiden. Aber warum um alles in der Welt seid ihr gleich in den Kampf gezogen? Sie war ohnehin geschwächt durch den Wakevorgang!" Schalt sie die beiden Huans. Beide schauten betreten zu Boden. Letzten Endes wollten sie einfach nur kämpfen und ihre Kräfte ausprobieren. Und sie wollten sehen, wer von beiden Nia nützlicher war. Dass ihr Ruler nicht fit war hatten sie dabei vollkommen außer Acht gelassen. Salvatore seufzte. Das Mädchen hatte leider Recht. Der Frauenschwarm wollte nur möglichst schnell einen Kampf bestreiten um zu sehen, wie viel Macht Nia ihm verleihen würde. Das Ergebnis war überwältigender als gedacht, aber letzten Endes hatte es nichts gebracht. Mit einem knappen Nicken entfernte er sich Richtung Schulgebäude.
"Du wirst sie heilen. Ich muss dir ja nicht erklären, wie das geht, oder?", befahl sie Cedric, der beflissen nickte. Ihretwegen war Nia so verletzt und hatte den ersten Kampf verloren. Dabei sollte das Ganze auch als Motivationsschub dienen und Nia zeigen, dass sie Macht hatte. Schließlich waren Cedric und Salvatore auch nicht irgendwelche Huans...!
"Ihr seid beide Vollidioten.", murmelte Lais und erhob sich. "Von dir hatte ich nichts anderes erwartet, aber dass sich selbst Salvatore von einem Hitzkopf wie dir hat anstecken lassen... Unfassbar. Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden."
Cedric knirschte mit den Zähnen. Mit einem Ruck hatte er Nia hochgehoben und ging. Wortlos brachte er das blutende und mit blauen Flecken übersäte Mädchen in ihre gemeinsame Wohnung und legte sie vorsichtig in ihr Bett. Er war so wütend auf sich! Warum hatte er Salvatore so provoziert, dass er ihm sofort im Kampf zeigen musste, wer von beiden der Stärkere war? Warum hatten sie sich so hetzten lassen, dass Nia schnell Kampferfahrung sammeln musste? Ein oder zwei Kämpfe Vorsprung der anderen würden nicht viel ausmachen! Zumal Nia viel vorsichtiger an die ganze Sache hätte herangeführt werden sollen. Stattdessen hatten sie beide ihren Ruler förmlich ins kalte Wasser geworfen. Und ehe sie sich versah war sie zusammengeschlagen worden ohne wirklich zu wissen, wie ihr geschah.
Mit finsterem Ausdruck strich er dem Mädchen eine Strähne aus dem Gesicht.
Behutsam beugte er sich über sie und küsste unvermittelt ihre Stirn.
Obwohl Nia alles schmerzte und sie kaum klar denken konnte, gefror ihr förmlich das Blut in den Adern, als sie Cedrics Lippen auf ihrer blutigen Stirn spürte. Nein! Sie wollte das nicht! Reflexartig riss sie ihm am Zopf und schlug ihm ins Gesicht.
"Aua!", rief der blonde Hüne.
"W-Was tust du da, Speckkopf?!", stieß sie keuchend aus. Sofort sammelten sich Tränen in ihren Augen. Salvatore war nicht da. Sie war mit Cedric allein. Würde er sie wieder gegen ihren Willen küssen? Diesmal würde niemand kommen, um ihr zu helfen! Panik schnürte ihre Kehle zu.
"Ganz ruhig, ich tu dir nichts. So heilen Huans die Wunden ihrer Ruler.", knurrte er. Wie zur Bestätigung durchflutete Nia eine wohlige Wärme an der Stelle. Kaum war dieses Gefühl abgeklungen, tastete sie mit einer Hand ihre Stirn ab. Die Blutkruste und die aufgeplatzte Haut waren wieder wie unversehrt! Als hätte sie niemals eine Platzwunde gehabt!
"Was um alles in der Welt...?", entfuhr es Nia, die sich den immer noch schmerzenden Bauch hielt.
"Darf ich?", fragte Cedric mit flammend roten Ohren und deutete auf ihre Magengegend. Noch bevor er eine Hand an ihre Uniform legen konnte, schrie sie laut auf. "Lass mich in Frieden, du perverses Schwein!"
"Ich will doch nur helfen!", konterte ihr Huan und riss beide Arme nach oben, als wolle er sich ergeben.
"Ich will aber nicht!"
"Keine Sorge, ich bin nicht scharf darauf, deine Wampe zu knutschen!"
Nia zog die Luft scharf ein.
"W-Wampe?! Ich bin 1,69 m groß und wiege gerade mal 50 kg! Wenn ich nicht gertenschlank bin, dann weiß ich auch nicht! Wegen Aussagen wie dieser haben manch andere schon Magersucht bekommen!"
Cedrics schluckte nervös und kratzte sich kleinlaut am Hinterkopf.
"Ist OK, ich entschuldige mich! War nur so dahingesagt, damit du dich abreagierst!"
"Wie du siehst bewirkt es aber exakt das Gegenteil, du Speckkopf!"
"Und ich bin auch nicht dick, also lass diese dämliche Beleidigung gefälligst!"
"Tu ich nicht und jetzt lass mich endlich in Frieden!"
Mit diesen Worten schauten sie sich beide grimmig und keuchend an. Tonlos erhob sich Cedric und ging in sein Zimmer. Er schlug die Tür hinter sich zu und fasste sich an die Stirn. Warum endete eigentlich alles in Streit, wenn es um Nia ging...?
Nia saß auf dem Bett und hielt sich den Bauch. Stumme Tränen kullerten über ihre kalten Wangen. Es war nicht das erste Mal, dass sie gemobbt worden war. Aber heute.... Der Kampf gegen Anita hatte dem schüchternen Mädchen sehr deutlich vor Augen geführt, wie sehr sie verabscheut wurde. Warum hatte das Trio so einen Hass auf sie? Selbst nachdem sie die Gründe gehört hatte, konnte Nia es nicht nachvollziehen. Sie schluckte schwer. Ihr Atem ging stoßweise und ein leiser Schluchzer entrann ihrer Kehle.
Katja war nicht mehr da.
Sie war allein.
Allein gegen das Gerüchtekücheduo, das sie bereits am ersten Tag angegriffen hatte. Und das würde ganz gewiss nicht das letzte Mal gewesen sein.
Nias Bauch schmerzte immer noch. Frustriert ballte sie ihre Fäuste, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. Die drei kleinen Gegenstände, die Cedric ihr zuvor gegeben hatte, bohrten sich in ihre geschmeidige Haut. Doch das spürte sie gar nicht. Neben der Trauer und dem Gefühl der Einsamkeit keimte etwas anderes in Nia auf. Etwas vollkommen Neues, was sie bis dato nicht von sich kannte. Es wurde aus einer neuen Quelle gespeist.
Es war ungerecht.
Es war so ungerecht, dass sie gemobbt wurde. Nia hatte nichts getan!
Langsam kroch ein bitteres Gefühl in ihr hoch.
Erneut schmerzte ihre Magengegend. Mit einem Kuss von Cedric wäre es wieder in Ordnung...
Entschlossen und mit tränenüberströmten Gesicht schüttelte sie den Kopf.
Nein, sie musste selber mit diesen Schmerzen fertig werden. Es sollte als Erinnerung daran dienen, das sie gegen Anita verloren hatte. Einer ihrer Häscher, die sie gnadenlos gemobbt und gedemütigt hatte. Denn allmählich begriff Nia die Möglichkeiten, die ihr die Welt der Huans zu bieten hatte.
Sie hatte Macht. Viel Macht.
Salvatore war ein mächtiger und offensiver Huan. Wenn man den Gerüchten glauben schenken konnte, so war Cedrics Kraft auch nicht zu verachten. Wenn sie lernte, die beiden richtig einzusetzen, könnte sie sich endlich wehren.
Und es ihren Häschern ein für alle mal heimzahlen. Nias Blick wurde hart und undurchdringlich. In ihr loderte das erste Mal echter Kampfeswille.
Das nächste Mal würde sie nicht verlieren.
Aug um Aug, Zahn um Zahn.